In Göttingen war inzwischen der Schelmuffsky gedruckt und lag im Papendiek zur Abholung bereit. Hoffmann fand sich als Erster ein, und danach ging es das ganze Wochenende über treppauf und treppab, bis alle Subskribenten ihre Exemplare zu fünfzehn Guten Groschen in Empfang genommen hatten. Das Werk war endlich dem Vergessen entrissen. Ey sapperment, das musste gefeiert werden. Schampus! Schnäpse! Bier! Für alle Gildemitglieder frei!
Also wenigstens Bier. Im Ulrich natürlich. Diesmal spielte auch das Wetter mit, sodass man im Garten sitzen konnte. August präsidierte am Kopfende des Tisches, zu seiner Rechten Straube und zu seiner Linken Arnswaldt. Ein Schustergeselle nach dem andern ließ ihn hochleben, woraufhin jedes Mal alle von ihren Stühlen sprangen und die Nasen in die Bierkrüge steckten. Nebenbei ging ein Schriftstück herum, das von Hornthal bei der Deutschen Bundesversammlung einreichen wollte. Ein Antrag. Das Jahresfest der Schlacht bei Leipzig sollte gefälligst als politischer Feiertag begangen werden. In allen deutschen Staaten.
»Mit Festgottesdienst und Preisverteilungen in der Schule«, schrie von Hornthal.
Man verständigte sich bereits überwiegend schreiend, sogar der schöne Arnswaldt, der ansonsten doch für seine vornehme Zurückhaltung bekannt war.
»Kriegerische Aufzüge«, schrie Arnswaldt, schüttelte sich seine braunen Locken aus dem Gesicht und fuchtelte mit dem Krug. »Stellt euch nur vor, wenn all die Husaren durch die Straßen reiten.«
»Ich werde jetzt auch Verleger«, schrie Christiani völlig zusammenhangslos, »noch dieses Jahr!«
Auf Nachfrage erläuterte er, dass er das Trauerspiel Rheinberg des großen dänischen Romantikers Oehlenschläger herauszugeben beabsichtigte, welches er – Christiani – eigenhändig ins Deutsche übersetzt hatte. Straube ließ ihn dafür hochleben, es gab ein Getrommel auf dem Tisch, die Nasen wurden wieder in die Krüge gesenkt und die Köpfe in den Nacken gelegt. August winkte Nachschub herbei.
»Kannst du so gut Dänisch«, fragte Baggesen ein wenig geknickt und streichelte seinen bernhardinerähnlichen Hund, der mit dem Kopf auf seinem Bein neben ihm saß, »ich habe in der Schweiz fast alles vergessen.«
»Das ist doch wohl nicht dein Ernst«, schrie Arnswaldt, »dein Vater ist der dänische Wieland, und du kannst noch nicht einmal richtig Dänisch?«
»Dänisch ist meine zweite Muttersprache«, sagte Christiani, »das lässt sich ja gar nicht vermeiden, wenn man am dänischen Hof aufwächst. Hat dein Vater eigentlich immer noch diesen Streit mit Oehlenschläger?«
»Was für einen Streit? Keine Ahnung«, sagte Baggesen beleidigt. »So viel Kontakt haben wir nicht. Außerdem war ich im letzten Jahr viel unterwegs.«
»Stimmt ja«, sagte Langelotz. »Wolltest du nicht nach Weimar? Wie fandest du Goethe?«
»Ich habe ihn gar nicht besucht.«
»Du bist in Weimar gewesen und hast Goethe nicht besucht?«, schrie Dr. Biber.
»Nein, wozu?« sagte Baggesen. »Ich gehe doch nicht zu dem armen Mann und sag: Ich bin der und der, hätten Sie vielleicht die Güte, sich mir darzustellen und einen Witz zu reißen, damit ich, wenn ich gefragt werde, ob ich Goethe gesehen, die köstliche Anekdote zum Besten geben kann.«
»Ich verstehe dich nicht«, sagte Dr. Biber. »Von allem, was es in Weimar gibt, ist Goethe doch das Bedeutendste. Mir hat er sogar zwei Stammbuchblätter beschrieben!«
Baggesen zuckte gleichgültig mit den Schultern.
»Der Mann tut mir leid. All die ungewaschenen Füchse, die ihm Tag für Tag ihre Visitenkarten überbringen.«
»Goethe oder Schiller?«, schrie Zwicker.
Doch bevor jemand antworten konnte, meldete sich August zu Wort.
»Wisst ihr was? Der Tebelholmer, aber ich habe gerade eine Idee: Die Poetische Schusterinnung wird ebenfalls ein Druck-Erzeugnis herausbringen. Wir alle zusammen. Ein wöchentliches Zeitblatt! Na, was sagt ihr? Gebt zu, dass ich ein brav Kerl bin und was Großes in mir stecken muss!«
»Sapperment!, eine famose Idee«, rief Zwicker.
Arnswaldt sprang auf und fuchtelte unkoordiniert mit den Armen in der Luft. »Das ist es! Ein eigenes Zeitblatt, das den romantischen Gedanken in seiner reinsten Klarheit in die Welt hineinträgt. Ich kann Benecke fragen, ob er nicht etwas dazu beitragen will.«
Obwohl Arnswaldt eigentlich die Rechte studierte, hatte er mit großer Begeisterung auch Professor Beneckes Vorlesungen über altdeutsche Dichtung und Sprache besucht. Sein Enthusiasmus war nicht unentdeckt geblieben. In den letzten Herbstferien hatte er den Professor nach Heidelberg begleiten dürfen. Es war das größte Abenteuer seines Lebens gewesen, und er war sich bedeutend und als ein Teil der Weltgeschichte vorgekommen. Er, August von Arnswaldt, gerade eben achtzehn Jahre alt, durfte den berühmten Professor bei der Sichtung der mittelalterlichen Handschriften unterstützen, die Feldmarschall Tilly 1622 nach der Eroberung Heidelbergs auf 200 Mauleseln in den Vatikan verschleppen ließ. Und die nun endlich wieder heimgekehrt waren, jedenfalls ein Teil davon. Der Wiener Kongress hatte es möglich gemacht.
»Wieso Benecke? Ich dachte, das soll unsere Zeitung werden«, schrie Zwicker.
»Natürlich«, schrie August, »wir alle werden dafür schreiben, aber wir müssen auch bereits bekannte Geistesgrößen dazu einladen. Von meiner Seite kann ich bestimmt die Grimms dafür gewinnen. Und Arndt könnte man anschreiben. Ernst Moritz Arndt. Oder Goethe.«
»Goethe?«, sagte Straube und schüttelte den Kopf. »Das meinst du nicht ernst.«
»Wieso denn nicht? Wenn erst mal Benecke und die Grimms für uns geschrieben haben, können wir auch Goethe fragen. Das wird eine ganz große Sache.«
»Wenn Goethe dabei ist, mache ich nicht mit«, murrte Arnswaldt. »Jedes Literaturblatt beginnt und endet mit diesem Namen. Entweder sind die Artikel von ihm oder über ihn. Da müssen wir das ja wohl nicht auch noch machen.«
»Na gut. Wir drucken ja sowieso nur, was für die Ewigkeit ist. Unsere Zeitung wird das Organ für die Schätze des Altdeutschen.«
»Was soll es denn für ein Organ sein?«, versuchte Straube der Sache wieder etwas mehr Leichtigkeit zu geben. »Ein Herz, ein Magen oder doch eher eine Leber? Und wer wird seinen Kopf dafür hinhalten?«
»Du«, rief August und legte ihm die Hand auf die Schulter, »du wirst der Herausgeber sein. Du und Hornthal.«
Arnswaldt sah entgeistert auf Straube, diesen abgerissenen, hässlichen kleinen Kerl, der ihm gegenübersaß.
»Wer soll das machen? Etwa Straube?«
Er stieß seinen vorwurfsvoll gereckten Finger in Straubes Richtung, der sich selber vor Überraschung gerade vorgebeugt hatte, sodass sich Arnswaldts Finger mitten hinein in Straubes linkes Auge bohrte. Ein blauer Blitz, ein grässlicher Schmerz. Straube brüllte auf und der völlig verdatterte Arnswaldt zog seinen blöden Finger wieder aus dem Auge heraus.
»Oh Gott! Das wollte ich nicht. Das wollte ich nicht! Ist es schlimm? Sag doch was, Heinrich!«
Straube brüllte weiter. Beim Aufspringen hatte er seinen Stuhl umgeworfen. Er fluchte unverständliches Zeug und trampelte im Kreis, beide Handflächen übereinander fest auf das geschlossene Auge gepresst. Die Poetische Schusterinnung hatte die Aufmerksamkeit aller umstehenden Tische. Endlich wieder was los im Ulrich. August griff nach Straubes Arm.
»Lass mal sehen!«
»Nein, nein.«
Straube wehrte sich. Sie sollten ihm seine Hände nicht vom Auge nehmen, das Auge würde ein einziger Matsch sein, und wenn er die Hände wegnahm, würde es aus seiner Höhle herauslaufen und er fürchtete sich vor diesem Moment. Jetzt auch noch einäugig! Und diese entsetzlichen Schmerzen.
»Was habe ich getan, was habe ich getan«, jammerte der verzweifelte Arnswaldt.
»Nun lass schon sehen«, sagte August, stellte Straubes Stuhl wieder auf und drückte seinen Freund sanft darauf.
»Bloß nicht anfassen«, zischte Straube, nahm jetzt aber folgsam die Hände herunter. August zog mit zwei Fingern vorsichtig die Augenlider ein wenig auseinander.
»Was siehst du?«
Etwas Licht fiel in Straubes Pupille. Er sah alles verschwommen, aber er sah etwas. Das Auge musste also noch an seinem Platz sein.
»Nichts«, schrie Straube, »ich sehe gar nichts!«
»Ohgottohgottohgottohgott«, rief Arnswaldt und schlug die Hand vor den Mund.
»Das kann bös ausgehen«, sagte August, »und ausgerechnet heute ist Casper nicht dabei. Arnswaldt und ich bringen Straube nach Hause. Jemand muss zum Klinikum laufen und einen Arzt holen.«
»Ich mache das«, rief Baggesen und rannte mit seinem Bernhardiner los.
August und Arnswaldt führten Straube die Treppe hoch – gehen konnte er schließlich noch. Im zweiten Stock hatte August eines der üblichen Studentenquartiere gemietet: Zwei kleine möblierte Räume unter dem Dach – eine Stube mit einem Ofen, einem Schreibtisch und einem einfachen Tisch, einem Bücherbord, einem Spiegel, einem Sofa und vier Stühlen und eine anschließende Kammer, die ihm als Schlafraum diente. Außer einem Bett mit Vorhängen standen dort noch ein Kleiderschrank und ein weiterer Tisch. Der Hauswirt oder vielmehr dessen Magd übernahm das Heizen und die Stubenreinigung, eine Aufwartefrau den Einkauf und das Kaffeekochen. Obwohl draußen gerade erst die Sonne unterging, war es in der kleinen Dachstube mit dem winzigen Fenster schon beinahe finster. Arnswaldt und August brachten Straube zum Sofa, das unter einem Wandschmuck aus Rapieren, Pistolen und Pfeifen stand. Hier hatte er auch gewöhnlich seinen Schlafplatz. August hantierte mit Feuerstein und Zunderschwamm, konnte aber kein Feuer entfachen, um die Kerze anzuzünden.
»Ich geh mal zu unserem Wirt, eine Laterne holen.«
Arnswaldt und Straube blieben in der Dunkelheit zurück. Arnswaldt hatte sich neben das Sofa gekniet.
»Wie geht es dir?«, flüsterte er. Straube ertastete ein Kissen in Höhe seiner Knie, zog es zu sich heran und stopfte es hinter seinen Kopf.
»Mir? Mir geht es gut. Aber das Auge ist wahrscheinlich hin. Meinst du, dass mir eine Augenklappe steht?«
»Oh Gott, was habe ich getan«, schluchzte Arnswaldt.
Kurz nachdem August mit der Laterne zurückgekehrt war, traf auch Baggesen samt Bernhardiner und einem Praktikanten aus dem Klinikum ein. Der Praktikant hatte ein feines, kluges Gesicht und Wimpern wie ein Mädchen, dabei aber ganz enorme O-Beine und einen Buckel. Er verschrieb kühle Kompressen, alle zwei Stunden zu wechseln, und absolute Bettruhe, damit das Auge nicht herausfiele. Außerdem schnitt er Straube in den Unterarm und ließ reichlich Blut ab, um den Druck auf das Auge zu senken. Arnswaldt, der immer noch neben dem Sofa kniete, hielt tapfer die Schüssel, in die das Blut schäumend schoss und dabei seinen Ärmel besprenkelte. Auch als der Praktikant wieder gegangen war, wollte Arnswaldt noch bleiben, um Straube fortan jeden Wunsch von dem verbliebenen Auge abzulesen. Der war von dem Blutverlust aber so geschwächt, dass er nichts anderes als schlafen wollte. Also ließen August, Baggesen und Arnswaldt ihn wieder allein.
»Ich will nicht wieder auf den Ulrich. Ich gehe nach Hause«, sagte Arnswaldt, während sie die Stiege heruntertrampelten. Er war immer noch am Boden zerstört.
»Warum musste ich auch so herumfuchteln?«, jammerte er. »Warum konnte ich es nicht einfach hinnehmen, dass du Straube als Herausgeber einsetzt? Aber nein, ich muss mich darüber mokieren. Hoffart, Überheblichkeit! Ich bin von Grund auf schlecht. Und nun habe ich ihn fürs Leben gezeichnet.«
»Ach was, der ist zäh«, sagte August, »morgen tollt er schon wieder herum.«
Auf den Straßen stand immer noch das Wasser, und so planschten sie nebeneinander her durchs Johanniviertel. Der Bernhardiner sprang um sie herum und spritzte alle nass. Nach einer Weile räusperte sich Baggesen.
»Stimmt es, dass du für Straubes Lebensunterhalt aufkommst? Ich meine: ganz und gar. Langelotz hat das gesagt. Oder schläft er bloß bei dir?«
»Allerdings«, sagte August. »Ich halte es für meine ehrenvolle Pflicht, einem poetischen Talent wie Straube, an dessen Tiefe und Fülle und hoher, großartiger Anschauung des Lebens keiner der neuen Dichter auch nur annähernd heranreicht, ein ungebundenes Leben im Schutze der Universität zu ermöglichen.«
»Und Körner?«, sagte Baggesen.
»Was?«
»Körner. Findest du Straube auch besser als Körner?«
»Besser als Körner, besser als Fouqué und besser als Uhland. Da meine eigenen Mittel demnächst erschöpft sind, plane ich übrigens, eine Sammlung für ihn zu veranstalten. Seid ihr dabei?«
»Natürlich«, sagte Arnswaldt.
»Würde ihn das nicht kränken?«, fragte Baggesen.
»Den?«, sagte Arnswaldt plötzlich giftig. »Den doch nicht! Der nimmt noch dreimal Nachschlag, wenn du ihn einlädst.«
August blieb stehen und hielt Arnswaldt am Ärmel seines Gehrocks fest, sodass er sich zu ihm umdrehen musste. Er sah ihm direkt ins Gesicht.
»Dass Straube alle Zuwendungen ohne jede Scham, sondern mit der größten Heiterkeit und Selbstverständlichkeit entgegennehmen kann, ist ein weiteres Zeichen dafür, dass wir es mit einem wahren Genie, wahrscheinlich sogar mit einem neuen Goethe zu tun haben.«
Arnswaldt machte sich los.
»Wenn du das sagst.«
Er zupfte an seinem Ärmel, und sie setzten ihren Weg fort.
»Aber erkläre mir doch bitte, wie du auf die Idee gekommen bist, dass Straube unsere Zeitung herausgeben soll. Denn das kann er ganz gewiss nicht. Der kriegt es doch noch nicht einmal auf die Reihe, seine Wäsche waschen zu lassen.«
»Ich dachte, das wäre ein schönes Feld, auf dem Heinrich seine Kräfte üben kann«, erwiderte August friedlich. »Und vielleicht können wir ihm dadurch sogar ein wenig Geld verschaffen. Stell dir vor, die Zeitung verkauft sich. So unwahrscheinlich ist das ja nicht. Über mich haben wir die Brüder Grimm, vielleicht Brentano und von Arnim, und bei Arndt und Gustav Schwab werde ich es auch versuchen. Du könntest einige von den Professoren ansprechen. Was ist mit Bouterweck und Fiorillo? Die fressen dir doch aus der Hand. Den Schriftverkehr wird von Hornthal erledigen. Und den Rest machen wir beide. Straube hat doch gar keinen Sinn für so etwas. Was haltet ihr übrigens von Poetisches Zeitblatt an der Leine? Als Name, meine ich.«
»Zu lang«, sagte Baggesen.
Am folgenden Tag war Straubes Sehkraft nicht besser, doch immerhin hatten die Schmerzen nachgelassen. Etwas schwach war er noch vom Aderlass. Kurz nachdem August die Tür hinter sich zugezogen hatte, um einige weltliche Geschäfte zu erledigen, eine Geldanweisung bei einem Kaufmann einzulösen und ein hinterlegtes Paket abzuholen, erschien Arnswaldt, um Straube die Kompressen zu wechseln und abermals zu beteuern, wie entsetzlich leid ihm das alles täte. Straube betrachtete einäugig den schlanken, aufgeschossenen Jüngling mit dem hohen, steifen Kragen, der sich in Selbstzerfleischung vor ihm wand, und wünschte, Arnswaldt würde gehen. Er mochte ihn nicht besonders und die Kompressen konnte er auch allein wechseln. Dabei war sein erster Eindruck von Arnswaldt einmal ein durchaus vorteilhafter gewesen. Ganz bescheiden, ja mit geradezu vornehmer Zurückhaltung war der gut aussehende junge Freiherr zunächst in der Schusterinnung aufgetreten und hatte damit ihrer aller Hochachtung errungen. Man hatte ihn sogar für schüchtern gehalten, weil er stets mit gesenktem Kopf herumgeschlichen war, die mandelförmigen, melancholischen braunen Augen zu Boden gerichtet. Doch je heimischer er sich in der Gilde zu fühlen begann, desto mehr veränderte sich auch sein Verhalten. Das mit dem gesenkten Kopf hatte er beibehalten, was ihn aber nicht darin hinderte, nun ständig das Wort zu ergreifen. Seine Beiträge bestanden vor allem darin, alles umzukrempeln, was ihm nicht streng genug war. Strafen waren ihm ungeheuer wichtig, fürs Zuspätkommen, für unentschuldigtes Fehlen, für ungebührliches Verhalten – sie konnten Arnswaldt gar nicht streng genug sein, diese Strafen. Mit Argusaugen wachte er darüber, dass sie auch vollstreckt wurden. In letzter Zeit zitierte er auch noch ständig aus frommen Schriften. Er war geradezu durchsäuert von Frömmigkeit. Wenn ihm jemand widersprach, schnellte Arnswaldts gesenkter Kopf nach vorn, seine Stimme wurde auf einmal scharf, und mit kalter Häme und arrogant gekräuselten Lippen zerpflückte er die Argumente des anderen, bis nichts mehr davon übrig war. Nichts von dem Argument und nichts von demjenigen, der es benutzt hatte. Das Resultat war, dass sich die Gesellen in seiner Gegenwart nicht immer wohlfühlten, ja, man konnte sagen, je wohler sich Arnswaldt unter ihnen fühlte, desto unbehaglicher wurde es seinen Gildebrüdern. Dem heimwehkranken Baggesen traten manchmal unwillkürlich Tränen in die Augen, wenn Arnswaldt ihn bloß ansprach. Langelotz’ Zoten waren weniger zotig, wenn Arnswaldt dabei war, und Caspers medizinische Geschichten lange nicht so unappetitlich wie sonst. In Anwesenheit des hannoverschen Ministersohnes verlief mancher Abend in Ulrichs Garten so zahm, dass ohne Weiteres Damen hätten zugegen sein können.
Straube hatte August darauf angesprochen. Aber sein Freund und Zimmergenosse wollte durchaus nichts auf Arnswaldt kommen lassen.
»Das ist das Reine an ihm«, hatte er bloß erwidert. »Alles Gemeine und Unreine kann sich in seiner Nähe einfach nicht behaglich fühlen.«
Straube hatte es damit auf sich beruhen lassen. Immerhin war Arnswaldt ganz ungewöhnlich belesen, das musste man ihm zugutehalten.
Auch jetzt hatte er ein Buch mitgebracht, um ihm damit die Zeit zu vertreiben. Die Kronenwächter, einen Historienroman, den Achim von Arnim, einer von Haxthausens vielen Freunden, geschrieben hatte. Sie waren noch keine zwei Seiten weit gekommen, als Medizinstudent Casper hereinschneite, alles vollrauchte und Straubes lädiertes Auge mit Tabakkrümeln an den Fingern inspizierte. Er wusste allerdings auch nicht, was da zu tun wäre. Dann traf auch noch Baggesen ein. Ihre Konversation drehte sich zunächst um die Blumensprache – War eine aufs Fensterbrett gelegte Brennnessel oder eine Klette die schroffste Ablehnung, mit der man ein Mädchen abstrafen konnte? –, dann um Räuber und dann darum, wie Eiterbeulen zu behandeln wären. Casper hatte eine nagelneue Mappe mitgebracht, die er während ihrer Unterhaltung immer wieder gegen den Boden oder die Bettkante schlug.
»Eine Abszesshöhle. Abszesshöhle nennt man das.«
Rums!
Straube zuckte jedes Mal zusammen.
»Bist du irre«, sagte Arnswaldt, »was kujonierst du das arme Ding so?«
»Die hat mir meine Mutter gestern mitgebracht. Die ist ganz neu. Denkst du, ich will mich mit einer Fuchsenmappe sehen lassen?«, knurrte Casper, warf sein Geschenk auf den Boden und trampelte mit beiden Stiefeln darauf herum.
Er hob die verschrammte Ledermappe auf, wischte den Dreck herunter und hielt sie mit ausgestreckten Armen vor sich.
»Na also, sieht jetzt richtig gut aus. So eine habe ich mir schon lange gewünscht.«
Gegen Mittag verschwand Casper, und Arnswaldt holte für Straube ein Mittagessen aus einer Speisewirtschaft, das Tagesgericht: Brühwürste und Kartoffeln. Dann verließ er ihn ebenfalls, um eine Vorlesung bei Heise zu hören.
Zurück blieben Baggesen und sein Hund. Draußen bezog sich der Himmel und sofort wurde es in der Stube so dunkel, als wäre schon Abend.
»Lass uns ein Licht anzünden«, sagte Baggesen. »Ich bringe dir das nächste Mal auch ein neues mit.«
»Wozu?«
»Ich will dir mein neuestes Gedicht vorlesen. Das heißt, natürlich nur, wenn es dir recht ist?«
»Doch, doch. Natürlich gern.«
Der Straubische Stinkschwamm kam zum Einsatz, das Licht brannte und Baggesen rückte näher heran und kramte einen Zettel aus seinem Gehrock. Er schluckte hörbar, als er ihn auseinanderfaltete. Straube lehnte sich zurück. Der Bernhardiner erklomm das Sofa und ließ sich auf seinen Beinen nieder. Straube tätschelte ihm den Kopf.
»In unsern dunkeln Lebensnächten«, begann Baggesen.
»Wenn einsam und auf irrer Bahn
Uns wilde Ranken dicht umflechten
Und sumpfwärts führt des Strebens Wahn …«
»Sumpfwärts?«, fragte Straube.
Baggesen ließ das Blatt sinken.
»Ja. Gefällt es dir nicht?«
»Doch. Ja. Sehr eigentümlich. Ich habe das Wort noch nie gehört und weiß doch sofort, was gemeint ist.«
Baggesen sah ihn misstrauisch und unglücklich an.
»Es hat etwas Grauenvolles, dieses sumpfwärts«, redete Straube schnell weiter. »Das Ersticken klingt darin mit an und das Unausweichliche. Das Mühsame, wenn man einmal hineingeraten ist.«
»Nicht wahr? Deswegen habe ich es ja auch geschrieben. Soll ich weiterlesen?«
»Aber ja doch. Ich bitte darum.«
»Wenn fremd uns alle Sterne scheinen
Wenn stumm rings alles ist und kalt
Wenn eine Antwort wir zu hören meinen
Und tot die eigne Stimme widerhallt …«
Straube legte seinen Kopf so in das Kissen, dass das gesunde Auge darunter verschwand und er unauffällig unter seiner Kompresse wegdämmern konnte. Vom Hund ging eine angenehme Wärme auf seine Beine über. Straube schlief beinahe ein und belebte sich erst wieder, als Baggesens Stimme lauter und lebhafter wurde, was bei ihm immer das Ende eines Gedichts ankündigte.
»Oh, leuchte mir in meines Lebens Nächten
Führ durch die Wogen mich mit leichtem Kahn
Befrei mich von der Erde finstern Nächten
Und laß mich singend sterben wie ein Schwan.«
Straube richtete sich in den Kissen auf.
»Sehr schön, sehr ergreifend. Aber das mit dem Schwan am Schluss finde ich ein wenig dick aufgetragen. Obwohl … ach was … nein, es ist sehr schön. Hör nicht auf mich, ich hatte nur das Gefühl, ich müsste jetzt irgendetwas kritisieren, du erwartest das von mir, aber eigentlich ist dein Gedicht perfekt so wie es ist.«
»Wirklich?«
»Ja, natürlich. Ich lüge doch nicht.«
»Danke. Das bedeutet mir viel. Gerade von dir. Du weißt, wie berühmt mein Vater ist. Immer denke ich, die Leute erwarten deswegen genauso viel von mir, und dann sind sie enttäuscht.«
»Was ist dein Vater eigentlich für ein Mensch?«, fragte Straube.
»Das kann ich dir gar nicht sagen. Ich sehe ihn ja praktisch nie.«
»Und früher? Wie war er früher?«
»Ich kann mich kaum noch erinnern. Meine Mutter starb ja schon, als ich noch ganz klein war. Und meine Stiefmutter ist melancholisch geworden, als meine kleine Halbschwester starb, und dann bin ich schon zur Großmutter in die Schweiz gekommen. Da war ich sieben. Die Wahrheit ist, dass es sehr viele Menschen gibt, die meinen Vater besser kennen als ich. Es kommt vor, dass jemand zu mir sagt: Ihr Vater, der hat ja dieses prächtige Buch geschrieben, und dann nennt er irgendeinen Titel, den ich im besten Fall schon mal gehört habe. Dänisch kann ich kaum noch lesen, so lange lebe ich schon in der Schweiz. Ich spreche viel besser Französisch. Das Einzige, was ich von meinem Vater gelesen habe, sind seine deutschen Gedichte. Du siehst, ich bin seiner einfach nicht würdig.«
Straube kraulte dem Bernhardiner die Brust.
»Woher willst du das wissen? Du kennst ihn doch gar nicht. Vielleicht bist du ja sogar viel besser als dein Vater?«
»Mach dich nicht über mich lustig«, sagte Baggesen.
Er war plötzlich den Tränen nah.
»Ich bin nichts. Ein Niemand! Manchmal frage ich mich, warum ich überhaupt bei euch mitmachen darf. Die ganze Zeit warte ich darauf, dass ihr endlich merkt, was mit mir in Wirklichkeit los ist und euch dann abwendet.«
»Weil du kein Dänisch kannst?«
Baggesen zog die Nase hoch, musste aber unwillkürlich lächeln.
»Unter anderem«, sagte er und setzte sich auf die Bettkante, streichelte ebenfalls den Bernhardiner. Eine Träne lief an seiner Nase herunter.
Die Magd klopfte an und fragte, ob etwas benötigt würde. Als sie den weinenden Baggesen sah, zog sie die Tür schnell wieder zu.
»Wenn du wissen willst, wie dein Vater ist, dann lern doch einfach Dänisch«, sagte Straube. »Du bist hier schließlich an einer Universität und unter lauter Dänen. Die werden es dir schon beibringen. Frag Christiani, der hat doch gestern so angegeben, wie bravourös er die Sprache beherrscht. Und dann liest du alles, was dein Vater je herausgegeben hat.«
»Ich besitze seine Bücher ja noch nicht einmal.«
»Schreib ihm! Schreib ihm, er soll dir seine Bücher schicken.«
Baggesen dachte einen Augenblick nach, dann verklärte sich sein Gesicht.
»Du bist ein Weiser«, sagte er und küsste Straube die Hände.
»Dummes Zeug«, sagte Straube und zog seine Hände schnell weg, »da wärst du irgendwann schon alleine drauf gekommen.«
»Nein«, sagte Baggesen ernst, »wär ich nicht. Komisch, nicht? Ich bin einfach nicht auf die Idee gekommen, bevor du … Nicht zu fassen eigentlich. Kann ich auch irgendetwas für dich tun? Ich würde dir gern etwas Gutes tun.«
»Ja, lösch die Kerze und lass mich noch ein wenig schlafen, bevor der Herr Haxthausen mit seiner schrecklich guten Laune wieder heimkommt. Dein Hund kann hierbleiben. Der ist schön warm.«
Aber der Bernhardiner ging dann doch mit seinem Herrn hinaus.
August und Arnswaldt kehrten erst am Abend zurück. August hatte eine Weinflasche dabei und trug eine Holzkiste unter dem Arm.
»Sei froh, dass du hier halb blind im Bett liegen darfst. Heute kommen auf ein hübsches Frauengesicht auf der Straße mindestens zwanzig alte Besen. Man wünscht, man wäre ganz blind.«
Er stellte die Kiste auf den Tisch und suchte nach etwas, um den Deckel aufzuhebeln. Schließlich nahm er sein Schwert. Arnswaldt versicherte wortreich, wie nah ihm die Sache mit dem Auge gehe.
»Meine Schwestern versorgen unsere kleine Speisekammer mal wieder sehr schön«, sagte August, während er ein ansehnliches Stück Rauchfleisch, vier Sommerwürste, eine Kruke voll Butter, zwei große Laib Pumpernickel und je einen Beutel mit Zucker und Kaffee aus der Kiste hob und auf den Tisch legte.
»Lauter gute Dinge für den Schnabel. Allerdings scheinen sie den Tabak vergessen zu haben. Was für eine schändliche Gedankenlosigkeit. Sie lassen dich grüßen. Übrigens hat neulich auch Ludwig Grimm aus München geschrieben und lässt dich ebenfalls grüßen. Er schreibt, der Hagel hat dort alles in Grund und Boden geschlagen, sogar die Fensterscheiben sind entzwei.«
August packte die Brote in den Schrank. Dann erzählte er einige pikante Anekdoten, die er seit dem Morgen gar nicht alle erlebt haben konnte, und dann zog Arnswaldt Die Kronenwächter aus seiner Mappe.
»Wollen wir nicht weiterlesen?«
So verging der Abend mit den Abenteuern eines hintergründig agierenden Geheimbundes und dessen vergeblichem Bemühen, die Herrscherfamilie der Staufer wieder einzusetzen. Um neun Uhr stellten Arnswaldt und August fest, dass Straube bereits vor längerer Zeit eingeschlafen sein musste. Da schlich sich Arnswaldt nach Hause und August ging in die Kammer hinüber und kroch in sein eigenes Bett, wo er sich in der Dunkelheit noch einige selbstverfasste Gedichte aufsagte.