Wilhelmshöhe

Das Frühstück war für Jenny eine einzige Qual. Wie langsam sie alle waren, wie umständlich. Caroline und Annette plauderten die ganze Zeit, statt endlich ihr Brot aufzuessen, August kämpfte mit dem Eidotter, das ihm über die Finger lief, und Clemens von Droste-Hülshoff musste natürlich erst noch in aller Ruhe die hiesige Zeitung durchblättern.

»Es ist doch ein besonderes und merkwürdiges Vergnügen, den eigenen Namen in der Zeitung zu lesen, wenn er auch bloß in der Rubrik für ein- und ausgehende Fremde auftaucht.«

Nun wollten natürlich auch Annette und Caroline unbedingt ihre Namen lesen. Dabei sollten sie doch spätestens um elf Uhr in der Bibliothek sein. Und Wilhelm wartete bestimmt nicht gern.

Endlich stand wenigstens August auf.

»Ich bin noch mit Bauer verabredet. Wir treffen uns dann später im Messhaus.«

»Sei bitte nicht zu spät«, flehte Jenny mit runden Augen. »Wenn Wilhelm schon so freundlich ist, uns die Wilhelmshöhe zeigen zu wollen, sollten wir ihn nicht warten lassen.«

»Wilhelmshöhe, Wilhelmshöhe«, trällerte Caroline, »nicht umsonst heißt sie Wilhelmshöhe.«

»Pass auf, wenn wir nachher den Jacob treffen«, sagte August zu Jenny, »der wird dir noch besser gefallen.«

Und weg war er.

 

»August sagt, der Jacob sagt: Lotte und der Haushalt, das ist wie eine widerspenstige, sich sträubende Provinz.«

Clemens von Droste-Hülshoff hatte keine Meinung dazu.

Im Marmorbad versuchten die Damen zu singen, aber die bunten Decken und Wände warfen den Schall so laut zurück, dass sie sich schämten, so viel Lärm zu verursachen. Die marmorne Götterwelt, die sich halb nackt um den Brunnen tummelte, schaute auch schon ganz vorwurfsvoll.

»Hier hat der König Jérôme in Rotwein gebadet«, sagte Clemens von Droste-Hülshoff. »Mir scheint, man kann noch den ein oder anderen Rotweinfleck erkennen.«

Er wies mit dem Regenschirm auf einige dunklere Marmorierungen.

»So sind sie, die Franzosen.«

Wegen des Nebels verließen sie bald den Park und gingen ins Messhaus, wo August sie abholen wollte. Jenny war unruhig, fast fiebrig. Sie blätterte in Kupferstichen, ohne sie überhaupt anzusehen, schaute sich immer wieder um, ob August nicht endlich auftauchte und Wilhelm vielleicht gleich mitbrachte. Es wurde zehn, halb elf. August kam nicht, tauchte einfach nicht auf. Bürger drängelten um sie herum, kauften und verkauften. Dinge. Dinge, Dinge, Dinge. Kaufen, Kaufen, Kaufen. Lastträger mit neuer Ware drängten sich vorbei und schrien: Aus dem Weg. Und dieser … dieser … Onkel kehrte einfach nicht zurück. Sie blieb vor einem Uhrenstand stehen, lauter kleine runde

Da, da kam er. Aber ohne Wilhelm. Nur Bauer und Jacobs waren dabei. Er stellte die Herren bei ihnen ab.

»Ich muss kurz fort – Erledigungen. Ihr wolltet doch sowieso noch einmal in die Gemäldegalerie. Bauer und Jacobs haben sich freundlichst bereit erklärt, euch zu führen.«

Weg war er.

Fassungslos sah Jenny zu Caroline.

»Du bist ganz bleich«, sagte Caroline.

»Du auch.«

»Ich? Warum sollte ich?«

Die beiden Herren zogen mit der Hülshoff’schen Reisegruppe ins Fridericianum, wo Nette fleißig mit ihnen plauderte, wie üblich etwas zu viel und etwas zu laut. Jenny und Caroline waren sehr still, was aber niemandem auffiel, sondern von Bauer und Jacobs, die sich ein wenig vor der lebhaften Annette zu fürchten begannen, als angenehm mädchenhafte Schüchternheit empfunden wurde. Clemens von Droste-Hülshoff bekam sowieso nichts mit.

Um zwölf Uhr erschien August, um sie in die Bibliothek zu bringen.

»Nur noch eben diese Bilder«, bat Clemens von Droste-Hülshoff.

»Nein«, rief Jenny verzweifelt, »nicht noch die Bilder.«

Alle schauten sie erstaunt an. Schweigen. Jenny hatte sich ihrem Vater noch nie widersetzt.

»Was ist denn, mein Kind?«, sagte Clemens von Droste-Hülshoff und nahm besorgt ihre Hand. »Du wirst mir doch nicht krank?«

»Ich finde auch, wir sollten jetzt in die Bibliothek«, kam Annette ihr zu Hilfe. »Die Grimms warten bestimmt schon.«

»Es macht hier sowieso wenig Vergnügen«, sagte Caroline. »Es sind einfach zu viele Juden da. Vor jedem einzelnen Bild stehen die immer ewig lange herum.«

 

In der Bibliothek lernte man nun endlich Jacob Grimm kennen. Er beugte sich gerade über einen Zettelkasten. Die Schöße seines grauen Gehrocks hingen rechts und links vom Stuhl herab, wie die Deckflügel eines langen und etwas zerknitterten Käfers. Überhaupt hatte der älteste Grimm-Bruder etwas Steifes und Insektenartiges an sich. Trotz angenehmer Temperatur hatte er sich bis obenhin zugeknöpft und aus dem Kragen schaute noch ein unordentlich geschlungenes schwarzes Tuch heraus. Jenny fragte sich, wie August nur darauf kam, dass sie so jemanden dem Wilhelm vorziehen würde. Pantoffeln, unwillkürlich musste man bei ihm an Pantoffeln denken. Als sie eintraten, stand er lächelnd auf, aber es entging doch niemandem, dass er sich gestört fühlte.

»Was für ein Glück Sie haben, direkt über der Gemäldegalerie zu arbeiten«, sagte Clemens von Droste-Hülshoff. »An Ihrer Stelle würde ich jeden Tag hineingehen. So viele wundervolle Bilder zusammen auf einem Fleck.«

Jacob Grimm lächelte griesgrämig.

»So sehen es wohl die meisten. Mir selber erscheint eine Gemäldegalerie allerdings eine ganz verkehrte Einrichtung. Heiliges hängt neben Profanem, und ein Gegenstand stört den anderen.«

Seine Sprache war eigentümlich. Er bemühte sich sehr um das Hochdeutsche, betonte dabei aber die Endsilben so merkwürdig, dass man ihn für einen Ausländer hätte halten können.

»Meiner Meinung nach gehört ein schönes Gemälde in das

»So kann man es natürlich auch sehen«, sagte der Hülshoff’sche Freiherr betreten. »Aber schön war es doch.«

Wilhelm trat ein, um die Besucher zu übernehmen, und bei seinem Erscheinen sah Jacob beinahe noch glücklicher aus als Jenny. Sofort setzte er sich wieder an seinen Schreibtisch.

»Nun denn«, rief Wilhelm, »dann wollen wir also zur Wilhelmshöhe!«

Er ging mit ihnen gleich zum Hotel zurück, wo die bestellte Mietkutsche stand. Fritzens Kutscher weigerte sich nämlich vehement, in Kassel zu kutschieren, noch dazu während der Messezeit. Zu viele andere Kutschen, zu viele Reiter, zu viele Fußgänger, zu viele Hunde – überhaupt von allem zu viel. Und dann diese merkwürdige Straßenführung mit Kreisverkehr! Außerdem mussten sich die Pferde für die Rückfahrt erholen. August fuhr in der Mietkutsche nur bis zum Grimm’schen Haus mit und ließ sich dort absetzen – Freunde treffen, unaufschiebbare Erledigungen tätigen –, schaffte es aber auf der kurzen Strecke, Jenny ihre ganze Schokolade wegzuessen.

 

Schloss Wilhelmshöhe war riesig, das sah man ja schon von Weitem und es wurde immer größer, je näher sie kamen. Das ernste Gebäude stand auf dem ersten von einigen natürlichen Hügeln, denen im Tal noch künstliche Buckel hinzugefügt worden waren, alles von bezaubernder Lieblichkeit und gleichzeitig unerwartet wild und romantisch. Ein echter Schäfer hütete mit seinem Hund zehn Schafe, und gleich daneben schäumte ein wildes Wasser um harsche Felsen, dazwischen ein Weg, auf dem gelb uniformierte Husaren spazieren ritten, und selbst auf diesem sauberen, wohldurchdacht angelegten Weg ragten absichtlich einige Felsen aus der Erde, sodass der Kutscher Obacht haben musste, wohin er seine Füchse lenkte.

Da es schon über die Mittagszeit war, hielten sie gleich bei der ersten Gelegenheit für eine Mahlzeit an. Während des Essens erzählte Wilhelm, wie er mit der berühmten Deklamatorin Hendel-Schütz bekannt geworden war.

»Eine Frau von ausgezeichnetem Talent und großer Schönheit. Aber was rede ich von Schönheit. Es ist ein Unrecht, der äußeren Bildung wegen ein freundliches oder unfreundliches Vorurteil gegen Menschen zu fassen. Gerade wenn jemand hässlich ist, sollte man sich bemühen, seinen Widerwillen zu besiegen und nur darauf achten, welche Talente derjenige besitzt.«

»Wie wahr, oh, wie nur allzu wahr«, sagte Jenny und hätte sich am liebsten in seine dunklen Augen gestürzt.

Sie bekam kaum einen Bissen herunter, dafür aß Annette mal wieder für zwei. Sie hieb in ihr Essen wie ein Landarbeiter.

»Um Himmels willen«, sagte Grimm, der ihr schon eine Weile dabei zugesehen hatte, »wie kann eine so zarte Person wie Sie so viel essen? Fast wie Ihr Onkel August. Hoffentlich können die Pferde das gleich noch ziehen.«

Jenny schämte sich. Das war wieder typisch für Annette. Sie

Annette kaute und schluckte, um sich für eine Antwort bereit zu machen.

»Eines Tages werden Sie ungeheuer dick sein«, prophezeite Grimm.

»Ich verlasse mich darauf, dass Sie dann der äußern Bildung wegen kein Vorurteil gegen mich hegen«, erwiderte Annette.

Jenny sah Wilhelm Grimm zum ersten Mal lachen.

Was für ein schönes Lachen er hatte!

 

Das erste Ziel war die Löwenburg, die künstliche Ruine. Auf dem Weg dorthin begegneten ihrer Kutsche lauter Spaziergänger, die sich herausgeputzt hatten, als ginge es zu einem Fest oder wenigstens ins Theater. Die Damen trugen auch noch überall Blumen, echte und künstliche, am Gürtel, am Busen, im Haar und selbst an den sowieso schon ins Vegetabile gerüschten Hauben. Jenny, Caroline und Annette wurden sich des Mangels bewusst und begannen nun ebenfalls nach Blumen Ausschau zu halten.

»Am Schloss stehen so schöne Rosen«, sagte Caroline.

»Wir kommen gewiss später noch zum Blumenpflücken«, erwiderte Grimm. »Hier am Schloss ist es leider verboten.«

Als sie die Löwenburg erreichten, konnten sie sie nicht gleich besichtigen, weil sich noch eine frühere Besuchergruppe darin aufhielt. Wahrscheinlich wieder Juden. Also gingen sie vorerst auf den Turnierplatz, wo alles voller Blumen stand. Caroline sah Grimm erwartungsvoll an, aber er machte keinerlei Anstalten, ihr welche zu holen. Stattdessen trennte er behutsam ein Brombeerblatt von seinem Zweig und überreichte es Jenny.

»Zum Andenken«, sagte er.

Und dann nach einer kleinen Pause:

»An die Löwenburg.«

»Das ist ein Andenken!«, sagte sie. »Ein richtiges Andenken. Wenn einer von uns in zwanzig Jahren noch einmal herkommt, kann er in die Mauer greifen und unsere Namen finden.«

Sie besichtigten den winzigen Schlossneubau, der so tat, als wäre er aus dem Mittelalter, bestaunten die Waffenkammer mit den Spießen und Mordinstrumenten, die schwarze Rüstung und die hölzerne Bibliothek und schauten vom runden Turme in den Burggarten mit seinen hohen Hecken und weiter ins Tal hinein und überlegten, wo Bökendorf lag. Am Ende schrieben sie alle ihre Namen in ein Buch, und Grimm setzte sich davor und besah lange das Geschriebene.

Vor dem Springbrunnen pflückte er dann doch noch Blumen. Er überreichte sie Jenny. Caroline sah sie daraufhin so böse an, dass Jenny den Strauß teilte und ihr die Hälfte abgab. Weiter ging es mit der Kutsche zum ersten Wasserfall. Es standen schon viele Leute dort oben, die das Wasser erwarteten. Gegen die Erlegung einer gewissen Geldsumme konnte ein jeder das nasse Element zu Tale rauschen lassen, aber die meisten warteten darauf, dass ein anderer so dumm war zu zahlen. Wilhelm bot Jenny den Arm. Sie legte ihre Hand auf den glatten Stoff seines grauen Rocks und versuchte das Zittern ihrer Finger zu unterdrücken. Ganz dicht stand er neben ihr, ganz dicht, es hätte nicht viel gefehlt und die Knie wären ihr weich geworden. Und da kam das Wasser wie weißer Schaum durch das Gebüsch, brausend, tosend, unaufhaltsam. Jetzt zitterte sie doch. Nicht nur die Finger. Am ganzen Körper.

Als es vorbei war, standen sie lange noch still. Schließlich ließ Wilhelm langsam ihren Arm los, bückte sich und hob ein Eichenblatt auf.

»Dieses Blatt ist für mich. Ich will es heute Abend in ein Buch packen, um es zu pressen. Später werde ich es mit Datum und Anlass beschriften, um mich immer daran zu erinnern.«

An der Teufelsbrücke stieg er noch einmal aus, um ihr zwei Sauerkleeblätter zu pflücken. Man fuhr bis zum Neptunteich und schickte von dort den Wagen zurück nach dem ersten Hause. Clemens von Droste-Hülshoff kaufte bei einem fliegenden Händler für alle eine Tüte Nüsse und wurde beim Herausgeben des Wechselgeldes betrogen. In einem Wirtshaus mit Blumen in den Fenstern wollte Nette unbedingt Milch trinken.

»Natürlich«, sagte Grimm, »Sie müssen ja schrecklich hungrig sein, nachdem Sie so lange nichts gegessen haben.«

Annette trank in großen Zügen und schaute ihn über den Rand ihres Bechers hinweg an, bis er sich verlegen abwandte.

Nach dem Neptunteich besahen sie die rötliche Grotte des Pluto, wo Clemens von Droste-Hülshoff seinen Regenschirm vergaß. Draußen hob Wilhelm wieder ein Blatt auf.

»Was werden Sie damit tun?«, fragte Annette. »Pressen, beschriften und archivieren?«

Caroline und Jenny setzten sich ins grüne Gras. Clemens von Droste-Hülshoff und Grimm gingen auf die andere Seite und sprachen ernsthaft miteinander.

»Was denkst du, worüber sie reden?«, fragte Jenny.

»Ach Jenny«, sagte Caroline von oben herab, »nun hoffe doch nicht zu viel.«

Als sie zurückkamen, erklärte Clemens von Droste-Hülshoff, dass er auf der steinernen Bank sitzen bleiben wolle, bis die

»Ihr seid mir zu langsam«, sagte Nette, »so schaffen wir es nie bis in die Keule. Ich laufe schon mal vor.«

Sie verließ die Gruppe mit großen Männerschritten, nahm immer zwei Stufen auf einmal und überholte sogar ihren Parkführer.

»Laufen Sie ihr bitte hinterher!«, sagte Jenny. »Sie darf da nicht allein hinauf. Sie ist doch so krank.«

Der Parkwächter eilte dem Fräulein nach.

»Ja, aber nur wenn es ihr in den Kram passt«, sagte Caroline.

»Caroline, bitte! Du weißt, wie leidend Nette ist.«

»Dann ist sie die Leidende mit dem besten Appetit, den ich je gesehen habe«, erwiderte Caroline. »Mit ihrer Ausdauer könnte sie bei Ludwig Jahn mitmachen. Seltsamerweise hat sie heute auch nicht ein einziges Mal gehustet. Ich hingegen, die ich kerngesund bin, fühle mich nicht in der Lage, auch nur noch einen einzigen Schritt weiterzugehen. Zweihundert Stufen, das muss jetzt reichen. Was sagt ihr? Sie atmen so schwer, lieber Wilhelm, wollen Sie nicht auch hierbleiben und mit mir auf die beiden Kletterdamen warten?«

»Ach, was«, keuchte Grimm. »Mit geht es ganz hervorragend.«

Fragend sah er Jenny an.

Tapfer stapfte Wilhelm Stufe um Stufe hinter ihr her. Es war zum Glück nicht mehr weit. Die Dämmerung setzte nun ein. Jenny und Wilhelm saßen zwischen den Felsen, so dicht wie man nebeneinander sitzen konnte, ohne sich zu berühren, und betrachteten die Aussicht. Sie waren die Einzigen hier oben und die ernste Stille umher machte beide befangen. Nachdem sie eine Weile so schweigend gesessen hatten, bat Jenny Wilhelm, ihr noch einmal Blumen zu pflücken, aus denen sie einen Kranz flechten wollte, den sie mitnehmen könne nach Bökendorf. Er stand sofort auf und machte sich ans Werk, kam mit beiden Händen voller Blumen zurück.

»Wie schön diese einfachen Blüten sind«, sagte Wilhelm, »viel schöner als diese hochgezüchteten, überfüllten Geschöpfe, die heutzutage so geschätzt werden. Ich kann darin keine Schönheit erkennen, eher einen krankhaften Trieb.«

Sie stiegen herab zu Caroline, wo sie auf Nette warteten und Caroline ebenfalls Blumen verlangte. Beim Bücken rauschte Wilhelm Grimm jedes Mal das Blut in den Kopf. Er hoffte nur, dass er nicht auch noch ohnmächtig werden würde. Jenny flocht einen Kranz, aber nicht aus den Blumen, die Wilhelm ihr gepflückt hatte. Die lagen immer noch neben ihr.

»Was willst du damit machen«, fragte Caroline spitz, »pressen, trocknen und beschriften?«

Endlich kehrte auch Annette mit dem Parkwächter aus der Herkuleskeule zurück und gemeinsam gingen sie zum Schloss. Bei der steinernen Bank pickten sie Clemens von Droste-Hülshoff auf. Caroline humpelte demonstrativ. Es war ein merkwürdiger Sonnenuntergang, mehrfarbig, violett auf Rot, Veilchen auf Rosen und darüber ein sattes Gelb mit grauen und schwarzen Streifen. Ganz unnatürlich bunt.

Als sie beim Schloss ankamen, war es beinahe dunkel.

»Oh, schauen Sie nur, die schönen Rosen«, rief Caroline

Wilhelm Grimm sah sie erst entsetzt, dann ergeben an und murmelte: »Selbstverständlich, natürlich.«

»Herrgott Caroline, was tust du ihm an? Hier ist doch Blumenpflücken verboten«, zischte Annette ihr zu.

»Na und? Jenny hat ständig Blumen von ihm gekriegt und ich will doch nur eine einzige Rose.«

Wilhelm kam mit der Rose zurück. Sie war gelb. Caroline steckte sie sich an die Schute und man konnte endlich in die Kutsche steigen. Es wurde jetzt kalt. Jenny band sich ein weißes Tuch um den Kopf. Sie saß mit Wilhelm rückwärts. Clemens von Droste-Hülshoff, der ihr gegenübersaß, schlief sofort ein. Annette hatte ihren Kopf an seine Schulter gelehnt und schlief ebenfalls oder tat wenigstens so. Caroline, Wilhelm und Jenny sprachen halblaut miteinander. Grimm erzählte von seinen Eltern und seiner Kinderzeit, so lieb, dass Jenny gern die halbe Nacht so gefahren wäre.

»Ihr Vater hat so ein deutsches Gesicht«, sagte Wilhelm zu ihr. »Und Sie sehen ihm sehr ähnlich.«

Jenny krallte die Finger in den Stoff ihres Kleides.

 

Vor dem Grimm’schen Haus wurde Clemens von Droste-Hülshoff wieder wach. Wilhelm Grimm stieg aus und versprach, August herunterzuschicken. Kurz darauf kam er zurück, um zu berichten, dass August nicht da war – dringende Erledigungen –, und sagte ihnen gute Nacht. Sie fuhren ins Hotel zurück und legten sich schlafen. Jenny und Annette kuschelten sich zusammen in ein Bett.

»Einen Tag noch«, flüsterte Jenny, »einen ganzen Tag haben wir noch in Kassel.«