Am Vormittag des 23.März 1819 begibt sich der Student und Burschenschafter Carl Ludwig Sand in der Quadratestadt Mannheim zur Adresse A 2, 5 und lässt sich unter dem falschen Namen Heinrichs aus Mitau bei dem Lustspieldichter Kotzebue melden. Er habe einen wichtigen Brief zu übergeben. In Wirklichkeit ist Sand ein Terrorist, ein junger Fanatiker, der es sich zum Ziel gesetzt hat, Kotzebue zu ermorden. Bei seinen Professoren gilt Sand als musterhafter Student und tiefgläubiger junger Mann, aber er ist unter den Einfluss eines gewaltaffinen Geheimbundes, der sogenannten Unbedingten, geraten, deren Anführer ihm versichert hat, dass derjenige, der eine furchtbare Tat auf sich nehme, umso höher stehe, je mehr Hemmungen er dafür bei sich niederzuringen habe. Außerdem habe Kotzebue, diese Schande Deutschlands und Verkörperung der Reaktion, den Tod ja wohl allemal verdient. Kotzebue hat als Korrrespondent einen Brief an den russischen Zaren geschrieben und sich darin über die deutschen Studenten lustig gemacht. Frechheit!
Also ist Sand nach Mannheim aufgebrochen, einen Brand zu schleudern in die jetzige Schlaffheit. Zur Tarnung hat er sich die langen Locken abgeschnitten, seinen altdeutschen Waffenrock ausgebürstet und durch ein weißes Halstuch gemildert. Nun steht er an der Haustür und ist bereit, die giftige, vom verdorbenen Ausland bezahlte Natter zu zertreten.
Kotzebue kommt der Besuch allerdings gerade ungelegen, und so lässt er dem ihm sowieso gänzlich unbekannten Gast durch einen Diener ausrichten, er sei nicht zu sprechen, der Herr möge nachmittags wiederkommen, vielleicht um fünf herum. Dadurch verlängert er sein reaktionäres Leben um einige Stunden, die er damit verplempert, an seiner Frau und dem Dienstmädchen herumzunörgeln.
Sand streift ziellos und gehetzt durch die Stadt und versucht, die Zeit totzuschlagen, ohne den Furor zu verlieren, den er am Nachmittag benötigen wird, um Kotzebue umzubringen. Er beschließt, in eine Kirche zu gehen und seinen Herrgott um gutes Gelingen zu bitten. Aber kaum hat er sich in Richtung der Jesuitenkirche gewandt, wird er plötzlich von einem Irren, einem Kriminellen, einem rücksichtslosen Ausländer über den Haufen gerannt. Nein, kein Ausländer – der Mann trägt eine badische Uniform mit goldenen Knöpfen und hat sich ein hölzernes Gestell, ein Räderwerk, einen halben Karren oder was auch immer zwischen die Beine geklemmt. Es handelt sich um Karl Drais, der trotz wiederholter polizeilicher Verwarnung mit seiner zweirädrigen Laufmaschine mal wieder auf dem Gehweg gefahren ist – und das mit einem Affenzahn. Sands Anspannung entlädt sich in lautem Gebrüll unter Verwendung unflätiger Ausdrücke. Drais gibt sich reuig und zerknirscht, hilft ihm auf.
»Bitte untertänigst um Entschuldigung, der Herr. Sie haben sich doch nicht verletzt?«
Mund und Oberlippenbart verziehen sich zu einem beschwichtigenden Grinsen. Sand beruhigt sich, zumal er dann doch neugierig ist, was ihn da eigentlich gerammt hat. Drais erklärt nur allzu gern seine Erfindung. Aha, ein Laufrad. Jetzt erinnert sich Sand auch daran, so ein Gerät schon einmal bei einem Studenten gesehen zu haben.
»Wenn Sie mögen, setzen Sie sich ruhig selbst einmal darauf. Und dann müssen Sie sich mit den Füßen vom Boden abstoßen – wie beim Schlittschuhlaufen. Legen Sie die Arme hierhin, dafür ist das Polster ja da – so halten Sie besser das Gleichgewicht. Und das ist die Leitstange, damit können Sie den Lauf dirigieren.«
Sand, der bei großer Entschlusskraft mit einer eher begrenzten Auffassungsgabe ausgestattet ist, versucht sein Glück und dreht eine kleine Runde, wobei er allerdings langsamer ist, als wenn er zu Fuß gehen würde. Dann übernimmt wieder Drais und saust davon. Natürlich wieder auf dem Gehweg. Sand fühlt sich durch diesen Vorfall erquickt. Er betritt die Jesuitenkirche, betet ausgiebig und geht dann in ein Gasthaus und isst zu Mittag. Dabei plaudert er mit zwei Geistlichen, die sich später vor allem an seine große Gelassenheit erinnern werden. Den Rest des Nachmittags verbringt Sand im Schlossgarten, schleckt eine preiswerte Süßigkeit, sieht noch drei Studenten bei ihrem Wettrennen auf Laufrädern zu – inzwischen weiß er ja nun, wie anstrengend das ist und kann die Leistung gebührend würdigen – und macht sich gegen fünf wieder auf den Weg zu seinem Attentat. Während er sich Kotzebues Wohnung nähert, versucht er, sich in Stimmung zu bringen, indem er immer wieder »Volksverräter« vor sich hin murmelt.
Gegen fünf Uhr trifft er ein und lässt sich durch den Diener anmelden. Diesmal wird er vorgelassen. Während er im Flur des Obergeschosses wartet, kommen drei Damen an ihm vorbei, die Frau von Kotzebue besuchen wollen. Kotzebue, das dekadente Schwein, trägt einen gesteppten Hausmantel und empfängt ihn mit jovialer Herablassung – noch so ein Bewunderer meines unsterblichen Werkes, denkt er wohl – und nach einem kurzen heftigen Wortwechsel, um Fahrt aufzunehmen, zieht Sand seinen großen Dolch, den er bei sich liebevoll »das kleine Schwert« nennt, aus dem linken Rockärmel und stößt ihn Kotzebue gegen das Gesicht. So hat er das zu Hause geübt. Wenn man einen Scheinangriff gegen das Gesicht führt, reißt der Gegner die Arme hoch und man kann ihn in der Herzgegend treffen. Nur ist Kotzebue leider zu langsam und reißt die Hände erst hoch, als der Dolch bereits mitten in seinem Oberkiefer steckt. Sand erschrickt. Ein ekelhaftes, ganz abscheuliches Gefühl ist das, wie der Dolch den Widerstand des Fleisches durchdringt und dann im Knochen stecken bleibt. Er hat Mühe, ihn aus dem Oberkiefer wieder herauszudrehen. Jammernd grabbelt Kotzebue mit beiden Hände an dieser Stelle herum und die Blöße, die dadurch auf der Brust entsteht, nutzt Sand, um ihm das kleine Schwert ins Herz zu stoßen. Über die Lage des Herzens hat er sich in einer Anatomievorlesung informiert. Der Stoß ist so stark, dass er tief in die Brusthöhle eindringt und dabei sowohl dem Herzen als auch der Lunge eine tödliche Wunde zufügt. Wieder ist der Dolch nicht ganz einfach herauszuziehen. Ein weiterer Stoß gleitet an den Rippen ab. Wimmernd sinkt Kotzebue zu Boden. Erst jetzt nimmt Sand den vierjährigen Knaben wahr, der in der Tür zu einem weiteren Zimmer steht. Verflixt, wieso hat der Kotzebue denn einen Sohn? In einer spontanen Eingebung – sozusagen, um die Sache wiedergutzumachen – wirft Sand die Mordwaffe fort, zieht einen zweiten, weit kleineren Dolch aus der Brusttasche und rammt ihn sich mit aller Macht in die linke Seite. Die Durchführung erweist sich als ausgesprochen schmerzhaft, auch will sich der Tod nicht einstellen. Nicht einmal das Gesicht des Knaben hellt sich auf. Im Gegenteil: Er bricht in ein infernalisches Brüllen aus. Frau von Kotzebue, ihre Tochter und ihr Besuch erscheinen und finden zwei Blutüberströmte vor. Kotzebue hat gerade noch so viel Kraft, sich ins Nebenzimmer führen zu lassen, wo er in den Armen seiner Tochter stirbt. Auch der livrierte Diener ist zurückgekommen, um nach dem Rechten zu sehen. In der allgemeinen Verwirrung zieht Karl Sand einen vorgefertigten Brief, der mit ›Todesstoß dem August von Kotzebue‹ überschrieben ist, aus der Tasche und drückt ihn dem Diener in die Hand. Der Bediente – sei es aus Überforderung, sei es aus einer zum Automatismus gewordenen Gewohnheit – nimmt den Brief mit einer korrekten Verbeugung entgegen und streckt die andere Hand unwillkürlich nach einem Trinkgeld aus. Zum Glück kriegt das sonst keiner mit. Sand flüchtet ins Erdgeschoss. Inzwischen hat jemand im oberen Stock ein Fenster geöffnet und um Hilfe geschrien. Einige Leute kommen von der Straße hereingelaufen. Der blutverschmierte Sand stellt sich ihnen schwankend entgegen.
»So müssen alle Verräter sterben«, ruft er mit rosa Schaum vor dem Mund. Dann dankt er Gott überaus laut und in überaus schwülstigen Worten für das Gelingen seiner Tat und sticht sich zum zweiten Mal in die Brust. Er ist immer noch nicht tot.