Von Vögeln und von einem Wasserelfen

Als Clemens von Droste-Hülshoff mit seiner jüngsten Tochter ins Vogelzimmer trat, ging ein aufgeregtes Flattern und Zwitschern los, nicht weil die Vögel sich vor ihm, seinem geblümten Hausmantel oder seinen gelben Pantoffeln fürchteten – dafür bewegte sich der Herr viel zu sanft und vorsichtig –, sondern weil sie wussten, dass er ihnen wie stets etwas mitgebracht hatte; diesmal feine Distelsamen, eine besondere Delikatesse für die Stieglitze. Clemens von Droste-Hülshoff hatte seinen gefiederten Freunden ein eigenes Zimmer eingerichtet. Platz genug gab es ja auf der alten Renaissance-Anlage, und so hatte er in einem der größeren Zimmer das Fensterglas durch feine Gitter ersetzen lassen, die Möbel gegen kleine Tannen, Baumstämme, Äste und Zweige ausgetauscht und den Boden mit dem Münsterischen Intelligenzblatt ausgelegt. Über die Zeitungen war eine dünne Schicht weißen Sandes gestreut. Clemens von Droste-Hülshoff hatte den Ehrgeiz, von jeder heimischen Singvogelart ein Paar zu besitzen, eine geflügelte Arche Noah. Alle Arten außer dem Neuntöter waren vertreten. Der Neuntöter durfte nicht mehr dabei sein, weil er den Zaunkönig auf einen Ast gespießt hatte. Den anderen Vögeln hatte der Burgherr kleine Holzkisten und Starentöpfe aufgehängt, Nistmaterial ausgebreitet, verschiedene Futterstellen in unterschiedlichen Höhen eingerichtet und Wasserbecken aufgestellt. Und so klopften Buntspecht und

In der vergangenen Woche war ihm eine weibliche Heckenbraunelle aufgefallen, die nicht mehr fraß und aufgeplustert auf dem Boden hockte. Sogleich hatte er im Schlosspark Leimruten aufgestellt, und an diesem Morgen war statt der üblichen Spatzen endlich eine Heckenbraunelle daran gewesen. Weiblich, wie gewünscht. Er trug die Neue in einem kleinen Weidenkäfig bei sich, wo sie mit weit aufgerissenen Augen, rasend pochendem Herzen und immer noch klebrigen Füßen auf einem Zweig hockte. Es war ein schüchternes, braunes Tier, der Inbegriff von Bescheidenheit. Der Hausherr hielt den Käfig hoch und Annette durfte ihn öffnen. Die frisch gefangene Heckenbraunelle stürzte sich hinaus und schwang sich bis an die Zimmerdecke, wo sie einen entsetzten Schrei ausstieß. Der Himmel, der unendliche Himmel, besaß hier offenbar ein Ende. Sie flatterte wild hin und her und ließ sich dann auf einem der Äste nieder, wo sie abwechselnd den linken immer noch klebrigen und dann den rechten immer noch klebrigen Fuß hob – schadenfroh beäugt von einem Trupp Meisen. Ein Distelfink ließ sich neben der Heckenbraunelle nieder, als wollte er sie trösten oder wenigstens nach dem Rechten sehen.

»Sieh nur den Stieglitz«, sagte Clemens von Droste-Hülshoff, »der Gärtner in Kassel hielt sich ebenfalls einen. Ganz allein in einem Käfig, der kaum größer als der Vogel selber war. Er ließ

»Wie traurig«, sagte Annette, »aber wo ist nun die andere Heckenbraunelle?«

Clemens von Droste-Hülshoff zeigte auf ein struppiges, bedrücktes Tierchen, das vor ihnen auf dem Boden saß. Er legte die Hand auf den Arm seiner Tochter, um ihr zu bedeuten, dass sie sich still verhalten sollte. Unendlich langsam griff er nach dem Schmetterlingsnetz, das an der Wand lehnte, hob es mit kaum wahrnehmbarer Geschwindigkeit und stülpte es mit einem schnellen ruhigen Schlag über die melancholische Heckenbraunelle. Behutsam legte er die Hände um den zitternden, kleinen Vogel im Netz und trug ihn hinaus. Annette öffnete eines der Fenster, die auf die Gräfte hinausgingen, und ihr Vater legte das Bündel behutsam auf den Sims und faltete das Netz auf. Da war sie, die Freiheit, da war der Himmel ohne Grenzen, mit Wolken, Wind und Sonnenschein und darunter die Hülshoff’sche Parkanlage. Aber es war, als käme die Freiheit zu spät, denn der Vogel flatterte nur matt, und als Clemens von Droste-Hülshoff ihn mit einem kleinen Stups hinausbeförderte, versuchte er zwar zu fliegen, taumelte aber wie Herbstlaub an der Burgmauer hinunter und fiel in den Wassergraben. Mit ausgebreiteten Flügeln trieb er auf der Oberfläche und drohte jeden Moment zu versinken.

»Oh nein«, rief Clemens von Droste-Hülshoff und rannte mit dem Schmetterlingsnetz die Wendeltreppe hinunter, »oh, nein, nein, nein! Wir müssen sie retten!«

Annette galoppierte hinterher. Auf der Treppe kam ihnen Jenny entgegen.

»Geht ihr schon mal vor«, sagte Clemens von Droste-Hülshoff. »Ich muss erst den Vogel retten.«

»Nein, ich helfe dir«, beharrte Annette und drängte weiter hinunter.

Doch in der Eingangshalle wurden sie abgefangen. Therese von Droste-Hülshoff schnellte unter der Treppe hervor und stellte sich ihnen in den Weg.

»Annette, ich muss doch sehr bitten! Und Clemens, du willst doch nicht wegen eines Vogels unseren Gast brüskieren?«

»Bin gleich wieder da«, rief der Freiherr und rannte um sie herum zur Tür, dass die gelben Pantoffeln nur so über die Sandsteinplatten klatschten.

»Zum Glück ist es nur dieser Straube«, seufzte die Freifrau und zog die störrische Annette am Handgelenk mit sich in den Gartensaal. Die brave Jenny folgte von selber.

Heinrich Straube stand verlegen neben dem großen ovalen Tisch aus Hickoryholz und war von der Ehrwürdigkeit seines Aufenthalts entsetzlich eingeschüchtert. Dabei sah der Gartensaal mit seinen hellen glatten Wänden, den rechten Winkeln und der großzügigen Fensterfront eher wie das Zimmer eines Stadthauses aus. Dass man sich im Inneren einer alten Wehrburg befand, konnte man höchstens an den Fensterlaibungen erkennen, an denen Nettes Brüder Werner und Fente mit gekreuzten Beinen lehnten und ihn musterten. Unter einem Pferdebild saß Vikar Wilmsen in einem Sessel und blätterte in einem Buch aus der Theißing’schen Leihbibliothek. Zu seinen Füßen schlief ein weißes Wachtelhündchen. Einzig die Hülshoff’schen Dackel, die um Straubes Beine wuselten, zeigten so etwas wie Begeisterung über seine Anwesenheit.

»Werner, Fente, wieso kümmert ihr euch nicht um unseren Gast«, schalt Therese von Droste-Hülshoff ihre Söhne, und die

Der Vikar fühlte sich ebenfalls ertappt und klappte sein Buch zu. Das weiße Wachtelhündchen zu seinen Füßen kläffte einmal grell.

 

»Wie schön, Sie zu sehen, lieber Straube«, sagte Annette und hielt ihm die Hand hin »Wir haben Sie viel später erwartet. Den ganzen Weg von Göttingen zu Fuß … und nun sind Sie sogar zeitig genug da, um mit uns nach Münster zu gehen und der Herrlichkeit in der Osternacht beizuwohnen.«

»Heute?«, fragte Straube ganz verwirrt und platzierte einen missglückten Kuss auf Annettes kleiner Hand. Zu tief, er bückte sich dabei viel zu tief. Wieso war Fräulein Nette denn diesmal so distanziert?

»Nein, nicht heute. Zu Ostern natürlich«, sagte sie und lächelte. »Wo haben Sie August gelassen?«

»Er wollte einen Tag nach mir losreiten und mich dabei einholen, aber er ist wohl aufgehalten worden.«

Straube trug wieder seinen alten Flausrock. Wenigstens stank der Stoff diesmal nicht. Straube verbeugte sich noch einmal, und Therese bat ihn, mit ihr, ihren Töchtern und ihren Söhnen am Tisch Platz zu nehmen.

»Jenny, räume das doch bitte zur Seite.«

Jenny legte die Zeichnung eines alten Kötterhofs auf den Beistelltisch. Nette und Straube nahmen ihr gegenüber Platz. Die Freifrau präsidierte an der Stirnseite, in der Nähe des hellblauen Klingelzugs, und die Brüder Werner und Fente setzten sich ebenfalls. Der Diener Kempe trat mit einem Tablett ein, deckte den Tisch ein, schenkte Tee aus und reichte Gebackenes. Alle taten Zucker in ihren Tee. Straube klammerte sich an den Rand der Untertasse, die er mitsamt der Tasse vor sich in der Luft schweben ließ.

Er wies mit der Tasse auf einen Blumentopf, aus dem weiße glockenförmige Blütenkelche mit roten Kelchblättern und langen Staubfäden heraushingen.

»Die Blumen gehören Hans … ich meine Jenny, meiner Schwester«, sagte Annette.

»Hans?«

»Ist es nicht bequemer, Sie stellen Ihr Getränk vor sich auf den Tisch?«, sagte die Freifrau.

»Natürlich«, antwortete Straube und stellte das Gedeck klirrend ab.

»Jenny hat zweihundert Blumen in Töpfen und noch zwei Blumengärtchen dazu«, parlierte Annette.

»Wie schaffen Sie das nur alles, gnädiges Fräulein?«

Jenny senkte bescheiden das Kinn.

»Ich gehe den ganzen Tag über zwischendurch immer wieder zu meinen Blumen, und alle, die ich bis zum Abend noch nicht gewässert habe, gieße ich dann um sechs.«

»Was gibt es Neues von August?«

Oh, dies und das.

Stille. Alle rührten in ihren Tassen.

»Gibt es Neuigkeiten aus Göttingen?«

»Oh ja, tatsächlich. Das gibt es. Im Sommer soll eine eigene Bade- und Schwimmanstalt eröffnet werden.«

»Das lassen Sie bloß nicht meinen Haxthausen-Großvater hören«, sagte Annette, »das würde ihm das letzte bisschen Glauben an die Menschheit rauben.«

»Sie haben doch wohl nicht vor, diese Schwimmanstalt aufzusuchen?«, fragte Therese von Droste-Hülshoff.

»Gott bewahre. Natürlich nicht.«

Stille. Räuspern.

Nettes jüngster Bruder Fente löffelte etwas zusätzlichen

Straube räusperte sich und wandte sich endlich an Annette.

»Und Sie, gnädiges Fräulein, was machen Ihre schriftstellerischen Tätigkeiten?«

Die Mutter seufzte.

»Der Walther, nicht wahr?«, sagte Straube. »Wenn ich mich richtig erinnere, saßen Sie im letzten Sommer doch an einem Ritterroman.«

»Ein Gedicht in sechs Gesängen«, verbesserte Annette.

»Ach ja, ein Gedicht. In sechs Gesängen. Hat Ihre Gesundheit denn zugelassen, dass Sie es fertigstellen konnten? August erzählte mir, Sie seien so krank gewesen.«

Die Mutter seufzte noch einmal.

»Das Augenleiden meiner Tochter war diesmal sehr arg und langwierig.

Eigentlich ging es den ganzen Winter hindurch, nicht wahr, Nette? Sie hätte weder lesen noch schreiben dürfen. Sie hätte nicht einmal denken dürfen – aber wie soll man das kontrollieren? Unsere Nette hat sich angeblich an alle meine Anweisungen gehalten, aber wundersamerweise ist nicht nur der Walther, sondern auch noch ein Gedichtband für die Großmutter fertig geworden.«

»Nicht einmal Klavierspielen durfte ich«, sagte Nette. »Jedenfalls nicht nach Noten. Meine liebe Schwester hat den Walther für mich abgeschrieben, einen Monat lang, sonst hätte ich ihn Sprickmann nicht schicken können. Ich selber habe bloß wochenlang herumgesessen, aus dem Fenster geschaut und mich zu Tode gelangweilt.«

»Von wegen«, sagte Jenny. »Als Ludowine noch zu Besuch war, hat Nette ihr zu Gefallen einmal den ganzen Tag lang Flügel gespielt. Und prompt musste sie die nächsten zwei Tage im Bett bleiben.«

»Ich verstehe nicht, wieso immer nur ich mich schonen soll«, maulte Nette. »Ludowine durfte den ganzen Winter an dem Buchumschlag für Wilhelm Grimm arbeiten – die kleinsten und feinsten Stickereien in verschiedenen Farbtönen – mit Seidengarn – Schwäne und ein Kleeblatt und was weiß ich nicht noch alles. Und dabei hat sie doch schon mal die Rose am Kopf gehabt.«

»Annette, bitte langweile unseren Gast nicht durch dein Gejammer«, sagte ihre Mutter. Die Hülshoff’schen Brüder unterdrückten ein Gähnen. Jenny lachte.

»Nette will es allen immer schön machen. Sie achtet nicht auf sich, nicht einmal wenn sie krank ist.«

»Ist das wahr?«, rief Straube.

»Dann will ich von Ihrem Walther nichts wissen. Der Preis, den Sie dafür gezahlt haben, war allzu hoch.«

»Oh bitte«, rief Annette, ohne auf seinen scherzhaften Ton einzugehen. »Oh bitte, wenn Sie wüssten, wie sehr ich auf Sie und Ihr Urteil gewartet habe. Und streng sollen Sie zu mir sein. Lassen Sie mir nichts durchgehen. Ich brauche Kritik.«

»Du musst unseren Gast nicht gleich mit deinen Wünschen überfallen«, tadelte Therese. »Soviel ich weiß, hat Sprickmann dir ja bereits dazu geschrieben.«

»Nur kurz. Eigentlich ja nur, dass es ihm gefällt.«

»Und Ihnen«, wandte sich Straube an die Freifrau von Droste-Hülshoff, »hat Ihnen das Epos Ihrer Tochter denn zugesagt? Soweit ich unterrichtet war, sollte es doch ein Geschenk zu Ihrem Namenstag werden.«

»Ja, sehr. Es war eine große Freude.«

»Eine herausragende Arbeit«, bemerkte Wilmsen von seinem Sessel her.

»Meine Mutter hat den Selbstmord des Freiherrn verboten«, klagte Annette. »Ich musste zwei Strophen ändern.«

»Und nun«, fragte Straube, »ist er wiederauferstanden?«

»Nun ist er wiederauferstanden und stirbt gefälliger.«

Straube lachte und ließ sich von Jenny die Zeichnung des Kötterhofs reichen, lobte die gute Perspektive. Therese lächelte.

Der Hausherr trat ins Zimmer. Straube sprang auf und verbeugte sich.

»Ich habe sie retten können«, sagte Clemens mit einem kurzen Kopfnicken zu Straube. »Die kleine Heckenbraunelle. Fast wäre sie ertrunken. Aber jetzt sitzt sie in einem Käfig und erholt sich. Morgen werde ich sie in den Garten tragen und dort freilassen.«

»Gott sei Dank«, sagte Annette.

Straube fragte nach den näheren Umständen und schon war er mit seinem Gastgeber unterwegs zum Vogelzimmer.

»Du darfst dich in der Anwesenheit eines fremden Herren ruhig etwas zurückhaltender benehmen«, sagte Therese, als die beiden das Zimmer verlassen hatten.

»Aber ich kenne ihn doch schon«, sagte Annette. »Und dir gefällt er doch auch.«

»Ja, er gefällt mir tatsächlich sehr. Ich überlege sogar, ob es möglich sein wird, ihn Graf Stolberg vorzustellen. Dieser Straube … – wenn seine Manieren nur etwas geschliffener wären. Wenn ich mir vorstelle, er hantiert da so mit der Teetasse … Gib ihnen noch eine halbe Stunde, dann laufe ihnen nach und verhindere, dass dein Vater Straube nach den Vögeln auch noch die Orchideen zeigt. Sonst bekommen wir die beiden heute überhaupt nicht mehr zu Gesicht.«

 

»Nette, komm nur herein.«

Sie schloss die Tür und lehnte sich gegen den Kachelofen. Der Vater sprach wieder zu Straube. Nette hatte es eh schon hundertmal gehört.

»Meine Vorfahren haben es begonnen. In Deutsch. Teilweise etwas sperriges Deutsch, nicht ganz einfach zu verstehen. Ich schreibe es jetzt in Latein weiter.«

»Was für wunderbare Buchstaben«, sagte Straube, »wie sorgfältig ausgeführt.«

»Ja. Und es ist alles drin: wie man einen Hecktaler herstellt, Zaubersprüche, um sich unsichtbar zu machen. … und hier, sehen Sie mal.«

Straube beugte sich vor. Neben den Zauberspruch hatte ein früherer Ahnherr gekritzelt: Habe ich probiert, is mich aber nicht geglückt.

Das Liber Mirabilis verschlang eine gute Stunde, eine weitere Stunde wurde dem sechsstöckigen Bücherregal geopfert, dem Lexikon für Gärtnerei und Botanik, alten Büchern zur Forstkunde und Ornithologie, zahlreichen musikwissenschaftlichen Titeln, einigen Werken der Weltliteratur und schließlich sogar den drei Vasen, die ganz oben auf dem Regal standen. Clemens von Droste-Hülshoff holte sie für Straube mit einer Leiter herunter. Annette gähnte hinter vorgehaltener Hand.

Es gab Kalbsbraten und Kartoffeln. Annette beobachtete Straube, wie er sich bediente. Er häufte sich wieder reichlich auf, allerdings nicht so lächerlich viel wie letztes Jahr im Bökerhof. Clemens von Droste-Hülshoff war ganz begeistert von Straube, mit dem es sich so vortrefflich über botanische, ornithologische und mirabilische Passionen plaudern ließ.

»Was sagen Sie zu Kotzebue und Sand?«, fragte Werner, der Ältere von Annettes Brüdern. »Gibt es in Göttingen irgendwelche Neuigkeiten darüber?«

»Er lebt immer noch«, antwortete Straube, »lebte jedenfalls noch, als die Zeitung gedruckt wurde, die ich in Göttingen zuletzt in Händen hielt. Möglicherweise wird er sogar genesen. Es gibt Gerüchte, dass sie ihn operieren wollen. Die Bürger feiern ihn als Helden und schicken ihm täglich Blumen und Obst ins Krankenhaus.«

»Ist er etwa auch für Sie ein Held, dieser Sand?«, fragte Therese scharf. »Was, wenn nun eine Welle von Attentaten folgt? Denken Sie nur an Frankreich! Wie die Marie Antoinette so mir nichts, dir nichts guillotiniert worden ist.«

»Die Schreckensherrschaft der Jakobiner!«, fiel Vikar Wilmsen ein, »wollen Sie dergleichen auch hier erleben?«

»Sicher nicht«, sagt Straube vorsichtig, »aber der Zorn der Studenten ist auch nicht ganz unbegründet. Sie waren es doch, die Napoleon vertrieben und den Fürsten ihr Land zurückerobert haben. Mit ihrem eigenen Blut. Gejubelt haben sie, als die deutschen Fürsten sich wieder auf die Throne setzten, gejubelt und gehofft, dass es bald einen auf Gemeinsinn gerichteten Volksstaat geben wird. Und nun denken die Fürsten nur an ihre alten Privilegien und behandeln ihre Retter mit Undank und Härte. Und dann höhnt er noch darüber, dieser Kotzebue.«

»Es ist mir ganz und gar neu, dass die Studenten allein Napoleon besiegt haben sollen.«

Werner, ihr älterer Sohn, sah Straube streng an.

»Was immer Kotzebue auch verbrochen hat – Menschen, die sich Deutsche nennen und so gern mit diesem Wort großtun, dürfen nicht versuchen, einen Meuchelmord zu entschuldigen.«

»Tja, häm …«, sagte Straube.

»Da wäre welsche Feigheit.«

Annette kam Straube zu Hilfe.

»Wir haben einige Stücke von Kotzebue gesehen. Die Rückkehr der Freiwilligen zum Beispiel, ein sehr gewöhnliches Stück.«

»Es ist nur schade, dass Kotzebue es selbst nicht miterleben kann, welchen Lärm sein Tod auf Erden macht«, warf Freiherr von Droste-Hülshoff ein, »ein seligeres Futter gäbe es sicher nicht für seine Eitelkeit. Sie haben wohl nicht eine Zeitung aus Göttingen mitgebracht? Ich bevorzuge nämlich das gedruckte Blutvergießen.«

»Leider nicht. Aber ich habe einen ausgeschnittenen Artikel dabei, in dem Professor Benecke Jacob Grimms Deutsche Grammatik rezensiert. Soll ich vorlesen?«

Er zog einen mehrfach gefalteten Zeitungsausschnitt aus der Tasche und faltete ihn auseinander.

»Also: ›Ehre, dem Ehre gebührt. Und dieser Grammatik, wie sie bescheiden sich nennt, gebührt sie. Gedanken, Anordnung und Ausführung zeigen so viel Scharfsinn, Überlegung und Gelehrsamkeit, dass jeder, dem ein Urteil zusteht, sie für ein Meisterwerk erklären muss. Man sieht es der Arbeit an, dass sie mit Begeisterung und Liebe unternommen und mit nie ermüdendem Fleiße ausgeführt wurde. Alles ist verständig gedacht und verständlich gesagt. Der Verfasser ist seines Gegenstandes vollkommen mächtig. Sicher und ruhig, wie er selbst fortschreitet,

»Sehr schön«, bestätigte Therese, »das freut mich für die Grimms.«

Jenny nickte.

»Wilhelm war im letzten Jahr so geknickt, weil von den Märchenbänden so viele wieder eingestampft werden mussten. Beneckes Artikel wird ihn aufmuntern.«

»Es ist mir ganz und gar unverständlich, dass die Grimms mit so viel Desinteresse und Ablehnung zu kämpfen haben«, sagte Clemens von Droste-Hülshoff, »zwei unserer größten Geister.«

»Das kann ihrer Selbstgefälligkeit zum Glück nichts anhaben«, erwiderte Straube. »Außerdem haben sie ja jetzt die Doktorwürde, wenn’s auch nur ehrenhalber ist.«

»Meiner Meinung nach hätten die Märchen der Grimms genauso viel Aufmerksamkeit verdient wie Des Knaben Wunderhorn«, sagte Clemens von Droste-Hülshoff.

Die Freifrau beugte sich vor.

»Wussten Sie, dass meine Stiefbrüder Werner und Fritz schon vor Brentano und Arnim damit angefangen hatten, Volkslieder zu sammeln? Brentano hätte ihre Sammlung auch gar zu gern mitveröffentlicht. Aber das wollte Werner nicht, weil er fand, dass auch die Melodien dazugehören, und Brentano hat die Melodien ja weggelassen.«

»August hat mir davon erzählt«, sagte Straube, »auch dass er die Sammlung übernommen hat und sie nun selber irgendwann herausgeben will.«

»Irgendwann – ganz genau«, sagte Annette.

»Unser Elf ist nicht größer als ein zweijähriges Kind und lebt im Schlamm der Gräfte. Er darf sie erst verlassen, wenn der alte Schlossherr stirbt – in diesem Fall also ich – und der neue Schlossherr – in diesem Fall mein Sohn Werner – hier einzieht. Der Ausflug des Wasserelfen dauert aber nur so lange, bis der nächste Erbe zur Welt kommt – dann muss er wieder zurück. In der großen Stunde, wenn der Stammhalter geboren wird, watschelt unser Elf auf seinen Froschfüßen zur Gräfte und stürzt sich beim ersten Schrei des Kindes ins Wasser. Ich hoffe, es beunruhigt Sie nicht, dass das Fenster Ihrer Unterkunft auf die Gräfte hinausgeht, lieber Straube.«

»Nicht doch«, sagte Straube. »Was wäre ein Schloss ohne Schlossgespenst. Ich wäre schrecklich enttäuscht gewesen, wenn es keines gegeben hätte.«

»Wussten Sie, dass meine Schwester sich in der Osternacht einmal selber vom Fenster aus im Freien hat wandeln sehen?«, sagte Jenny. »Sie sich selber, verstehen Sie? Nette stand am Fenster, um zuzuschauen, wie die Dienstboten an einem Feuer die Osternacht feierten, und da sah sie sich plötzlich selber zwischen ihnen hindurchgehen.«

»Ist das wahr?«, fragte Straube belustigt.

»Sie nehmen das wohl nicht ernst?«, sagte Annette gekränkt. »Auch die Dienstboten haben am nächsten Tag bestätigt, dass ich zwischen ihnen durchgegangen bin, und dabei war ich die ganze Zeit in meinem Zimmer.«

Straube schwieg höflich beeindruckt. In der Ferne läuteten die Glocken von St. Pantaleon in Roxel.

»Wäre es andersherum nicht aufregender«, fragte Straube, »brav im Bett zu liegen und zu schlafen und dabei im Traum auf Reisen gehen?«

»Ich weiß, dass es kein Traum war.«

Der Hausherr stand auf, um seine Geige zu holen, und spielte für alle noch eine langsame und traurige Weise. Dann spielte Annette Klavier und sang dazu Das Veilchen, an einer Stelle etwas grell, ansonsten so schön, dass Straube die Tränen in die Augen traten, und dann ging man zu Bett. Fente leuchtete Straube mit dem Licht in der Hand auf sein Zimmer.

»Falls Sie möchten, kann ich Ihnen morgen die Waffensammlung zeigen.«

 

Am nächsten Morgen sah Straube verstört aus, wenngleich er sich mit gutem Appetit Butter aufs Brot schmierte.

»Aha, ich sehe schon, der Wasserelf hat Sie besucht?«, murmelte teilnahmsvoll Clemens von Droste-Hülshoff. »Sie müssen mir das Ereignis in allen Einzelheiten erzählen, damit ich es in meinem Liber Mirabilis notieren kann.«

Annette reichte Straube den Teller mit Schinken.

»Jetzt glauben Sie wohl endlich, dass es hier spukt.«

»Bestimmt der Wasserelf«, grinste Fente. »Hat er Ihnen Wasser über den Kopf geschüttet? Das macht er nun einmal gern. Machen Sie sich nicht allzu viel daraus. Eigentlich ist es sogar ein Zeichen, dass er Sie gut leiden kann.«

»Ich fürchte, ich war letzte Nacht tatsächlich ein wenig irritiert«, erwiderte Straube. »Mir war, als ob die ganze Zeit jemand schnarchte. Mal schnarchte es unten vom Wasser zum Fenster herauf, mal schien derjenige direkt neben mir zu liegen oder unter dem Bett.«

»Zweifellos haben Sie vergessen, das Fenster zu schließen«, sagte Annette. »Das passiert, wenn man die Fenster nicht schließt. Der Wasserelf klimmt die Wand hoch und legt sich neben einen. Und am nächsten Tag sind dann überall Pfützen im Zimmer.«

»Annette! Ich muss doch sehr bitten«, sagte Therese.

»Lassen Sie sich nicht veralbern, lieber Straube. Wasserelf, das hättet ihr wohl gern! Aller Wahrscheinlichkeit nach haben Sie Jennys schwarze Schwäne gehört. Die können fürchterlich laut schnarchen.«

»Schwarze Schwäne«, sagte Straube und versuchte, nicht allzu erleichtert auszusehen, »das ist ja noch märchenhafter als ein Gespenst.«

Er war ein wenig verlegen, was Annette sofort für ihn einnahm.

»Nach dem Frühstück zeigen wir Ihnen die Schwäne. Sie sind Jennys ganzer Stolz. Und dann würden wir mit Ihnen gern auf die Garteninsel gehen. Die Bäume sind zwar noch alle kahl, aber die Buschwindröschen blühen schon sehr schön, ein richtiger Märchenteppich, Sie werden sehen.«

»Wenn ihr rausgeht, schickt mir bitte Else herein«, sagte Therese, »ich muss mit ihr sprechen. Sie hat nicht ganz akkurat gestopft. Oh Gott, wenn nur bald Minna wieder zurückkommt.«

 

Der Schlosspark war noch ohne Laub, aber die Rasenflächen strotzten bereits vor Grün, alles schien feucht von den Gräften und das Geschmetter der Singvögel kam aus allen Büschen.

»Als würden sie darum betteln, von Ihrem Vater in Pension genommen zu werden.«

Sie besuchten die Schwäne.

»Wie kann etwas so Elegantes so laut schnarchen?«

»Geht nur vor, ich komme gleich nach.«

Nette und Straube besichtigten das Teehaus und verließen dann den Park. Viel war in der Umgebung nicht zu sehen, einige Kopfweiden, einige Gräben, an denen Dotterblumen blühten, aber als sie auf Stegen aus dünnen Baumstämmen entlang der sumpfigen Weiden gingen, flatterten bei jedem Schritt rechts und links unter dem Holz winzige hellblaue und milchweiße Schmetterlinge auf, sodass sie immerzu von ihnen umgeben waren.

»Fast jeder Weidegrund hat seinen eigenen Teich«, erklärte Nette. »Im Sommer stehen hier Schwertlilien, an denen tausend Libellen hängen. Die größten lauern in den Blättern der gelben Nymphäen – wie goldene Schmucknadeln in emaillierten Schalen.«

»Ah«, machte Straube und stützte sich auf einen Weidezaun, »die Dichterin: wie goldene Schmucknadeln in emaillierten Schalen … Wie kommt es, dass Sie schreiben? Es liegt in der Familie, nicht wahr?«

»Vielleicht.«

Sie stellte sich neben ihn, umfasste mit ihren beiden kleinen Händen das obere Holz des Zauns.

»Aber bei mir ist es heftiger als bei den anderen. Das liegt an meiner Kurzsichtigkeit. Während wir hier gehen, sehe ich nur einen Bruchteil von dem, was Sie wahrnehmen, und selbst das sehe ich unscharf. Also muss sich meine Seele behelfen, indem sie die Mängel durch Phantasie ersetzt.«

»So schlecht sehen Sie?«

»Noch schlechter, als Sie es sich vorstellen.«

»Können Sie den Vogel erkennen, der da auf dem Baumstamm sitzt?«

»Was für ein Baumstamm?«

»Ich kenne es ja nicht anders. Und die geringere Anzahl der Eindrücke lässt mich die empfangenen dafür ruhiger und tiefer verarbeiten. Außerdem habe ich ja auch noch meine Lorgnette. Ich schaue einmal durch die Gläser, und dann weiß ich, wie schön es hier ist, und wenn ich das nächste Mal vorbeikomme, steht das schöne Bild vor meinem inneren Auge.«

»Und wenn inzwischen die Weiden gefällt und die Buschwindröschen abgefressen sind, so bekommen Sie das gar nicht mit, sondern sind wie ein Verliebter, der die Mängel des geliebten Gegenstands nicht wahrnehmen kann.«

Annette stutzte, lachte dann.

»Ja, so ähnlich ist es vielleicht. Aber vergessen Sie nicht: Ich habe immer noch meine Lorgnette. Außerdem sehe ich alles, was ich mir nahe vor die Augen halten kann, die kleinen Dinge also. Die kleinen Dinge sind mir sehr lieb.«

Nun schwiegen sie wieder eine Weile.

»Darf ich Ihnen etwas anvertrauen? Ich habe es noch niemandem erzählt, aber Sie scheinen mir jemand zu sein, dem man etwas anvertrauen kann.«

»Ich würde mich geehrt fühlen.«

»Nur, wenn Sie mir Verschwiegenheit zusichern.«

»Ich schweige wie ein Grab.«

»Es ist nämlich so, dass ich zwar das, was andere sehen, oft nicht erkennen kann, aber dafür sehe ich Dinge, die anderen verborgen bleiben – unheimliche Dinge.«

»Es tut mir leid, dass ich über Ihr Erlebnis in der Osternacht meine Scherze gemacht habe. Verzeihen Sie es mir bitte. Ich bezweifle nicht, dass Sie eine Gabe haben. Auch August erwähnte das bereits einmal.«

»Oft habe ich entsetzliche Träume«, fuhr Nette fort. »Das Gesicht eines Mannes erscheint mir im Traum. Ein ganz normales Gesicht, gar nicht besonders hässlich, das mich aber mit

Straube legte seine Hand auf ihre, strich vorsichtig über ihre Finger und zog dann erschrocken über sich selber seine Hand wieder zurück.

»Warum fürchten Sie sich so davor?«

»Weil ich spüre, dass es etwas Böses ist. Und weil das bedeutet, dass mit mir etwas nicht stimmt, dass ich vielleicht selber böse bin.«

»Sie sind nicht böse. Sie sind ein lieber, guter Mensch, der es nur nicht leicht hat. Mit Ihnen ist alles in Ordnung.«

Sie sah zu ihm auf. Das ging ganz von selber, weil sie so schön klein war.

»Sie können doch gar nichts dafür, dass Sie diese Träume haben«, sagte Straube. Nun legte sie tatsächlich ihre Hand auf seine und strich ebenfalls kurz darüber.

»Danke«, sagte sie heiser.

Dann warf sie plötzlich den Kopf zurück und fuhr im Plauderton fort: »Der Louis Grimm hat uns ein Bild geschickt, das er von Ihnen auf der Abbenburg gemacht hat. Ich fand es aber gar nicht ähnlich. Jetzt haben es die Bökendorfer. Aber die Gedichte, die Sie mir geschickt haben, die waren schön. Als sie eintrafen, durfte ich sie nicht gleich lesen, wegen meiner Augen. Meine Mutter gab sie Jenny in Verwahrung. Nicht einmal vorlesen durfte Jenny sie.«

»Darf ich auch etwas von Ihnen lesen? Vielleicht etwas mit goldenen Schmucknadeln in emaillierten Schalen?«

»Wirklich? Ich gebe Ihnen den Walther mit. Und die Hülshoffer Szenen.«

»Die Hülshoffer Szenen?«