Das Kopfweh, dieses grauenhafte Kopfweh! Und dann die Magenschmerzen! Das Trockene in den Augen! Übel war ihr auch noch. Aber vor allem das Kopfweh!
Annette verbrachte den Sommer auf dem Bökerhof. Die Sonne schien, in der Luft schwebten zarte weiße Gespinste und auf dem Hof tummelten sich kleine Enten und Hühnerküken. Sie aber lag ganz allein in Annas Zimmer auf dem etwas durchgelegenen Bett, ein feuchtes Tuch auf den Augen, und atmete durch den Schmerz hindurch, versuchte, die Stunden irgendwie herumzubringen. In diesem Zustand machte nichts Freude. Sie hätte genauso gut zu Hause bleiben können. Straube war auch nicht da.
Am Abend ging es ihr geringfügig besser, gut genug jedenfalls, dass sie heruntergehen und am Abendbrot teilnehmen konnte. Ausnahmsweise war einmal kein Besuch zugegen. Ferdinandine und ihre Kinder zählten ja nicht als Besuch, und sonst saßen nur noch Sophie, Ludowine und Anna, August, Carl und die Großeltern am Tisch. Bleich und stumm hockte Nette vor ihrem Teller, während August und Carl von Abenteuern auf dem Pferdemarkt schwadronierten und der Großvater über das aufstrebende Bürgertum meckerte, das den Untergang des Adels wohl schon zu wittern glaubte und wie ein Geierschwarm auf die herrschaftlichen Positionen lauerte. Mittendrin vergaß er, was er eigentlich sagen wollte. Der alte Freiherr wurde langsam wirklich alt. Inzwischen saß er die meiste Zeit in einem Rollstuhl, einem hölzernen Gefährt mit Kutschenrädern an den Seiten und zwei kleinen Rädern zur Stütze dahinter. Sein Raubrittergesicht war noch knochiger und schärfer geworden, der Stoff seines blauen Rocks mit den großen goldenen Knöpfen war verschlissen, die gepuderte Perücke verlor Haare und die Kniehosen schlotterten immer mehr um seine dürren Schenkel. Als er in seinen Nörgeleien einmal kurz innehielt, warf ihm die Stiefgroßmutter einen Blick zu, und er schien sich an irgendetwas zu erinnern und nickte. Daraufhin wandte sich die Großmutter an Annette: »Siehst du, mein Kind, dein Großvater und ich haben uns gefragt, ob dir vielleicht ein wenig Luftveränderung guttun würde.«
»Ihr wollt mich doch nicht nach Hause schicken?«, sagte Annette ängstlich, »mir geht es schon viel besser.«
»Das meine ich nicht«, erwiderte die Großmutter. »Aber was hältst du davon, wenn wir beide nach Bad Driburg reisen? Die Kurzeit geht noch bis September.«
»Nach Driburg!«, rief Anna. »Wieso darf Annette mit dir nach Driburg fahren und nicht ich? Ich bin deine Tochter.«
»Wir fahren nicht zu unserem Vergnügen, sondern zur Behandlung«, sagte die Großmutter. »Dr. Goosmann hält eine Kur bei Annette schon lange für geboten. Und mir wirst du es doch hoffentlich nicht neiden, wenn ich endlich meinen Katarrh auskurieren möchte?«
»Mir geht es auch nicht gut! Ihr könnt mich doch auch mitnehmen«, rief Anna kläglich und vor Sehnsucht schier überwältigt. Bad Driburg war kein mondänes Bad, aber doch gediegen mit seinen ländlichen Fachwerkbauten, und die Gäste, meist höhere Beamte und niederer Adel, kannten sich untereinander und trafen sich dort Jahr für Jahr wieder. Selbst die Fürstin Gallitzin war hier schon einige Male gewesen.
»Es ist mir nicht bekannt, dass du leidend wärst, es sei denn Langeweile und Vergnügungssucht würden neuerdings unter den Krankheiten gelistet«, sagte August. »Ansonsten bist du nämlich gesund wie ein Ferkel.«
»Oder Ludowine«, rief Anna. »Als Ludowine die Rose hatte, war auch nicht von einer Kur die Rede, aber bei Annette …«
Sie schwieg.
»Mir geht es gut, ich brauche nichts und bin zufrieden, wenn ich hierbleiben darf«, murmelte Ludowine und bestrich ein Stück trocken Brot sehr dünn mit Butter.
»Ich selber benötige vor allem die Kur«, sagte die Großmutter, »und ich nehme diejenige mit, die es von euch allen am nötigsten hat, und das ist nun einmal Annette. Die Schwefelquellen werden ihre Kopfschmerzen lindern.«
Außerdem stand Bad Driburg in dem Ruf, mittels seines mineralischen Magnets auch bei hysterischen Zuständen sehr schöne Erfolge zu zeitigen. Aber das erwähnte die Großmutter nicht.
Am 4.Juli ging es los. Das Kurbad war nur eine knappe Tagesreise vom Bökerhof entfernt. Obwohl der Weg so kurz war und die alte Freifrau ganz wie ihr Gatte eine Abneigung gegen öffentliche Verkehrsmittel als etwas, das die Stände nivellierte, hegte, hatte man entschieden, sich von Carl nur bis Brakel bringen zu lassen und dort einen Postwagen zu nehmen. Carl brauchte die Familienkutsche anderntags.
In Brakel stellte sich allerdings heraus, dass die Strecke nach Driburg an diesem Tag nur von einer Ersatzkutsche in Gestalt eines Stuhlwagens bedient wurde – einer Art Leiterwagen, in den vier Querbänke eingehängt worden waren. Zudem war der Kutscher fast noch ein Kind und hatte ein liederliches Aussehen. Er schielte ganz enorm auf dem rechten Auge, seine Stiefel warfen dreckverkrustete Falten, der verschossene blaue Rock mit dem roten Kragen hatte einen Riss am Rücken und seine Pferde, zwei struppige Braune, waren klein und ließen die Ohren hängen. Indes war kein Zurück mehr, und Annette, die Großmutter und Jungfer Marie mussten über die Seitenwand in das schäbige Gefährt klettern. Ein Mitreisender mit einem dicken Lutherkopf und den hübschen Quetschbacken einer Dogge half ihnen hinein.
Da saß sie nun, die Großmutter, auf der harten Bank des ungefederten Wagens, vor ihr zwei schmuddelige Marktweiber, neben sich Annette, die bleich und mit geschlossenen Augen an ihrer Schläfe herumtastete, und hinter ihr Jungfer Marie und der molossoide Helfer, der sogleich sein Halstuch lockerte und seinen Überrock aufknöpfte und sich als ein Herr Meißner und Händler für Mineralwasserflaschen vorstellte. Wieder einmal hatte sich der Sündenfall des Reisens gerächt, aber die alte Freifrau ließ sich nichts anmerken, stellte sich selber als »Haxthausen« vor – ohne den Titel –, und wie unbehaglich ihr auch zumute sein mochte, sie hielt sich aufrecht. Ein Spitzentuch um Brust und Hals geschlungen, die weiße Spitzenhaube fest ums Gesicht geknotet, dass kein einziges Haar hervorscheinen konnte, war sie wie stets ein Vorbild an Sauberkeit und Würde. Ganz hinten stieg jetzt noch ein zerlumpter Greis ein. Immerhin schien die Sonne.
Der Postweg führte anfangs durch eine bildhübsche Allee und zu ihrer rechten Seite konnten die Fahrgäste die Hinnenburg auf einer Bergkuppe ausmachen. Was das Herzensfränzchen wohl gerade machte? Dann rückten Buchen und Eichen auf beiden Seiten zusammen, sodass man statt einer Aussicht nur noch Stämme, Zweige und glänzendes Grün vor Augen hatte. Von unten dampfte die feuchte Kühle des Waldbodens herauf. Die Marktweiber begannen, hartgekochte Eier zu pellen und lautstark zu bedauern, dass es nicht mehr Mai war, denn da hätte man jetzt Bärlauch pflücken und die Eier damit würzen können. Herr Meißner beugte sich ungebührlich vertraulich zwischen Annette und der Großmutter vor: »Seien wir dankbar, dass es nicht mehr Mai ist, dann ist der ganze Wald in den pestilenzialischen Gestank dieses Krauts gehüllt.«
Er zündete sich seine Pfeife an und dampfte los. Ungeachtet dessen, dass bereits die Pfeife in seinem Mund steckte, holte er noch eine Taschenflasche aus seinem Rock, nahm einen großen Schluck und bot auch Jungfer Marie davon an. Die Zofe lehnte geziert ab, verdrehte dabei aber die Augen und wies mit dem Kinn vor sich auf ihre Herrschaft. Herr Meißner grinste verständnisvoll. Zwar gab es zu Beginn des 19.Jahrhunderts noch keine Dienstmädchenuniformen, aber allein der Stoff von Maries Kleid und das Fehlen von jeglichen Rüschen und Verzierungen ließen keinen Zweifel zu, in welchem Verhältnis sie zu den beiden Damen vor ihr stand.
Die Pferdchen mühten sich inzwischen die Emder Höhe hinauf, die Räder knirschten, die Vögel zwitscherten, Kutscher, Kaufmann und Greis ließen den Dampf aus ihren Pfeifen steigen, die Marktweiber schwatzten und selbst die Großmutter schien die Fahrt zu genießen und machte Annette auf die großen Farne aufmerksam. Dann wurden die Bäume plötzlich niedriger und ein Dorf mit roten Dächern und einem Waschplatz lag vor ihnen in einem Tal – Alhausen. Der Weg ging jäh in die Tiefe. Annette erwartete, dass der Kutscher halten würde, um einen Bremsschuh unter das rechte Hinterrad zu legen, aber stattdessen fuhr er munter drauflos, ließ alle Räder laufen und die Pferdchen mussten ganz allein das Gewicht des Wagens auffangen. Dazu senkten sie die Hanken, kauerten sich zusammen wie geschlagene Hunde und stemmten die Hufe gegen den roten Waldboden. So rutschten und stolperten sie mitsamt der schlingernden Fuhre den Hang hinunter. Die Mitreisenden schien das nicht weiter zu beeindrucken. Außer der Großmutter, Annette und Jungfer Marie, die sich schreckensstarr an ihre Bänke klammerten, setzten alle ihre Gespräche und Beschäftigungen fort. Herr Meißner zog sogar seine Repetieruhr hervor, um Marie vorzuführen, wie sie die Stunde schlug. Er sah auch nur kurz auf, als der Wagen sich beinahe querstellte und der Kutscher fluchend auf die Deichsel sprang, an einem Strick zog, der als zusätzlicher Zügel diente, und das eine Pferd mit seinem Stiefel trat, sodass es ein paar schnelle Schritte abwärts stolperte und das andere mitriss bis zum Fuß der Senke, und mit ihm die Kutsche und die ganze Reisegesellschaft. Die Großmutter bekreuzigte sich.
In Alhausen gab es eine kurze Pause, in der die Pferde am Brunnen trinken durften. Die Reisenden vertraten sich die Beine oder verschwanden in den Büschen. Die alte Freifrau nutzte die Gelegenheit, den jugendlichen Fuhrmann zu fragen, ob ihm schon einmal der Gedanke gekommen sei, dass sich der Abhang auch anders bewältigen ließe.
»Mit einem Bremsschuh womöglich?«
Der Junge starrte sie mit offenem Mund bloß an, woraufhin sich die Großmutter dem Händler für Mineralwasserflaschen zuwandte.
»Nun sagen Sie doch auch einmal etwas! Wie ich nicht umhinkam, mitzubekommen, fahren Sie diese Strecke ja öfter. Wird der Hang immer so gefahren?«
»Leider ja.«
»Aber das ist doch gefährlich.«
»Sie sagen es, Madam. Von der anderen Seite her ist es noch schlimmer. Es geht keine Woche hin, dass man nicht von Unglücksfällen hört. Aber die Leute meinen, das gehöre nun einmal so dazu.«
Er reichte der Freifrau, welche die Anrede Madam ohne mit der Wimper zu zucken hingenommen hatte, die Hand, um ihr wieder in den Wagen zu helfen, dann Annette und dann der Zofe.
»Gott beschütze alle, die auf diesen Weg geraten, und schenke ihnen am Ende ihre vollzähligen Knochen am Leibe«, sagte die Großmutter.
Hinter Alhausen kam ein kurzer steiler Anstieg, dann waren sie schon in dem grünen blühenden Tal, in dem die Kureinrichtungen des Freiherrn von Sierstorpff lagen. Rings herum erhoben sich Berge, und auf einem davon stand die Iburg. Sie fuhren mitten durch den Park, den sein Besitzer mit Alleen und Bosketten hatte anlegen lassen und mit Brücken, unter deren leicht geschwungenen Bögen sich spritzende Wasserfälle abwärts stürzten. Elegante Damen und Herren mit Trinkgefäßen in der Hand promenierten auf dem gepflasterten Fußweg, verfolgt von einer Musikkapelle, deren Geräusch – eine Polka, ein Gassenhauer, irgendetwas, was dem Zeitgeschmack entsprach – jedes Gespräch unmöglich machte.
Interessiert sah man den Neuankömmlingen entgegen und eine in jeder Beziehung gewichtige Dame, die die Großmutter wohl von einem früheren Aufenthalte her kannte, grüßte herüber. Nun kamen sie an eine Häuserreihe und einem grün umwucherten Bogengang vorbei, und als links ein achteckiger Pavillon lag – »Sieh nur, Kind, das ist der Brunnen; er wird ab morgen dein tägliches Ziel sein« –, bog der Wagen rechtwinklig in eine zweite Allee und hielt zwischen zwei großen Logierhäusern. Hier stiegen sowohl Herr Meißner als auch Annette und die Großmutter aus. Die meisten Badegäste wohnten im Kurpark. Driburg selber war zwar nur eine viertel Stunde entfernt, konnte aber wegen seiner schmutzigen Straßen und Ackerwirtschaft betreibenden Einwohner nur wenig zur Erheiterung der Kurgäste beitragen. Der Händler für Mineralwasserflaschen half erst den beiden Damen und dann auch noch Jungfer Marie vom Wagen, wobei er die Großmutter weiterhin unablässig mit Madam anredete. Der Kutscher reichte ihnen den Koffer herunter, nahm etwas sehr lässig das Trinkgeld entgegen und ließ dann seine Pferdchen zur uninteressanten und übelriechenden Stadt weitertraben.
Währenddessen war die ältliche Hausjungfer herausgetreten und begrüßte die Damen. Herr Meißner hatte sich bereits verabschiedet und schulterte seinen Reisesack, da er sein Quartier im Logierhause gegenüber bestellt hatte. Die Hausjungfer winkte einem Diener für den Koffer und brachte die neuen Gäste in den ersten Stock, ganz bis ans Ende des Flurs, wo sie die letzte Tür auf der linken Seite öffnete. Das Eckzimmer war in einem hellen Gelb gestrichen und sehr geräumig, es gab sogar ein kleines Nebengelass für die Zofe. Das Hauptzimmer war mit dem notwendigen Mobiliar versehen, vor allem einem Bett, das reichlich Platz für zwei Personen bot. An den Fenstern hingen blau karierte Gardinen.
Während die Großmutter hinausging, um das Heimliche Gemach aufzusuchen, räumte Jungfer Marie den Inhalt des Koffers in eine Kommode mit kleinen Eichelknöpfen, ganz nach oben die Fichurs, die Spitzenkragen, mit denen man die Reisekleider aufhübschen konnte. Annette warf ihren Mantel auf das Bett, reckte und streckte sich und ging dann zum Waschtisch, goss Wasser aus einem blau geränderten Krug in eine blau geränderte Schüssel und klatschte sich reichlich davon ins Gesicht. Ohne sich Wangen oder Hände zu trocknen, trat sie ans Fenster und sah auf die Allee hinunter. Eine Lindenallee, die rechts und links von je zwei Reihen Bäumen gesäumt war. Auf dem gepflasterten Fußweg lief ganz allein ein eleganter Herr im dunkelgrünen Frack, den obligatorischen Trinkbecher zusammen mit einem Spazierstock in der Faust. Plötzlich schien er zu bemerken, dass er beobachtet wurde, sah herauf und lüftete den Zylinder.
Annette trat vom Fenster zurück.
»Ihre Schreibsachen, Fräulein Nette – soll ich sie auf den Schreibtisch oder auf den Nachttisch legen?«
Marie hielt Papier, Tintenfass und Federn in den Händen.
»Ich mache das schon«, sagte Annette, nahm ihr alles ab und legte es selber auf den zierlichen Eschenholz-Sekretär. Dann setzte sie sich auf die Bettkante und öffnete die Schnürbänder ihrer Stiefel. Die Matratze war angenehm weich. Nette ließ sich hineinfallen und strampelte sich die Stiefel von den Füßen.
»Der Hammer«, sagte Marie, »wo soll ich denn den Hammer des gnädigen Fräuleins hinlegen? Die gnädige Frau soll ihn doch sicher nicht sehen.«
»Zu den Strümpfen«, gähnte Annette.
Die Großmutter kam ins Zimmer zurück. Annette setzte sich schnell auf und zog die Beine unter sich.
»Annette, was lümmelst du da in türkischer Haltung auf dem Bett. Und was kommt da zu den Strümpfen, das ich nicht sehen soll?«
In diesem Moment hob vor der Zimmertür ein Ständchen an, etwas von Mozart.
»Ah, das ist die Bande böhmischer Musikanten«, rief die Großmutter. »Ich habe sie bereits auf dem Flur gesehen und mir schon gedacht, dass sie zu uns wollen. Sie machen das jedes Mal, wenn jemand ankommt.«
Sie schickte Marie mit einer Münze hinaus, die Freundlichkeit zu begleichen.
Das Abendessen, wie im Übrigen auch das Mittagessen und das Frühstück, wurde an gemeinsamen Tischen im großen Ballsaal eingenommen. Man gelangte dorthin durch die grün überwucherte Galerie, an der sie bei ihrer Ankunft vorbeigefahren waren.
»Wundere dich nicht, wenn wir gleich neben dem aufdringlichen Herrn aus der Kutsche zu sitzen kommen«, warnte die Großmutter Annette, »unser Gastgeber legt wenig Wert auf Berücksichtigung der Rangunterschiede und setzt alle Gäste nach der Reihenfolge ihres Eintreffens.«
Sie traten in den Saal, an dessen zwölf Tischen Gäste jeden Alters und in allen Kostümen saßen. Das Groteske mischte sich hier mit dem Eleganten. Tatsächlich führte sie das Dienstmädchen zu jenem Tisch, von dem ihnen schon von Weitem der Flaschenhändler zuwinkte. Aber auch der Besitzer des Bades, der siebzigjährige Freiherr von Sierstorpff, hatte an diesem Abend dort Platz genommen. Um während der Kursaison ganz für die Gäste da sein zu können, residierten der Freiherr und seine Gemahlin den Sommer über in einem Gebäude, das etwas abseits des Kurbetriebs lag, aber durch eine fünfbögige Galerie mit dem zweiten Logierhaus verbunden war. Sierstorpff trug wie viele Männer seines Alters eine Titusfrisur, hatte also alle verbliebenen Haare auf moderate Länge geschnitten und vom Mittelpunkt des Hinterkopfes nach vorne-oben gekämmt.
»Liebe Baronin Haxthausen«, rief er, »welche Freude, Sie unter meinen Dächern zu wissen. Und welche Freude, dass Sie wieder ihre Tochter mitgebracht haben.«
»Meine Enkelin, lieber Sierstorpff, ein Fräulein von Hülshoff.«
»Ah«, er wandte sich an Annette, »das gnädige Fräulein weilt zum ersten Mal bei uns?«
»Ja«, sagte Annette, »das heißt: nein, es stimmt nicht ganz. Vor sechs Jahren bin ich mit meiner Mutter und meiner Schwester schon einmal hier gewesen. Wenn auch nur auf der Durchfahrt und für wenige Stunden.«
»Dann hoffe ich, dass Sie sich noch ein wenig daran erinnern können und sehen, wie viel schöner und größer das Kurbad inzwischen geworden ist. Auch die Alleebäume haben eigentlich erst jetzt die richtige Größe, dass man von einem Schattengang sprechen kann. Darf ich Ihnen Ihre Tischgenossen vorstellen?«
Zunächst und rechts des Kurbad-Direktors saß seine Gemahlin, die zweite Frau von Sierstorpff, eine freundliche Dame mit gütigen Augen, die allerdings selbst etwas kränklich wirkte. Annette hatte sie für eine Patientin gehalten. Daneben hatte Frau von Stuttnitz ihren Platz, ein armes, hässliches Geschöpf, das Annette auf etwa sechzig Jahre schätzte. Das Gesicht war von Skrofeln entstellt und die Gicht hatte die Gliedmaßen in eine steife unnatürliche Form gebogen. Neben Frau von Stuttnitz saß der Obrist Decken, ebenfalls alt und eine unheimliche Gestalt mit einem höchst unangenehmen Gesicht. Die Lippen waren schmal und verkniffen und unter den Augen hingen dicke Hautlappen.
»Obrist Decken ist Schriftsteller und wird uns hoffentlich im Laufe seines Aufenthaltes noch die eine oder andere Kostprobe aus seinem Schaffen zuteilwerden lassen«, sagte Sierstorpff leutselig.
Decken nickte verschlossen.
Neben dem Obristen saßen seine Gemahlin und die beiden Töchter. Die Gemahlin war groß und schlank und kaum älter als die Älteste der beiden Töchter, sodass es sich wohl um eine zweite Ehe handeln musste. Die Decken hatte schwarzes krauses Haar und einen englischen Akzent.
Links von Sierstorpff saß der Herr mit dem eleganten grünen Frack, den Annette schon von ihrem Zimmer aus gesehen hatte. Ein weiterer Schriftsteller, auch nicht hübsch, ein Freiherr Knigge. Annette und die Großmutter machten gleich runde Augen, als sie den Namen hörten, aber Knigge hob abwehrend die Hände.
»Nein, ich bin es nicht. Wirklich nicht. Sehe ich etwa so alt aus? Sehe ich bereits tot aus? Ich bin nur der unberühmte Vetter des alten Knigge.«
»So unbekannt denn auch wieder nicht«, sagte Sierstorpff. »Unser lieber Knigge hier zu Driburg ist der berühmte Reisende durch Asien. Er hat ein herrliches Buch darüber geschrieben. In Afrika war er auch.«
Knigge winkte ab.
»Genug gelobt. Wir wollen hier ja nicht berühmt werden, sondern bloß gesund. Und die Krone des Bades ist sowieso unser verehrter Gastgeber. Würde man nicht des Bades wegen kommen, er allein wäre bereits die Reise wert. Denken Sie nur, dass er an einigen Audienzen Napoleons persönlich teilgenommen hat.«
»Tatsächlich?«, rief Annette. »Wie ist Napoleon denn so?«
Sierstorpff lehnte sich zurück.
»Klein. Er hat die Physiognomie eines Jesuiten und spricht das Französische mit italienischem Akzent.«
Neben Knigge saß die Frau Gemahlin, eine Russin, die kaum vom Tischtuch aufzusehen wagte. Ihre Vorstellung und die der Damen Haxthausen, Hülshoff sowie des Herrn Meißner fielen knapp aus, denn in diesem Moment wurde das Essen serviert. Es gab zuerst Fischsuppe, salzig und klar mit großen gesprenkelten Forellenstücken darin, und die Teller waren kaum leer, da wurden schon die Hauptschüsseln aufgetragen, Kartoffeln, Erbsen, ein Ragout vom Rind, gebratenes Geflügel und Krebse. Dazu Wein, so viel man wollte.
»Ah, Krebse«, sagte Knigge und füllte seinen Teller reichlich, »die Krebse sind hier das Köstlichste.«
»Mit den Händen?«, rief der Mineralwasserflaschen-Händler in gespieltem Entsetzen, »was würde der alte Knigge dazu sagen?«
»Nichts«, erwiderte der anwesende Knigge, »mein Vetter pflegte andere Menschen nicht zu berufen.«
»Sind Sie schon lange hier?«, wandte sich Annette an seine Gemahlin. Sie hatte absichtlich eine besonders unoriginelle und leicht zu beantwortende Frage gewählt, aber die Russin sah sie trotzdem irritiert an, und Annette musste ihre Frage auf Französisch wiederholen.
»Oh ja«, antwortete die Freifrau Knigge dann in perfektem Deutsch. »Drei Wochen bereits, aber es kommt mir viel kürzer vor. Es ist so sehr schön hier.«
Sie sah verschämt auf ihren Teller. Ein Duttelchen offensichtlich.
»Sie werden begeistert sein«, kam ihr Knigge zu Hilfe. »Unser freundlicher Gastgeber hat hier ein kleines Elysium erschaffen. Er besitzt nicht nur die heilkräftigsten Quellen, sondern ist auch selber ein Labtrunk. Wie ein Vater sorgt er für unsere Bequemlichkeit und wie ein Freund für unsere Vergnügungen.«
»So soll es ja auch sein«, sagte Sierstorpff freundlich und hob sein Glas in Richtung des Freiherrn.
»Es stört Sie gewiss sehr, dass Sie so oft auf Ihren Vetter angesprochen oder am Ende gar mit ihm verwechselt werden?«, wandte sich die Freifrau von Haxthausen an Knigge.
»Nein, überhaupt nicht. Im Gegenteil, ich bin stolz auf ihn. Wenn mich etwas ärgert, dann nur, dass man ihn absichtlich so missverstehen will.«
»Missverstehen? Unseren großen Knigge?«
Annette nahm ebenfalls von den Krebsen.
»Nehmen Sie nicht zu viel von den roten Reptilien«, mahnte Meißner, »es gibt noch einen sehr guten Nachtisch.«
Annette lächelte ihn schal an und sprach dann zu Knigge.
»Er wird doch landauf, landab überall sehr geschätzt und gelobt, Ihr Herr Vetter.«
»Das mag schon sein. Doch wofür, frage ich. Er hat sich für die großen philosophischen und politischen Fragen der Aufklärung begeistert, aber kaum jemand will davon Notiz nehmen. Stattdessen beharrt man eigensinnig darauf, er wäre der Autor eines Benimmbuches.«
»Ich muss gestehen, dass ich das berühmte Buch Ihres Vetters nicht gelesen habe, aber ist es nicht ein Grund, stolz zu sein, wenn aus Ihrer Familie der Gewährsmann für die deutsche Etikette hervorgeht? Ich verstehe Ihren Ärger nicht ganz.«
Knigges Gesicht verfärbte sich und er legte den Krebs, den er schon zur Hälfte aus seinem Panzer geschält hatte, auf den Teller zurück.
»Jetzt haben Sie – wie sagt man – gestochert in ein Bienennest«, sagte die Decken lächelnd. Sie hatte einen auffallend großen Mund, aber ihr Lächeln war Zug um Zug sehr schön, und ihre Haut glänzte im Licht der beiden sechsarmigen Kronleuchter beinahe golden.
»Verzeihen Sie bitte meiner Enkelin«, mischte sich die Großmutter ein, »wie sie selbst zugibt, hat sie ja auch versäumt, das Buch Ihres ehrenwerten Vetters zu lesen.«
Knigge räusperte sich, wischte sich die Finger in der Serviette ab und hob die Hände – ob abwehrend oder beschwichtigend oder beides, war nicht ganz klar. Jedenfalls hatte er, wenn auch mühsam, seine Fassung wiedergewonnen.
»Ich fürchte, ich habe mich zu undeutlich ausgedrückt. Über den Umgang mit Menschen – und dies ist ja das Buch, über das wir reden –, dieses Buch also ist überhaupt keine Benimmordnung! Ist es auch nie gewesen.«
Die Decken lächelte hinter vorgehaltener Serviette, und auch Graf Sierstorpff tauschte einen belustigten Blick mit der Stuttnitz.
»Im Gegenteil, ganz im Gegenteil«, fuhr Knigge fort. »Mein völlig verkannter Vetter hat seine Lebensklugheit und seine außergewöhnliche Beobachtungsgabe dafür eingesetzt, den Menschen zu mehr Anstand zu verhelfen und die Ideale der Aufklärung zu verbreiten. Aber seit Napoleon will man von allem Französischen ja nichts mehr wissen, nicht einmal mehr von der Aufklärung. Aus Trotz soll jetzt alles eine deutsche Geschichte haben, die am besten noch bis ins Mittelalter zurückreicht. Und da sind natürlich auch die deutschen Tischregeln plötzlich nicht mehr der französischen Hofetikette entlehnt, sondern wurden angeblich vom deutschen Freiherrn Knigge erdacht oder sollen aus der ungefügen, barbarischen Vergangenheit der Germanen stammen. Lachhaft das! Ausgerechnet mein armer Vetter, der Frankreich über alles bewundert hat, soll jetzt der deutsche Gewährsmann sein für Umgangsformen, deren altfranzösische Wurzeln man nicht wahrhaben will. Aber Frankreich wird nun einmal auf ewig das Vaterland des guten Geschmacks bleiben.«
»Na, na«, sagte Sierstorpff, dessen Lächeln etwas starr geworden war, als Knigge von der Aufklärung gesprochen hatte, »es ist doch eigentlich ganz löblich, wenn wir endlich mit dem sklavischen Nachahmen der Franzosen aufhören.«
»Oh«, sagte Annette, »jetzt verstehe ich Ihren Ärger. Das Verhalten erinnert mich übrigens an meine Onkel und ihren Freundeskreis, die …«
Die Großmutter stieß Annette gegen das Schienbein, und als Annette sie ansah, schüttelte sie kaum merklich den Kopf.
Knigge schnaufte.
»Mein armer Vetter war kaum tot, da hat sich sein Verleger erdreistet, der nächsten Ausgabe einige selbst fabrizierte Seiten über Tischsitten anzuhängen, um daraus ein Handbuch für Parvenus zu machen, die den Adel kopieren wollen. Und so geht das seitdem munter weiter. Jeder neuen Ausgabe werden noch mehr Etikettenregeln angehängt.«