Dr. Ficker

Am nächsten Morgen wurde Annette schon früh um fünf von lautem Trampeln und Kichern auf dem Flur geweckt und von einem seltsamen Knirschen, das von unten heraufdrang. Das Knirschen stellte sich später als Geräusch der Pumpen heraus, die das Wasser aus dem Brunnen in die Badekammern des Erdgeschosses beförderten.

Auch die Großmutter war schon wach und ließ sich bereits von Marie ankleiden.

»Auf, auf«, sagte sie, »bis sechs Uhr musst du spätestens mit dem Trinken beginnen, sonst schaffst du nicht genug. Zwischen dem Brunnentrinken und dem Frühstück muss mindestens eine Stunde Pause sein. Bei mir sollen es sogar zwei Stunden sein. Was für dich gilt, wirst du ja erfahren, nachdem du beim Herrn Hofrat vorstellig warst.«

Das achteckige Brunnenhäuschen lag unweit des Logierhauses unter einer Gruppe schattiger Linden. Es war direkt über die Hauptquelle gebaut worden.

Dort trafen sie auf die gesamte Kurgesellschaft. Aufgekratzte Kranke flanierten die beiden Alleen auf und ab oder saßen eifrig schnatternd auf einer der Parkbänke. Unglaublich, wie lustig diese Bande zu so früher Stunde schon war. Einzig die böhmischen Musikanten, die im bergmännischen Habit und mit österreichischen Militärkappen zwischen ihnen

Sie spielten alle acht zusammen, die erste und die zweite Geige, die Bratsche, die Klarinette, eine Flöte, zwei Waldhörner und eine Trompete. Schließlich blieben sie neben dem Brunnengebäude stehen, wo bereits der sperrige Bass, der den morgendlichen Marsch nicht mitmachte, auf sie gewartet hatte. Ein zwölfjähriger Knabe, der zuvor eines der Waldhörner gespielt hatte und dem noch ein Strohhalm von seinem nächtlichen Lager im Haar steckte, begann ein Lied zu singen, damit die anderen pausieren konnten.

»Was helfen uns die schweren Sorgen,

Was hilft uns unser Weh und Ach?

Was hilft uns, dass wir alle Morgen

Beseufzen unser Ungemach.

Wir machen unser Kreuz und Leid

Nur größer durch die Traurigkeit.«

Er schien die besondere Gunst der Kurgäste zu besitzen, denn alle blieben stehen, murmelten anerkennend und ein Herr steckte ihm hinterher etwas zu und entfernte neckisch den Strohhalm aus dem Knabenschopf.

»Da vorne bei den Kegelbahnen sind Branntwein- und Viktualien-Boutiquen«, sagte die Großmutter, »dort können wir dir später einen eigenen Trinkbecher kaufen. Bis dahin müssen wir eben beide aus meinem trinken. Ich selber will mir nachher einen Wanderstab zulegen.«

Annette nickte verschlafen.

Das Frühstück war wieder überaus reichhaltig und wurde am selben Tisch und in derselben Gesellschaft eingenommen. Nur, dass der Freiherr von Sierstorpff und seine Gemahlin diesmal

»Die arme Sierstorpff ist wohl doch ernster krank, als sie bisher gedacht hat«, wusste die hübsche Decken zu berichten, wobei sie sich insbesondere an Annette wandte.

»Sie ist bereits so schwach, dass sie schon überlegt, demnächst die Weintraubenkur anzuwenden. Sind Sie mit der Weintraubenkur vertraut? Es bedeutet, dass Sie sechs Wochen lang ausschließlich Weintrauben essen dürfen. Stellen Sie sich das mal vor!«

»Ach ja? Das stelle ich mir doch sehr angenehm vor«, sagte Annette.

»Angenehm?«

Die Decken schüttelte ihre schönen schwarzen Locken.

»Das reinste Purgatorium. Überhaupt nicht zu ertragen.«

»Denken Sie doch«, sagte Knigge, »sechs Wochen lang Weintrauben und immer nur Weintrauben. Sie werden Ihr Leben lang nie wieder welche essen wollen.«

 

Nach dem Frühstück ging es endlich zum Badearzt, zu Hofrat Ficker, einem Professor für Chirurgie und Hebammenlehre, der jeden Sommer aus Paderborn anreiste, um im Bad seinen Dienst zu verrichten. Er hatte seine Praxis in der unteren Etage des alten Badehauses, sodass Annette und die Großmutter ohne Mäntel direkt aus ihrem Zimmer zu ihm heruntergehen konnten.

Eines der Dienstmädchen öffnete ihnen die Tür und Dr. Ficker, ein stattlicher Herr mit Vollbart und in den besten Jahren, stand von seinem Stuhl auf und verbeugte sich mit aller Selbstgefälligkeit, die sich in eine so demütige Körperhaltung nur legen ließ. In seiner zweiten Existenz, dem herbst- und winterlichen Dasein, war Dr. Ficker fürstlicher Leibarzt in Detmold und Regierungs- und Medizinalrat in Minden.

»Baronin, wie schön, Sie wieder bei uns zu wissen. Ich hoffe, es ist nichts Ernstes, das Sie zu uns führt.«

»Lieber Hofrat, das ist es nicht. Recht eigentlich komme ich wegen meiner Enkelin. Mich selber plagt nur ein Katarrh und ich will mich mit der kleinen Kur zufriedengeben.«

»Gnädiges Fräulein.«

Er deutete eine Verbeugung an, wandte sich dann wieder an die Haxthausen’sche Freifrau.

»Ein Katarrh, nun, wir werden sehen.«

Er bat die Großmutter, ihr Hemd zu lockern, schob es am Rücken hoch und legte sein Ohr neben die Wirbelsäule.

»Husten Sie bitte!«

Die Großmutter hüstelte, der Hofrat horchte.

»Ein leichter Katarrh«, sagte er dann, »nichts Schlimmes, ganz recht. Aber wenn er auch Ihr Leben nicht bedroht, so beleidigt er doch Ihr Menschsein.«

Annette lachte ungläubig.

»Lachen Sie ruhig, gnädiges Fräulein. Jede Krankheit, auch die kleinste, ist ein Abfall von der edlen menschlichen Lebensform und stattdessen die Inkarnation einer Idee niederer Lebensformen. Nehmen wir die Rachitis mit ihrem Aufweichen der Knorpel und Knochen, sie ist die Idee des Weichtieres.«

»Des Weichtieres!«, rief die Großmutter entsetzt. »Und mein Katarrh?«

»Nun, der Katarrh mit seinen entzündeten Nasenhäuten und der vermehrten Absonderung von Wasser und Schleim ist natürlich die Idee des Wassertieres.«

»Die kleine Kur dürfte völlig genügen. Was machen die Augen? Alles gut so weit? Zu Hause sind Sie bei Professor Himly, nicht wahr? Da sind Sie in guten Händen. Setzen Sie sich doch bitte.«

Er wandte sich Annette zu.

»Und das gnädige Fräulein? Was führt das gnädige Fräulein hierher? Sagen Sie nichts, lassen Sie sich erst in Ruhe betrachten.«

Dr. Ficker, die Hand am Bart, umkreiste sie. Annette errötete.

»Was mir gleich auffiel, ist Ihr langsamer matter Gang, die gebeugte Haltung – und die Augen natürlich. Was ist mit Ihren Augen?«

Annette errötete noch heftiger.

»Ich sehe schlecht.«

»Sie sieht fast gar nichts«, sagte die Großmutter. »Allein gelassen, würde sie sich kaum zurechtfinden. Das liegt natürlich daran, dass sie ihre Augen ständig überanstrengt. Sie liest und schreibt und regt sich dabei auch noch auf.«

Dr. Ficker durchwühlte seinen Bart und schob Annette einen Stuhl hin.

»Soso, sie liest? Und schreibt? Setzen Sie sich! Wie weit können Sie sehen?«

Er trat drei Schritte zurück und hob die rechte Hand.

»Wie viele Finger zeige ich Ihnen?«

»Das kann ich leider nicht erkennen.«

»Das können Sie nicht erkennen? Ich stehe Ihnen ja praktisch direkt gegenüber. Und jetzt?«

Er trat auf sie zu, hob wieder die rechte Hand.

»Zwei Finger. Aber ich sehe sie nur ganz verschwommen.«

Dr. Ficker schüttelte ernst den Kopf.

Er ging zu seinem Regal, zog wahllos ein Buch heraus und reichte es ihr.

»Das Lesen geht ganz ohne Lorgnette«, sagte Annette stolz und tauchte mit dem Gesicht in die Seiten, als wollte sie die Druckerschwärze auflecken.

»Mein Gott«, sagte Hofrat Ficker, »können Sie so tatsächlich lesen?«

Annette sah zu ihm hoch und nickte.

»In der Nähe sehe ich sehr gut. Aber nur, wenn etwas wirklich sehr nah ist.« Sie nahm das Wasserglas mit den Wiesenblumen von seinem Schreibtisch und hielt es sich an die Augen. »Ich kann die merkwürdigen Tierchen im Wasser sehen, die sonst niemand erkennt.«

»Die Infusorien? Sie wollen behaupten, dass Sie die Infusorien erkennen können? Beschreiben Sie mir, was Sie sehen.«

»Nun, sie sehen nicht wirklich wie Tiere aus, sondern sind rund wie Früchte oder Kastanien, aber dabei sind sie ganz durchsichtig und sie bewegen sich – wie Tiere. Sie haben kleine Füße oder Warzen, ich weiß nicht, was es ist, und daran sind wieder Borsten, mit denen sie schwimmen. Das hier vorn ist einfach nur rund und hat einen langen Schwanz, mit dem es sich vorwärts peitscht.«

»Außerordentlich«, sagte Dr. Ficker und setzte sich hinter seinen Schreibtisch, um Notizen zu machen. »Sie sind ja ein wandelndes Mikroskop.«

Er beugte sich vor, fasste sie am Kinn und bestaunte die Brechung ihrer vorgewölbten Augen.

»Ich habe allerdings auch noch nie solche Augen gesehen. Die Iris schwimmt ja geradezu.«

»Was meinen Sie damit: die Iris schwimmt?«, fragte die Großmutter besorgt.

»Nun, schauen Sie sich das einmal an«, sagte Dr. Ficker und

»Erzähl dem Hofrat von deiner armen kranken Brust, deinen Leibschmerzen und deinen Übligkeiten«, mahnte die Großmutter.

»Was hat es damit auf sich?«, fragte der Hofrat freundlich.

»Ach, ich kriege schlecht Luft. Besonders, wenn ich mich aufrege. Mir ist auch oft übel. Und dann habe ich Magenschmerzen. Eigentlich täglich.«

Eigentlich waren es Schmerzen des Unterbauchs, die Annette quälten. Mit dem Magen hatte das nicht viel zu tun. Aber Bauch sagte man nicht. Wenn man den Bauch meinte, sagte man Magen. Wenn man den Schenkel meinte, sagte man Bein, und Brust und Busen hießen Hals.

»Sie schont sich nicht«, sagte die Großmutter, »meine Enkelin läuft manchmal den ganzen Tag mit einem Hammer herum und schlägt Steine aus dem Erdreich. Dabei ist sie so kurzatmig.«

»Deswegen brauche ich ja die frische Luft«, wandte Annette ein.

»Sie irren«, sagte Dr. Ficker. »Frische Luft und Bewegung sind zwar die Grundlagen einer gesunden Lebensführung – aber nur, wenn Sie dabei die Tugend der Mitte einhalten. Gehen Sie in unserem schönen Park spazieren, aber lassen Sie den Hammer auf Ihrem Zimmer und verschonen Sie unseren armen Buntsandstein.«

»Schauen Sie« – er fasste ihr Handgelenk und strich den Ärmel des Kleides zurück, sodass der viel zu dünne Unterarm zum Vorschein kam –, »sehen Sie selbst die Unmöglichkeit! Der Körper einer Frau ist nach dem Willen der Natur ja eigentlich nur Ernährungsmaterie. Und bei Ihnen ist er ja nicht einmal das. Die Kleinheit Ihrer Organe, die geringe Lungenkapazität und die dünnen, schwachen Muskeln bestimmen Sie zur

»Darf ich stattdessen auch lesen oder schreiben?«

»Auf gar keinen Fall«, rief die Großmutter, »du weißt, wie schnell du davon Kopfschmerzen bekommst.«

»Hören Sie auf Ihre Großmutter, sie hat vollkommen recht. Eine Überanstrengung des Gehirns ermattet die generativen Organe und zerrüttet ihr harmonisches Zusammenspiel. Ihr Körper ist nicht eingerichtet, um zu denken, sondern um die große Absicht zu erfüllen, welche die Natur ihm auferlegt hat.«

Annette seufzte tief.

»Eigentlich die große Kur«, sagte Dr. Ficker zur Großmutter. »Am besten wäre es, Ihre Enkelin würde die sechs Wochen vollmachen, aber so lange haben wir ja gar nicht mehr geöffnet.«

Er wandte sich wieder an Annette: »Trinken Sie viel. Fangen Sie mit fünf Bechern an, und steigern Sie sich auf mindestens neun, besser noch zwölf. Unsere Hauptquelle ist eisenhaltig und gut gegen Bleichsucht. Sehr viele junge Frauenzimmer wurden bei uns so gestärkt, dass sie nachher mehrere gesunde Kinder gebaren.«

Diesmal errötete nicht nur Annette, sondern auch die Großmutter.

»Nach jedem einzelnen Becher eine Viertelstunde pausieren«, fuhr der Hofrat unbeirrt fort. »Fangen Sie am besten gleich um fünf Uhr morgens an, spätestens um sechs. Trinken Sie den Brunnen so langsam wie möglich und unter mäßiger angenehmer Bewegung des Körpers. Nachmittags können Sie Wein und Zucker dazumischen oder Milch. Wundern Sie sich nicht, wenn dadurch Leibesöffnung eintritt. Das ist erwünscht. Eine Stunde vor dem Frühstück dürfen Sie allerdings nichts mehr trinken. Zum Frühstück trinken Sie dann, was Sie wollen, ein Glas warmen Wein oder eine Schokolade. Hauptsache keinen Tee.«

»Hauptsache kein Brunnenwasser«, sagte Annette.

»Nach dem Frühstück sind die Bäder dran. Fünf Bäder die Woche. Sie bekommen einen Plan. Danach können Sie Karten spielen oder meinetwegen auch lesen – aber nur Journale. Wenn Sie bereits erschöpft sind, schlafen Sie. Ansonsten: Spazieren gehen und damit die heilkräftige Wirkung des Mineralwassers unterstützen. Sollten Sie einen Aderlass wünschen, so steht Ihnen dafür unser Chirurg und Bademeister Mertin zur Verfügung. Er hat seine Praxis im neuen Badehaus. Aus Paderborn kommt mehrmals die Woche ein Zahnarzt herüber. Ihre Großmutter kennt sich ja bereits aus und kann Ihnen alles Weitere erklären.«