Wenige Tage später traf Straube ein. Es war schon Abend, und er war müde, voller Straßenstaub, aber wie immer bester Laune. Unterwegs hatte er Ludwig Grimm getroffen, der seit einiger Zeit auf der Abbenburg wohnte und gerade herübergeritten kam, um den alten Haxthausen zu porträtieren. In Ritterrüstung. Straubes Lachen dröhnte über den Bökerhof. Ludwig hatte Erdmann dabei, den Dachshund des Grafen Bocholtz-Asseburg. Der Hund war ihm von der Hinnenburg nach Abbenburg auf seinen kurzen Beinen hinterhergelaufen, und nun von Abbenburg zum Bökerhof. Am Ende war der Maler doch jedes Mal weich geworden und hatte ihn in seinen Tornister gesteckt. Da saß er auch jetzt und ritt auf dem Rücken seines selbsterwählten Herrn in das Haxthausen’sche Entree.
Straube sagte gleich, dass er nur drei Tage bleiben könnte, und das war auch gut, denn der alte Freiherr, Augusts Vater, schien schlechte Laune zu haben. Während die übrige Familie noch vor ihren Tellern saß, stopfte er sich bereits seine Pfeife.
»Schon wieder ein Gast«, sagte er an Straube vorbei zu August, der auf seinem Stuhl ein wenig zusammensackte, »manchmal denke ich, du verwechselst dein Elternhaus mit einer Herberge. Hast du mir nicht gestern gerade vorgerechnet, dass wir kurz vor dem Ruin stehen?«
Die Haxthausen’sche Familie versank in Schweigen. Ein Fingerring klirrte gegen ein Glas. Straube, erschrocken über so viel direkte Grobheit, bekam einen Hustenanfall und drückte sich die zusammengeknüllte Serviette vor den Mund. Auch Wilhelm Grimm erstarrte mit der Gabel in der Hand.
»Aber Vater«, sagte August ungewohnt kleinlaut, »das ist doch Straube. Unser guter Straube. Ich habe ihn dir doch schon vor Wochen angekündigt.«
»So. Straube. Das sehe ich doch, dass das Straube ist. Hältst du mich für blöd? Wieso trägt er diesmal keine Perücke? He, Straube, was ist aus Ihrer Perücke geworden? Ist sie Ihnen jetzt nicht mehr zeitgemäß? Müssen Sie nun wie alle anderen mit so einer Windstoßfrisur herumlaufen?«
Straube hustete eilig zu Ende und sammelte sich.
»Ich bin zu Fuß gekommen. Aus Göttingen. Eine Perücke wäre da hinderlich gewesen. Und sie hätte vermutlich gelitten. Ich besitze leider nur die eine.«
»Ah, richtig«, sagte der alte Freiherr mit grimmigem Grinsen, »mit Bankrott kennen Sie sich ja ebenfalls aus. Ich schätze die Gelassenheit, mit der Sie den Schicksalsschlag hingenommen haben. Guter Mann.«
Er setzte wieder seine rechtschaffene Miene auf und nahm einen Zug aus der Pfeife.
»Sie können Gott danken, dass er Sie nicht mit Glücksgütern erhöht hat«, versuchte die alte Freifrau zu retten, was nicht mehr zu retten war. »Es ist ein Vorzug, im Zustand der Demut zu verharren, auf dass man nicht auf den Gedanken kommt, sich zu erheben. Ich bitte den Herrn jeden Tag darum, uns nicht mit Reichtum zu segnen.«
»Ja, ja, es ist die reinste Wonne, wenn man Schulden hat«, knurrte der alte Haxthausen.
Ludwig Grimm tätschelte Erdmann den Kopf und Erdmännchen kläffte die Haxthausen’schen Dackel an, die sich ihm zu nähern versuchten.
»Ein schöner Dachshund«, lobte die alte Freifrau, »seine Söhne kommen leider nach der Mutter und sind etwas breit geraten. Von der Jagd wollen sie auch nichts wissen.«
»Erdmann ist so schmal, dass er in so kleine Öffnungen kriechen kann, dass man es kaum für möglich hält«, erwiderte Louis.
»Nur die widerwärtigen Flöhe«, sagte der alte Haxthausen.
»Und Sie können wirklich nur drei Tage bleiben«, wandte Annette sich rasch an Straube. Sie strich den frischen Kragen glatt, den sie sich eben noch schnell in das alte blaue Kleid gesteckt hatte. Straube war die ganze Zeit von August und Werner belagert worden, und sie hatte noch kein einziges Wort mit ihm reden können.
»Ja, leider«, sagte Straube. »Und Sie können nicht enttäuschter sein, als ich es bin. Aber ich verspreche: Das Erste, was ich morgen tun werde, ist, mit Ihnen das Ritter-Epos durchzugehen, das Sie so freundlich waren mir zu schicken. Mein Wort darauf. Gleich morgen Vormittag.«
»Ich würde Ihnen auch gern noch einige neue Gedichte zeigen.«
»Und die neuen Gedichte. Die neuen Gedichte zuerst.«
»Neu, immer soll alles neu sein«, murrte der Patriarch und ruckelte seinen Rollstuhl näher an den Tisch. »Das ist die Wurzel allen Übels, die Verachtung des Alten.«
»Nur allzu wahr«, stimmte Wilhelm Grimm ihm beflissen zu.
»Gibt es denn etwas Neues im alten Westfalen«, fragte Straube ein wenig aufsässig. Aber da kam er gerade an den Richtigen.
»Ja, wissen Sie denn nicht, was der alten Burg Wetter angetan worden ist?«
Ein geräuschloses Seufzen hob und senkte die gesamte Tischgesellschaft, die über die Burgruine Wetter bereits ausführlich informiert war.
»Eine mechanische Werkstatt zur Herstellung von Dampfmaschinen«, erklärte August. »Nach englischem Vorbild. Harkort und Companie. Und alles in der ehrwürdigen Ruine.«
»Eine Schande«, sagte Wihelm Grimm, »solchen Leuten ist nichts heilig.«
Der alte Freiherr lief sich jetzt warm.
»Das liegt nur am Handel mit dem Ausland. Der hat einen schlechten Einfluss auf unser Westfalen. Da kommen dann die billigen Stoffe aus dem Maschinen-England.«
»Unlängst habe ich von einem Tagelöhner gehört, der im Besitz einer zweiten Kleidergarnitur sein soll«, assistierte August.
»Wie schön«, sagte Straube, »dann kann ich mir vielleicht auch bald einen neuen Rock leisten. Obwohl … wenn ich es mir recht überlege, dann werde ich es wohl trotzdem nicht tun. Mein alter Friedrich wäre allzu traurig, wenn ich ihn nicht mehr anzöge. Nein, das kann ich ihm nicht antun.«
»Zustände wie in England sind in Westfalen zum Glück nicht denkbar«, verkündete der alte Haxthausen, »und im Ruhrgebiet schon gleich gar nicht. Harkort muss sich seine Arbeiter alle aus England holen. Warum sollte das deutsche Volk, das die Natur zum Ackervolk bestimmt hat, sich auch von seinem Berufe entfernen und ein Handelsvolk ohne Seemacht werden? Das Leben an der frischen Luft gegen das Leben in einer Halle tauschen, in der Tag und Nacht die Maschinen heulen.«
»Ich stelle es mir durchaus verlockend vor, Feldarbeit bei sengender Sonne oder klirrendem Frost gegen eine leichte Arbeit in einer wohltemperierten Fabrik zu tauschen«, sagte Straube.
Der Patriarch keuchte vor Empörung.
»Das wäre eine Erschütterung der althergebrachten Ordnung! Ein Verrat an allem Bestehenden!«
Von allen Seiten antwortete ihm besänftigende Zustimmung.
»Wollen wir nun vielleicht mit unserem Bild beginnen«, schlug Ludwig Grimm dem alten Freiherrn vor. »Dann müssen wir allerdings ein anderes Zimmer aufsuchen, wo wir mehr Ruhe haben.«
Am nächsten Morgen verschlief Straube. Als er zum Frühstück herunterkam, hatte sich die Haxthausen’sche Familie bereits in alle Winde zerstreut. Bloß August, Anna, Caroline und der Maler Ludwig saßen noch am Tisch. Neben dem Maler lagen alle drei Dachshunde – Erdmann und die beiden Haxthausen’schen Dackel – und gähnten um die Wette.
»Wimmer, alter Allodri, hast du gut geschlafen?«
»Oh gut. Zu gut. Wie immer in deinem Bett. Aber deine Nichte hat mich anscheinend versetzt. Oder wisst ihr, wo sie ist?«
Ein Teller mit Brot und Butter stand an seinem Platz. Er ließ sich andächtig davor nieder.
»Nette?«, sagte Anna frech. »Die ist schon früh nach Bellersen gelaufen und beichtet ihre Sünden.«
»Dann wird sie ja gleich wieder da sein«, erwiderte Straube und bestrich eine Scheibe Pumpernickel dick mit Butter, teilte sie in acht gleich große Stücke und steckte sich eins voller Hingabe in den Mund.
»Oder auch nicht«, kicherte Caroline.
»Darauf würde ich auch lieber nicht warten«, sagte Anna. »Außerdem möchte ich mit Ihnen zu den Blumenbeeten gehen. Alles, was wir im Frühjahr gesät haben, ist aufgegangen. Die Pulmonaria und die Vinca und die Löwenmäulchen. Nur die Wiltfreinen nicht. Aber die wären jetzt sowieso schon verblüht.«
Erdmann legte eine Pfote auf Ludwigs Hand und kratzte ihn. Dann nahm er einen Rockzipfel und fing an zu zerren.
»Erdmännchen, sei ruhig«, sagte Ludwig.
Straube stopfte sich das letzte Stück Pumpernickel in den Mund und stand auf, um mit den vieren in den Garten zu gehen.
»Ich hoffe, Nette weicht mir nicht absichtlich aus«, sagte er zu August. »Habe ich in Hülshoff einen schlechten Eindruck hinterlassen? Deine Schwester und ihr Mann waren ausgesprochen zuvorkommend zu mir. Allerdings hat deine Schwester auch so einen strengen prüfenden Blick, unter dem man sich nicht immer behaglich fühlt. Und in der Osternacht musste ich ganz allein nach Münster gehen, um mir die Osterfeuer anzuschauen. Deine Schwester wollte ihre Töchter nicht mit mir mitgehen lassen.«
»Keine Sorge, liebster Wimmer. Therese hat kein einziges böses Wort über dich verloren. Als ich auf Hülshoff war, hat sie die ganze Zeit nur davon geredet, wie begeistert Clemens von dir war. Und wen Clemens mag, den liebt auch Therese. Sie überlegt schon, wie sie dich bei Stolberg einführen soll. Außerdem wollen sie dich für den Herbst einladen, das soll ich dir ausrichten.«
Sie bewunderten Annas Blumen, die Pulmonaria und die Vinca und die Löwenmäulchen.
»Lasst uns hinüber nach Abbenburg reiten«, sagte August. »Carl und Fritz werden sich freuen, euch zu sehen. Und lasst uns die Flinten mitnehmen.«
Bei diesen Worten sprang der Dachshund sogleich mit den Vorderpfoten an Ludwig empor.
»Ich kann nicht«, sagte Straube, »ich bin mit deiner Nichte verabredet. Ich habe es ihr versprochen. Wir wollen ihren Walther besprechen.«
»Den Walther – ich bitte dich! Außerdem hat sie dich sowieso versetzt. So ein Ausflug kann bei Nette ewig dauern. Wenn ich richtig gesehen habe, hatte sie ihren Berghammer dabei.«
»Zu mir hat sie gesagt, sie wolle bloß Zwetschgen pflücken«, sagte Ludwig.
»Zwetschgen? Dann hätte sie ja wohl kaum den Hammer mitgenommen. Was meinst du, können wir Wilhelm auch überreden, mit zur Jagd zu kommen?«
»Wilhelm doch nicht«, sagte Ludwig, »versuche es gar nicht erst. Der schreibt schon den ganzen Morgen.«
»Aber du kommst doch?«
»Ich komme. Der weniger gelehrte Grimm-Bruder ist allzeit für ein kleines Abenteuer mit Pferden und Büchsen zu haben.«
»So gefällt mir das. Schnallt die Mantelsäcke auf die Rösser.«
»Straube ist eben mit August nach Abbenburg geritten«, sagte Anna, als Annette aus dem Garten kam, die Schürze voller Zwetschgen.
»Nach Abbenburg? Das kann nicht sein. Wir sind doch verabredet. Hat er nicht nach mir gefragt?«
»Straube? Nein, der war völlig mit seinem Frühstück beschäftigt. Und dann sind sie losgeritten. Die Gewehre haben sie auch mitgenommen.«
Annettes Arme sanken schlaff an ihr herunter. Natürlich hatte Straube sie vergessen. Was hatte sie sich denn eingebildet? Dass er tatsächlich ihr Geschreibsel lesen wollte? Der lachte doch bloß über sie. Nette ging mit Anna ins Haus, wo die Tanten unbekümmert und in schöner Einfalt über ihren Handarbeiten saßen. Annette lehnte sich an die Wand und seufzte tief. Hier gehörte sie nicht hin, nicht in die Lebenssphäre dieser Stubenblumen, deren Bestimmung darin lag, den Hintergrund für ein eigentliches, ein wichtigeres Sein abzugeben und nebenbei den häuslichen Pflichten nachzukommen. Sie war keine Blume. Sie wollte bei den Männern sein, den lauten Männern mit ihren Ideen und Plänen, die inzwischen wohl den Wald erreicht haben mussten. Jetzt auf einem Pferd neben ihnen herreiten, ein Gewehr über der Schulter, die Haare im Wind, eine Anspielung auf den Schelmuffsky machen und mit ihnen laut und dreckig lachen. Aber ihr war auch bewusst, wie unpassend und vermessen dieser Wunsch war und wie er nur Befremden und Abscheu bei allen hervorrufen würde, wenn sie davon erführen. Selbst bei Straube.
Wilhelm Grimm und der Großvater waren die einzigen Männer, die zu Hause geblieben waren. Grimm hockte oben in Carls altem Zimmer und schrieb, und der Großvater saß in seinem Rollstuhl neben dem Kamin, in dem trotz der freundlichen Witterung ein kleines Feuer brannte. Er fror in letzter Zeit leicht, der Alte. Dann rauchte und nörgelte er noch mehr als sonst. Gierig war er, dieser Friedrich Harkort mit seiner Maschinenfabrik. Gierig und ohne Haltung. Wie alle Bürgerlichen. Sie gierten nach Geld, nach Münzen, nach Adel. Sie wollten renommieren, stellten einen Lakaien ein, und dann tat ihnen ihr schönes Geld wieder leid, und sie verlangten, dass der Lakai auch noch die Gartenarbeit übernahm, Stiefelputzer und Kutscher in einer Person war und hinterher mit weißen Handschuhen bei Tisch bediente. Damit es sich lohnte! Ha!
Seine Frau und seine Töchter bemühten sich eine nach der anderen zu ihm, versuchten, den Aufruhr zu besänftigen, den der fortdauernde Schrecken der Industrialisierung in seiner Seele anrichtete. Aber das war nicht möglich, und so drückte Caroline ihm schließlich das Paderbornische Intelligenzblatt in die Hand und alle kehrten wieder zu ihren Beschäftigungen zurück.
Die Großmutter setzte sich in ihren Lehnstuhl, rückte das Kreuz zwischen all den Rüschen auf ihrem Busen gerade, zog das Wolltuch mit den Fransen dichter um ihre Schultern und vertiefte sich in ihr Gebetbuch. Sophie ging hinaus, um mit den Mägden die Vorbereitungen für den Waschtag zu besprechen. Ferdinandine beugte ihren straff gescheitelten Schädel über die Rechnungsbücher, die eigentlich in Augusts Aufgabenbereich fielen, Caroline blätterte in einem Journal und Ludowine saß wie eine alte Frau mit demütig niedergeschlagenen Augen vor ihrem Klöppelkissen und wirkte mit achtzehn Klöppeln ein weiteres Haubenband, so fein und ebenmäßig, dass man hätte glauben können, eine der neuen Bobinet-Maschinen wäre am Werk. Mit dem Haubenband wollte sie das triste Ding auf ihrem Kopf auftakeln. Denn bei aller Keuschheit, die das Verbergen der Haare unter der Haube ausdrücken sollte, galt es doch auch, dem männlichen Anspruch auf weibliche Schönheit zu willfahren. Eine Schönheit, die selbstverständlich frei von jeglichem Hinweis auf sündige Triebe zu sein hatte. Eine blumenhafte Schönheit, der nichts Animalisches anhaftete. Deshalb auch die vegetabilen Rüschen und Volants.
Sogar Nesthäkchen Anna war beschäftigt. Sie pinselte im Stil mittelalterlicher Buchmalerei eine Randbordüre für das Titelblatt ihres winzigen Stammbuchs. Das Buch war so klein, dass man es in einem Ärmelaufschlag verschwinden lassen konnte. Annette stellte sich hinter sie und sah ihr über die Schulter. Sie musste sich weit vorbeugen, um überhaupt etwas zu erkennen. Ein ziemliches Gekrakel. Gar kein Vergleich mit den Blumenillustrationen, die Schwester Jenny zu malen imstande war, aber immer noch besser als alles, was Nette selber zuwege brachte. Mitten in Annas altdeutschem Blumenstrauß standen die Zeilen:
›Anna Haxthausen tu ich mich schreiben
bei Gott und seinem Wort will ich bleiben.‹
»Herrje«, dachte Annette bloß, »herrje!«
Kein Wunder, dass die Herren ab und zu die Flucht ergreifen mussten. Wahrscheinlich dachte Straube, dass Annettes neue Gedichte ganz ähnlich ausgefallen wären, etwas in der Art wie: ›Gottes Gnade wünsch ich mir, tue alles gern dafür.‹ Oder: ›Herr beschütze meinen Weg, leite mich über den wackligen Steg‹. Und darum hatte Straube auch keine Lust, seine Zeit mit ihr zu verplempern. Und den Walther hatte er vermutlich gar nicht gelesen. August hatte recht, Straube machte sich nur über sie lustig. Oder er hatte es einfach vergessen. Wein hatte er gestern Abend ja auch getrunken. Er ahnte eben einfach nicht, was in ihr steckte. Wenn sie es ihm doch nur beweisen könnte. Falls überhaupt etwas zu beweisen war. Vielleicht hatte August ja auch darin recht. Vielleicht konnte sie in Wirklichkeit überhaupt nicht dichten. Die Tanten waren die Einzigen, die sie manchmal lobten, und die Stiefgroßmutter, und ihre Mutter natürlich. Aber sie alle waren Frauen, und die Meinung von Frauen war wie das Gezwitscher der Meisen, das Keckern der Eichhörnchen. Früher, als sie noch ein Kind gewesen war, hatten auch Werner und August sie gelobt. Aber jetzt eben nicht mehr. Nicht, seit ihr Schreiben die Grenzen der Liebhaberei überschritten hatte. Je wichtiger sie ihre Arbeit nahm, desto angewiderter wanden die Onkel sich ab, desto schärfer und höhnischer kritisierten sie oder verboten es sich überhaupt, damit belästigt zu werden.
Annette sah zitternd aus dem Fenster, sah in den weiten Himmel dort draußen, dachte an die Pferde, die vielleicht gerade die Auffahrt zur Abbenburg hinaufstürmten. Plötzlich quollen ihr Tränen aus den Augen, und sie schluchzte laut auf.
»Na!«, rief der alte Haxthausen erbost.
Unangenehm berührt beugte sich Ludowine noch tiefer über ihre Klöppelarbeit.
»Was ist denn jetzt schon wieder?«, sagte Anna – ebenfalls ohne aufzuschauen. Gerade vollendete sie zwei Walderdbeeren, die ein wenig wie Himbeeren aussahen, aber eigentlich Kleeblüten darstellen sollten.
»Nichts«, antwortete Annette und schluchzte noch lauter.
»Kind«, sagte die Großmutter sanft. »Kind, komm zu mir.«
Annette ging zu ihr, kniete sich vor ihrem Sessel hin und verbarg den Kopf in ihrem Schoß, wühlte das Gesicht in den glatten Stoff des schwarzen Kleides. Anna und Caroline tauschten einen Blick und verdrehten die Augen.
»Ach Kind«, sagte die Großmutter und legte die Hand mit der schlaffen, trockenen Haut auf Annettes Scheitel, strich ihr über die Haare.
»So schwer? So schwer?«
Es tat nichts, dass sie nur die Stiefgroßmutter war, eine richtige Großmutter konnte nicht verständnisvoller sein. Annette schluchzte wieder auf und presste den Kopf in den Großmutterschoß.
»Was ist das für ein Aufruhr«, murrte der alte Haxthausen, der es nur schwer ertrug, wenn jemand anderes im Mittelpunkt stand.
»Gibt es irgendeinen Grund, sich so anzustellen? Exaltiert, nenne ich das. Exaltiert. Ich habe die Gicht. Die Gicht! Schmerzen sind das! Merkt denn keiner, dass das Feuer ausgeht? Außerdem zieht es ganz unangenehm. Seid ihr denn zu nichts zu gebrauchen?«
Ludowine und Ferdinandine sprangen auf. Ferdinandine legte Holz nach, obwohl das eigentlich noch nicht nötig war – im Kamin prasselte es hell –, Ludowine brachte ein Kissen, fragte den Vater, wo es ihm kalt ziehe – »Im Nacken natürlich, du dummes Ding«, und platzierte es so, dass ihn kein Windhauch mehr stören konnte.
Annette war in dem dunklen Taft des Großmutterrocks versunken. Wie vom Grunde eines Brunnens hörte sie das Schimpfen des Großvaters, die Geräusche der Häuslichkeit, das Knacken und Knistern im Ofen, das Klappern der Klöppel, das Flüstern der Tanten. Sie schlief kurz ein, wachte wieder auf, wunderte sich, wo sie war und in was für einen Stoff ihr Gesicht gewickelt war, und schlief wieder ein, ohne etwas an ihrer Lage zu ändern. Erst die Stimme ihrer Großmutter weckte sie wirklich.
»Sieh nur, mein Kind, da kehrt der liebe Straube wieder heim. Nun darfst du nicht mehr weinen, sonst erschreckt er sich womöglich.«
Annette hob das Gesicht aus dem durchnässten Taft, blickte in die großen gütigen Großmutteraugen, stand auf und sah aus dem Fenster. Straube ging durch den Hof. Rechts und links an seinem gelben Flaus baumelte je eine tote Ente. Ludwig Grimm ging neben ihm her. Beide mit langen Pfeifen im Mund und die Gewehre über der Schulter. Hinter ihnen trotteten ihre Pferde. Annette sprang auf und lief zur Tür, riss dabei ein Wollknäuel vom Nähtischchen.
»Herrgott, was ist nur mit diesem Kind?«, rief der Großvater. »Rücksichtslos nenne ich das, rücksichtslos!«
Annette hörte ihn gar nicht. Straube kam zu ihr zurück. Woher wusste die Großmutter bloß, dass er es gewesen war, der ihr so viel Leid bereitet hatte? Sie wusste es eben. Die Bauern nannten sie nicht umsonst eine Heilige.
Nette ließ die Tür hinter sich offen stehen, ohne sich um die Tanten, die heilige Großmutter und den schimpfenden Großvater zu scheren. Straube!
Er lächelte ihr entgegen. Auf seiner runden Brille waren Schlammspritzer. Sie nahm ihm die Enten ab, ohne ein Wort zu sprechen, rannte wortlos mit den Enten ins Haus, hörte, wie Louis Grimm »na, na« zu Straube sagte, und wusste, was für einen Blick er ihm dabei zuwarf. Sie ging in die kalte und etwas finstere Küche und legte die Beute auf den Tisch.
»Enten, sehr schön!«, sagte die dicke Marthe, die am Zwiebelschnippeln war. »Dann will ich mal anfangen. Wird es noch mehr geben?«
Sie schob die Zwiebelschalen mit beiden Händen von ihrem Schoß in einen Holzeimer.
Die beiden Jäger traten ein, lehnten Pfeifen und Gewehre an die Wand.
»Wir brauchen die Enten noch, Louis will mich damit porträtieren«, sagte Straube und stellte sich neben Annette. Ihr Herz klopfte.
Er griff sich die Enten vom Küchentisch.
»Meine ersten selbst geschossenen Enten.«
»Aber wenn die heute Abend auf den Tisch sollen, dann muss ich jetzt anfangen, sie zu rupfen«, sagte die Köchin. »Hier ist es doch sowieso viel zu dunkel und der Herr Grimm wird ja wohl eine Ente aus dem Gedächtnis malen können.«
»Aber nein, Marthe«, rief Annette, »du verstehst es eben nicht. Wenn wir Herrn Straube etwas anderes in die Hand geben als eine Ente, dann nimmt er vielleicht dieselbe Haltung ein wie mit einer Ente, aber es ist doch ein anderes Gefühl in ihm. Es fehlt etwas, das die rechte Kunst ausmacht.«
»Der Herr Grimm ist ein guter Maler«, beharrte Marthe, »er kann das Fehlende ersetzen. Er kann es sich vorstellen. Bitte, Herr Straube, geben Sie mir die Enten, sonst gibt es heute Abend nur Kohl.«
Sie streckte die Hände fast flehend aus, aber Straube wich mit den Enten zurück.
»Ich werde es Ihnen demonstrieren, Marthe«, sagte er, nahm die Brille ab und stellte sich in Positur.
»Ah, seht nur«, sagte Ludwig, »ein Jäger. Ein stolzer Jäger. Beachten Sie das Zufriedene in seinem Ausdruck. Du solltest noch die Pfeife in den Mund nehmen, Wimmer.«
Er setzte seinen Tornister ab, holte Skizzenpapier und Bleistift heraus und zog sich einen Hocker heran. Straube nahm die Enten kurz in eine Hand und stemmte die andere in die Hüfte wie eine Kaffeekanne. Auf die Pfeife verzichtete er. Annette, die Hände hinter sich auf einen Tisch gestemmt und den Unterkörper vorgeschoben, keuchte laut auf vor Überraschung, wie stolz der Wimmer aussehen konnte.
»Ach, muss das denn jetzt in meiner Küche sein«, rief Marthe und setzte einen großen Topf mit Wasser auf das Feuer.
»Es muss, es muss«, rief Ludwig Grimm, »schon im Wohnzimmer sähe Straube nicht mehr halb so stolz aus.«
Straube legte die Enten wieder auf den Tisch und sah sich in der Küche um. Er griff sich zwei kupferne Kellen vom Haken. Hängte sich je eine über den Zeigefinger der rechten und linken Hand und posierte erneut.
»Sehen Sie, Marthe«, rief Grimm, »ohne Enten ist das doch nichts Rechtes.«
»Oh, wie albern die Herren sind«, sagte Marthe, musste aber auch selber lachen. Straube legte die Kellen auf den Tisch und packte wieder die Enten.
»Ich bin ganz schnell«, rief Ludwig Grimm, zeichnete los und skizzierte den Felltornister, die gar nicht vorhandene Pfeife, die Enten, warf mit einigen Strichen Straubes Gesicht auf das Papier und das glückliche Grinsen darin.
»Ich habe Pater Hyacinthus kennengelernt«, sagte Straube, »endlich jemand, der noch schlechter reitet und schießt als ich.«
»Hatte er wieder seine spanische Flinte dabei?«, fragte Nette aufgekratzt.
»Natürlich«, sagte Ludwig, »Pater Hyacinthus ohne seine dicke Brille und die lange spanische Flinte über der Schulter, das ist doch gar nicht vorstellbar.«
»Hat er diesmal etwas getroffen?«
»Seit wann hat Pater Hyacinthus je etwas getroffen? Alle Tiere freuen sich, wenn sie ihn sehen: Ah, Pater Hyacinthus, nun sind wir in Sicherheit. Habe ich eigentlich schon erzählt, wie Pater Hyacinthus einmal auf Ansitz hockte und ihm eine Eule auf den Kopf geflogen ist, weil sie den ganzen Mann für einen Baumstamm gehalten hat? Er hatte sich eine Kapuze über den Kopf gezogen, weil es nieselte. Die Eule blieb da minutenlang sitzen, und Pater Hyacinthus rührte sich nicht, als wäre er tatsächlich zu Holz geworden.«
Nette nahm ihre Lorgnette zur Hand und sah dem Maler über die Schulter:
»Man sieht es gleich, dass hier ein Grimm am Werk ist – die Liebe zum Detail, zum Kleinen und Unscheinbaren.«
»Und das Kleine und Unscheinbare, das soll dann wohl ich sein?«, sagte Straube.
»Ach bitte, die Herrschaften«, jammerte die Köchin, »so werde ich nie fertig. Und wer hat dann nachher den Ärger?«
»Nicht böse sein, Marthe«, rief Annette. »Wenn Herr Grimm fertig ist, helfe ich dir gleich, die Enten zu rupfen.«
»Ich auch«, sagte Straube.
»Ich nicht«, sagte Ludwig Grimm, riss das Blatt von der Unterlage, legte ein neues auf und hielt den Stift in die Luft, als nähme er an Marthe Maß.
»Nein«, rief die Köchin, »nein, nein«, lief rot an und wedelte mit den Händen vor ihrem Gesicht, damit der Maler sich kein Bild von ihr machen konnte. Lachend steckte Ludwig Grimm sich den Bleistift hinters Ohr und ging hinaus.
Annette und Straube wurden von Marthe mit großen Handtüchern anstelle von Schürzen ausgestattet und rupften gemeinsam die Enten. Annette zeigte ihm wie: Die Enten, die Marthe zuvor in heißes Wasser getaucht hatte, zwischen die Knie klemmen und dann mit beiden Händen zuerst die wertvollen Daunen ausrupfen und in den Spankorb legen. Na, und dann irgendwie weiter. Die restlichen Federn kamen auf den Boden.
Sie rupften gemeinsam und Straube erzählte, rupfte und rupfte und erzählte von der Jagd. Davon, wie August zur Abbenburg vorausgesprengt war wie eine Märchenfigur mit seiner wippenden Reiherfeder auf dem Barett, und wer wann was zuerst gesehen und geschossen hatte. Wie Pater Hyacinthus beim Jagen gleich zweimal seine Brille verloren und sich auch sonst unglaublich ungeschickt angestellt hatte. Im Gegensatz zu ihm selber. Gleich zwei Enten in einer knappen halben Stunde.
Annette zeigte freundliche Bewunderung, ließ Straube sich groß und bedeutend vorkommen, wie sich das gehörte. Aber innerlich starb sie tausend Tode. Die Gedichte, Mensch! Die Gedichte! Die konnte er doch nicht vergessen haben. Jetzt war die Gelegenheit. Am Abend würden sie wieder alle über Straube herfallen und auf ihn einreden, und sie würde keine einzige Minute mit ihm allein haben.
Marthe machte sich daran, etwas Angebranntes, das sie eingeweicht hatte, aus einem der Töpfe zu kratzen. Sie sang ein Volkslied, etwas von einem Bauern und Feldern, die bestellt werden mussten, und von Mädchen, mit denen man tanzen musste, wenn man nicht wollte, dass sie weinten. Hin und wieder warf sie Annette und Straube einen Blick zu, und wenn sie im Text nicht weiterwusste, summte sie die Melodie. Der Gesang von Marthe und Annettes Hände, die rupften, und Straubes Hände, die rupften, und braune und graue Federn, die durch die Luft flogen und Straubes Abenteuer auf der Jagd und die plumpen grauen Körper der zunehmend nackten Enten. Aber kein Wort über die Gedichte, und sie durfte Straube doch nicht drängen. Vielleicht hatte er gestern bloß Konversation gemacht. Oder er hatte sein Versprechen vergessen. Er war ein Mann, und Männer vergaßen oft die unwichtigen Dinge, die außerhalb ihrer eigenen Interessen lagen. Und schließlich war es ja auch bereits sehr nett von ihm, dass er hier mit ihr in der Küche saß, statt bei den anderen Männern zu sein. Er rupfte mit ihr die Enten. Und er stellte sich noch nicht einmal ungeschickt dabei an. Fast gleichzeitig waren sie fertig. Marthe nickte zufrieden, als sie die Tiere auf den Tisch legten, und goss Wasser zum Händewaschen in eine Schüssel.
»Ihre Gedichte«, sagte Straube, während er die Hände im Wasser aneinander rieb und dabei auch Annettes Hände berührte, »wann zeigen Sie mir endlich Ihre Gedichte?«
Marthe nahm ein weißes Blechkästchen von dem Sims über dem Herd, öffnete es und tat, als müsste sie überprüfen, ob Stahl, Zunder, Feuerstein und Schwefelfaden noch an ihrem Platz waren.
Die Gedichte. Annette rannte los, wischte sich die nassen, immer noch etwas fettigen Finger unterwegs an einem Dackel ab, der das Unglück hatte, ihr in den Weg zu laufen, rannte in Annas Zimmer und zog das kostbare Schreibheft unter dem Bett hervor, wobei die Schnapsflasche umfiel, die nun wieder Anna dort deponiert hatte. Zum Glück war sie gut verkorkt. Und schon halb leer.
Atemlos kam Nette in die Küche zurück. Straube saß immer noch auf dem Hocker, jetzt ohne Handtuch über den Beinen. Er öffnete das Heft und schlug eine Seite um. Seine Augen wanderten über die ersten Zeilen. Auf einmal schämte sich Annette. Am liebsten hätte sie das Heft wieder an sich genommen, versteckt und niemals wieder hervorgeholt. Straube las in aller Ruhe die Seite zu Ende, blätterte um, las weiter. Annette wand sich beinahe vor Peinlichkeit. Sie begann, ihre Fingernägel zu benagen. Als Straube die nächste Seite umblätterte, schaute er kurz hoch und sie über den Heftrand so lieb an, dass sie sofort aufhörte, sich zu schämen. Es war doch Straube, und Straube war gut, und selbst wenn sich jetzt herausstellen sollte, dass alle ihre Gedichte nichts wert waren, völlig lächerlich waren, so war es einzig Straube, vom dem sie es ertragen konnte, sich so eine Wahrheit sagen zu lassen.
Sie sah ihm über die Schulter, setzte sich die Lorgnette auf die Nase und las durch die etwas fettig gewordenen Gläser mit, was er gerade las.
Nein, sie hielt es doch nicht aus, steckte die Lorgnette wieder ein und schlich um Straube herum und versuchte aus seiner Miene Zustimmung oder Vorbehalte oder Schlimmeres herauszulesen.
Er ließ das Heft sinken.
»Ich will in den Garten gehen und unbeobachtet lesen, damit Sie nicht so leiden. Aber ich kann schon jetzt sagen, was ich bereits vermutete, als ich den Walther las, ja eigentlich schon, seit wir uns das erste Mal ernsthaft unterhalten haben. Sie sind talentiert. Sehr talentiert. Aber lassen Sie mich erst zu Ende lesen, damit ich mir ein gründlicheres Urteil bilden kann. Und dann will ich Satz für Satz die Gedichte mit Ihnen durchgehen. Das heißt, wenn Sie das nicht als Anmaßung empfinden …«
Straube ging hinaus und Annette wartete, bis er auch sicher das Haus verlassen hatte, dann rannte sie die Treppe hinauf in Annas Zimmer, ließ sich auf das gestreifte Sofa fallen, hatte aber nicht die Ruhe, sitzen zu bleiben, und sprang gleich wieder auf. Talentiert! Das Luischen kam herein. Sie war neu auf dem Bökerhof, erst siebzehn, kam aus Brakel und wurde zur Unterscheidung von einer älteren Luise, welche auch im Haus diente, das Luischen genannt.
»Fräulein Anna sagt, ich soll die Steine herausschaffen.«
Unsicher sah das Luischen auf die Steinbrocken, die auf dem Fensterbrett lagen. Das gnädige Fräulein von Hülshoff war merkwürdig, möglicherweise nicht ganz richtig im Kopf. Sie wusste nicht recht, wie sie mit ihr umgehen sollte.
»Ja gut«, sagte Annette. Was scherten sie die alten Steine. »Du kannst sie alle mitnehmen. Das heißt: nein, diese beiden will ich behalten, aber den Rest kannst du verstreuen.«
Sie griff sich den Stein mit den kleinen Zacken und einen besonders schönen Porphyr und das Luischen packte das übrige Geröll in ihre Schürze. Plötzlich stürzte Annette auf sie zu, riss sie an sich und küsste sie auf die Stirn.
»Ach Luischen, Luischen! Vergiss nie, wie schön das Leben ist.«
»Nein, gnädiges Fräulein«, sagte das Luischen, das gar nicht wusste, wie ihm geschah, »das tu ich gewiss nicht.«
Und dann nichts wie raus, bevor die Irre wieder einen neuen Einfall hatte. Aber es war schon zu spät.
»Luischen, liebes Luischen, Herzenskind, weckst du mich morgen früh wieder um vier? Nicht verschlafen! Der Tag soll schön werden. Ich muss hinaus.«
»Um vier, Fräulein? Schon wieder?«
»Ja, ich will in den Steinbruch. Und niemand soll es bemerken.«
»Aber ich muss heute sehr lange arbeiten und dann bin ich von der Tagesarbeit so müde. Ich bitte Sie, nehmen Sie mir nicht meinen Schlaf. Und das Fräulein hat doch auch wieder so gehustet.«
»Ach bitte, Luischen, wenn ich dich nun recht schön bitte, willst du es mir immer noch abschlagen?«
»Nein, gnädiges Fräulein, dann muss ich Sie wohl wecken.«
»Ich wusste es doch!«
Erneute Umarmung.
»Und bring mir heute Abend eine schöne große Tasse frischer Schafsmilch ans Bett.«
Sie drückte sie an sich und küsste sie auf beide Schläfen.
Lange hielt Annette es nicht im Zimmer aus. Sie lief ebenfalls in den Garten, machte jedoch einen großen Bogen um das Boskett, in dem sie Straube vermutete, und lief weiter, immer weiter bis zum Roggenfeld. Heinrich Straube las ihre Gedichte! Das größte Genie der Gegenwart – abgesehen von Goethe natürlich – las ihre Gedichte! Talentiert, hatte er gesagt.
Sie setzte sich auf einen Baumstumpf, machte ihr Kleid dabei dreckig, bemerkte erst jetzt, dass sie immer noch den Lappen trug, den ihr Marthe als Schürze gegeben hatte, und musste laut auflachen. Aber dann dachte sie wieder an Straube, wie er gerade im Schatten einer grünen Laube saß und ihre Verse las. Sie nagte an den Nagelresten ihres kleinen Fingers, nagte sie bis auf die Haut herunter. Als es beim besten Willen keinen Nagel mehr für ihre Zähne gab, benagte sie die Haut darunter, zog sie in kleinen Fetzen ab, bis Blut kam. Und wie! Es hörte gar nicht wieder auf zu bluten.
Zwei Knechte gingen vorbei, die Hacken über den Schultern, zogen ehrerbietig die Mützen.
»Es ist das Fräulein aus Hülshoff«, sagte der eine, als sie außer Hörweite waren, »ihre Hand hat geblutet. Sollten wir nicht fragen, ob sie Hilfe braucht?«
»Wer weiß, was es damit auf sich hat«, erwiderte der andere. »Sie ist doch eine Zauberjungfrau.«
»Wie kommst du denn darauf?«
»Hast du nicht gehört, wie sie eben gelacht hat? Dabei ist sie hier völlig allein. Der Gero hat sie Wasser treten sehen. Quer über den ganzen Weiher soll sie gelaufen sein, ohne auch nur nasse Füße zu kriegen. Eine Zauberjungfrau eben.«
Sie setzten ihren Weg fort und hinter ihren Füßen wirbelte Staub auf, der in der Luft stehen blieb. Annette sah ihnen nach, bis sie aus ihrem Blickfeld verschwanden. Dann hielt sie es nicht mehr aus und ging Straube suchen.
Er saß im Boskett. Wo sonst. Das Heft lag in seinem Schoß und er blinzelte in die Sonne. Ohne ein Wort zu sagen, setzte sie sich neben ihn und legte ihr allergeduldigstes Gesicht auf. Auf gar keinen Fall durfte sie ihn jetzt mit Fragen überfallen. Straube selber musste den ersten Schritt tun. Warum sagte er nichts und lächelte nur so still vor sich hin? Hoffentlich hatte er nicht seine Meinung geändert, hoffentlich war er am Ende nicht doch noch enttäuscht gewesen und überlegte gerade, wie er es ihr am schonendsten beibringen sollte.
»Sie sind außerordentlich«, sagte Straube. »Ihre Gedichte sind außerordentlich.«
Annette atmete ein und aus.
»Ich erkenne das Talent von August und Werner wieder, aber Sie übertreffen die beiden bei Weitem. Sie müssen diese Gedichte ihren Onkeln zeigen. Gerade Werner wird begeistert sein.«
»Werner?«, sagte Annette, »Onkel Werner darf ich gar nichts zeigen. Ich habe ihm zwei Gedichte zu lesen gegeben, und daraufhin hat er erst einmal eine Stunde auf mich eingeredet, wie peinlich und fehlerhaft sie wären. Das macht er immer. Egal, was ich schreibe, er redet mir alles so niederträchtig schlecht, dass es kein Schwein mehr fressen will. Und August verbittet es sich überhaupt, mit meinen Schmierereien belästigt zu werden.«
Straube schüttelte den Kopf.
»Was hat denn Sprickmann dazu gesagt?«
»Die Gedichte kennt er gar nicht. Seit er in Breslau ist, scheint er mich vergessen zu haben. Seine Antworten lassen immer länger auf sich warten. Ich habe ihm im Januar den Walther geschickt und warte immer noch auf seine Kritik. Ich weiß nicht, ob ich überhaupt noch eine bekommen werde. Jenny hat den Walther vier Wochen lang für ihn abgeschrieben. Ich selber konnte ja nicht – wegen meiner Augen. Vier Wochen! Und jetzt hat Sprickmann ihn vielleicht gar nicht gelesen.«
»Schicken Sie ihm die Gedichte«, sagte Straube. »Schicken Sie ihm die Gedichte, und er wird sofort antworten. Nichts gegen ihren Walther. Er hat mir gefallen und ist ganz und gar bemerkenswert für ein so junges Fräulein, aber die Gedichte … nun, die Gedichte sind … – jedenfalls wird Sprickmann Ihnen dann antworten. Wollen wir die ersten Verse einmal gemeinsam durchgehen?«
Als August gegen Abend das Boskett aufsuchte, saßen Straube und Annette dort dicht nebeneinander und nahmen Zeile für Zeile und Vers für Vers die geistlichen Gedichte auseinander. Das Abendlicht hatte sie in Bernstein gegossen und ein leichter Wind spielte mit Annettes Locken. Nun stand Straube auch noch auf, griff zu Augusts Entsetzen nach Annettes Hand und zog sie ebenfalls hoch. Einen Moment befürchtete August, Straube wolle seine Verlobung mit ihr bekannt geben, aber dieser Gedanke war ja völlig absurd.
»Hier siehst du das größte literarische Talent, dem ich je begegnet bin«, sagte Straube auch stattdessen und ließ Annettes Hand wieder los. »Deine Nichte ist talentierter als die ganze Poetische Schusterinnung zusammen.«
August schnappte nach Luft.
»Was?«, sagte er und wandte ihm das linke Ohr zu. Er hielt sogar die Hand dahinter.
»Du hast schon ganz richtig gehört.«
August musste ein paarmal schnaufen.
»Lieber Wimmer, jetzt mal langsam. Du weißt, wie sehr ich deine Meinung schätze, aber hier vergaloppierst du dich gerade. Glaube mir, ich kenne meine Nichte schon viel länger als du, und sie schreibt tatsächlich sehr schöne Gedichte. Aber würde sich in ihr ein außerordentliches Talent verstecken, ich hätte es wohl als Allererster entdeckt.«
»Kein Wort weiter«, drohte Straube, »jedes Wort, das du gegen Annettes Talent sprichst, richtet dich bloß selber. Lies erst ihre Gedichte.«
Das Blut floss langsam wieder aus Annettes Gesicht und machte einem blühenden Rosa Platz. Es war wie in einem der Märchen, die Jenny so eifrig für Wilhelm sammelte, wie in jenem Moment, in dem der Prinz das Aschenputtel vom Boden aufhob und vor sich auf das weiße Pferd setzte. Und August war so etwas wie die böse Stiefmutter. Nun musste er endlich einsehen, wie sehr er sie bisher unterschätzt hatte.
August räusperte sich.
»Ich kenne sie schon. Werner hat mir zwei davon gezeigt. Sie sind ja wohl als Geschenk für meine Mutter gedacht und diesen Zweck erfüllen sie auch recht gut, aber im Großen und Ganzen fand ich sie doch – nun, ich möchte nicht sagen stümperhaft, aber doch fehlerhaft und banal.«
Die böse Stiefmutter, so war sie eben.
»Ach was«, rief Straube, »keine Fehler! Da gibt es vielleicht noch die eine oder andere kleine Unebenheit zu bereinigen, aber der Entwurf selber – er zeugt von einem starken, unverwechselbaren Geist. Alles, was deiner Nichte fehlt, ist ein wenig Schliff. Zwei Jahre vielleicht noch, ach, was sage ich: ein Jahr höchstens – und wir werden uns alle in Ehrfurcht vor ihr verneigen.«
Sie redeten, als würde sie gar nicht neben ihnen stehen.
»Mir scheint eher, du hast einen Narren an meiner Nichte gefressen«, sagte August, »sieh nur zu, dass du darüber nicht deine Kunst vernachlässigst. Und jetzt kommt zum Abendbrot. Ihr wisst doch, dass mein Vater nicht warten mag. Darf ich unserem kleinen Genie den Arm reichen?«
Er sah Annette zum ersten Mal an. Sie erkannte sofort, dass er litt. Da konnte er noch so süffisant lächeln. Er litt. Oh, wie er litt! Und das geschah ihm recht! Wie süß es war, ausgerechnet von jenem Dichter bewundert und hofiert zu werden, den August für das größte lebende Genie hielt.
»Ich habe beschlossen, die Volksliedersammlung im nächsten Jahr herauszugeben«, sagte August, »eine dreigeteilte, historisch-kritische Ausgabe. Zuerst die hundert schönsten Liedtexte mit ihren Melodien – die hundert schönsten, sowohl was ihre Poesie als auch was die Gesinnung betrifft. Sie werden natürlich im Dialekt abgedruckt, auf das Treueste, mit allen sogenannten Sprachfehlern. Dann ein Anmerkungsteil mit einem Variantenverzeichnis. Und als Appendix die Abhandlungen namhafter Philologen über den Charakter des Volksliedes. Ich werde alle bedeutenden Männer auffordern, ihre Ansichten in dieser Sache beizutragen. Historische Untersuchungen über das Alter einzelner Volkslieder, ihre Verbreitung, ihren epischen Charakter, philosophische Ansichten, wie sie sich zur Religion, zum Aberglauben oder zur Poesie des Altertums verhalten. Solch eine Sammlung kann nicht die Sache eines einzelnen Menschen sein. Vorerst …«
Er hörte gar nicht auf zu reden, sprach wie gehetzt, bis sie am Abendbrottisch angekommen waren.
Ein neuer Tag brach an. Frühstück, ein langer Spaziergang mit Tanten, Onkeln, den Grimms und allen sonstigen Gästen, wobei Annette heimliche Blicke des künstlerischen Einverständnisses mit Straube tauschte. Nachmittags der übliche Zeitvertreib: gemeinsames Singen, Spiele, Blumenpflücken, angeregte Gespräche, und immer wieder gab Straube die hohe Meinung, die er von ihr hatte, zum Besten – vor allen anderen. Immer wieder Lob und Lob, und Augusts entsetztes Gesicht, und Werners fassungsloses Gesicht, und Nettes Triumph.
Es war, als finge jetzt erst das richtige, das eigentliche Leben an. Und Augusts erbärmliche Versuche, es ins Lächerliche zu ziehen. Er machte Anspielungen auf die Treibhäuser, in denen sie wohl die Gedichte besprochen hätten, und das wüsste man ja, wie sehr einem die schwüle Luft in den Treibhäusern aufs Gehirn drücken könnte – hehe. Dabei war August es, der dafür berüchtigt war, mit Kammerzofen oder Mägden in die Treibhäuser zu gehen. Trotzig verschränkte Nette die Arme. Ja, es war Liebe, was sie für Straube empfand. Liebe und Dankbarkeit. Wer sollte diesen braven Kerl nicht lieben? Aber ihr Gefühl war vollkommen rein. Das hatte nichts mit irgendwelchen Treibhäusern zu tun. August war manchmal wirklich ein Schwein.
Erst kurz vor dem Abendbrot hatten Nette und Straube endlich einen Augenblick für sich allein. Sie saßen unter Ludowinens Linde und es geschah nicht mehr, als dass Straube ihr eine grün glänzende Feder schenkte, die er gestern beim Entenrupfen eingesteckt hatte.
»Die will ich in mein Schatzkästlein tun, zur Erinnerung an diesen Tag«, sagte Annette und drehte die Feder in ihrer Hand.
»Habt Ihr denn wohl auch etwas für mich?«
Kurz war Annette versucht, in Annas Zimmer zu laufen, um die schwarz-gelbe Feder zu holen, die ein Pirol im Wald verloren hatte. Aber dann begriff sie gerade noch rechtzeitig und senkte den Kopf, ganz Frau. Straube nahm sein Jagdmesser aus der Flaustasche, ein sehr kleines, aber es hatte einen scharfen Schliff. Straubes zitternde Hände näherten sich ihrem Nacken. Ganz leicht war das, wie ein Windhauch. Eigentlich berührte er gar nicht den Nacken selbst, sondern wohl nur die feinen Flaumhärchen dort, die sich sogleich aufstellten. Ein Schauer überlief ihren Hinterkopf und den Rücken herunter, ganz leicht, aber doch so mächtig, dass sie sich zusammenreißen musste, um sich nicht zu schütteln. Das war schrecklich und schön zur gleichen Zeit, und sie glaubte, noch nie so ein angenehmes Geräusch gehört zu haben wie das leichte Sägen des Messers an ihrer Locke, ein Wispern und Scharren, und dann der kalte Stahl, der kurz ihren Hals berührte, und Straubes Finger, die die Locke anhoben und dessen trockene Spitzen dabei über ihre Haut strichen, eine Berührung subtiler als ein Gedanke.
»So schön Ihre geistlichen Gedichte sind«, sagte Straube, »sie machen trotzdem den Eindruck, als ob die Religion Sie nicht innerlich zu befreien und fröhlich zu stimmen vermag. Vielleicht erzählen Sie mir einmal – wenn wir uns besser kennen –, was Sie so schmerzt. Leider muss ich ja morgen schon fort.«
Sie sah ihn an. Straube küsste die Locke, wickelte sie in ein Tuch und steckte sie in seine Flaustasche. Nun waren sie Herzensfreunde. Für immer.
Aber dann kam der nächste Morgen, Straubes letzter Morgen im Bökerhof, als er sie in den Steinbruch begleitete, so schön zuerst, das gemeinsame Hacken und Suchen und Finden. Pyrite, Quarze, dann sogar noch ein Amethyst, sie hatte gar nicht gewusst, dass es die hier gab, und am Ende räumte Straube ein, dass er den Amethyst aus Augusts Sammlung mitgenommen und für sie ausgelegt hatte. Wie sie lachten. Doch dann bestand Straube darauf, mit ihr in eins der Treibhäuser zu gehen – als müsste er August rückwirkend unbedingt doch noch recht geben. Da war es dann freilich nicht mehr so schön. Im Treibhaus begann sein schmutzig-gelber Flaus wieder zu stinken. Überhaupt roch der ganze Mann, als er plötzlich so nahe vor ihr stand, säuerlich und verraucht. Er dünstete die Getränke der vergangenen Nacht aus. Straube griff nach ihrer Hand, näherte sein Gesicht mit der krummen Nase dem ihren. Sie wich zurück. Großer Gott, sein Eckzahn war ganz gräulich und mit einem Krakelee überzogen, als wollte er gleich in tausend Stücke zerbröseln. Manchmal war es ein Fluch, dass sie in der Nähe so überdeutlich sehen konnte.
»Wussten Sie, dass die Gegend hier ursprünglich eine leicht erhöhte wüstenartige Fläche gewesen ist?«, versuchte Annette das Gespräch wieder auf die Mineralogie zu bringen. »Und dann wurde sie vom Meer überspült. Die Ablagerungen von Ton, Gips und Steinsalz …«
Er küsste sie, versuchte es jedenfalls. Sein unrasiertes, vorstehendes Kinn schabte über ihre Wange. Seine Nase wischte über ihr Gesicht. Nicht nur, dass er von der Natur mit keinerlei Zeichen äußerer Schönheit ausgestattet war, er hatte auch noch Haare in den Nasenlöchern. Straube räusperte sich und nahm einen zweiten Anlauf. Was für ein Tollpatsch! Die Brille war ihm im Weg, fast hätte er sie verloren. Ein Narr war er, ein unwürdiges Subjekt. Seine Lippen pressten sich auf die ihren, überraschend weich und trocken tasteten sie über ihren Mund. Ein kleiner Schauer durchfuhr sie. Annette konnte gerade noch ein Zucken unterdrücken, öffnete den Mund etwas weiter und etwas Weiches, Nasses, es musste die Spitze seiner Zunge sein – was tat er da bloß, war er völlig verrückt geworden? –, schob sich über ihre Unterlippe. Gott sei Dank zog er seine Zunge gleich wieder zurück, und dann blickte er sie mit einer so hündischen Dankbarkeit an, dass sie nicht anders konnte, als ihn mit den Augen ihrer Mutter zu sehen, den lächerlichen, kleinen Mann mit dem großen Talent, der so ganz und gar unpassend war. Der einfach nicht gut genug für sie war.
»Das hätte ich mir niemals zu träumen gewagt«, flüsterte Straube. »So viel Schönheit, so viel Klugheit, so viel Talent und ich … Sie bedeuten mir alles.«
Da war es wieder, das Glück, geschätzt und verstanden zu werden. Wer verstanden wurde, konnte auch lieben. Sie musste sich nur erst ein wenig an Straube gewöhnen.
Und dann war Straube fort, war mit Wilhelm Grimm zusammen abgereist. Auch Ludwig war mit seinem Erdmännchen im Tornister wieder zur Hinnenburg zurückgeritten. Annette richtete sich auf gemächliche Tage ein, die sie mit dem Schreiben von Gedichten, mit Exkursionen in den Steinbruch und mit Briefen an Straube füllen wollte. Ihre Rückkehr nach Hülshoff wurde noch einmal verschoben – auf das Frühjahr. Die gute Luft in Bökendorf tat so viel für ihre Genesung, dass es verantwortungslos gewesen wäre, den heilsamen Prozess zu unterbrechen. Statt ihrer schickten die Haxthausens Caroline nach Hülshoff und freuten sich des guten Tausches.
Aus Annettes gemächlichen Tagen wurde allerdings nichts. Zum einen heulten die beiden Haxthausen’schen Dackel Tag und Nacht, seit der Maler abgereist war, und dann kamen ständig Briefe von der Obristin Decken an, schwärmerische, schmeichlerische Briefe, einmal gleich zwei in einer Woche, die alle Anspruch auf eine Antwort hatten. Zu Weihnachten schickte die Obristin sogar einen goldenen Ring, in den sie eine geflochtene Strähne ihres schwarzen Haares hatte einarbeiten lassen. Da war Annette gerade in Wehrden und feierte das Christfest mit Kindergeschrei, Klavierspiel und Tante Dorlys trostreichen Sprüchen zu allen Gelegenheiten. Das unaufhörliche Karussell der Verwandtenbesuche drehte sich wieder. Trotzdem war es Annette gelungen, einige geistliche Lieder zu schreiben, und die Großmutter bekam das versprochene Album. Ob auf dem Bökerhof, auf Abbenburg, auf Hinnenburg oder in Wehrden, die Männer redeten jetzt nur noch von Politik. Die Karlsbader Beschlüsse. Das bedeutete vor allem Pressezensur. War das nun gut oder schlecht? Liberale Zeitungsartikel und nationale Pamphlete hatten schließlich lange genug die bestehende Ordnung unterspült. Und was war dabei herausgekommen? Ein erstochener Dichter.
August fiel es immer schwerer, seinem ehrwürdigen Vater nicht zu widersprechen. Der ermordete Kotzebue konnte doch nicht der Vorwand dafür sein, die Burschenschaften zu verbieten und die stolzen Universitäten unter Aufsicht zu stellen. Überhaupt: Was wollte ihm der Alte über Zucht und Ordnung erzählen, nachdem er ihm die Wirtschaftsbücher des Gutes in solch heillosem Durcheinander übergeben hatte?
Anfangs hatte August noch geglaubt, dass er irgendwann einmal nach Göttingen zurückkehren und seine Studien beenden könnte. Doch die Wirtschaftsbücher verhießen eine Lebensaufgabe. Aber das war nun auch schon egal. Es gab sie ja ohnehin nicht mehr, die lustige Studentenzeit. Nur noch einen Überwachungsstaat. August hängte seine Altdeutsche Tracht in den Schrank.