Wie das alte Jahr geendet hatte, so begann auch das neue. Bevor man es sich im Bökerhof richtig gemütlich machen konnte, ging es für acht Tage zur Abbenburg. Onkel Fritz war wie stets zum Jahreswechsel etwas melancholisch, redete viel von seiner unerfüllten Jugendliebe Therese von Boeselager-Heeßen und rauchte noch mehr als sonst. Es war ihm aber offensichtlich ein so dringendes Bedürfnis, dass ihm niemand böse sein konnte. Auch wenn alle etwas gelb um die Nase waren, als sie heimfuhren. Onkel Fritz hatte Nette das fuchsfarbene Fohlen geschenkt, das sich vielversprechend entwickelt hatte und ein hübsches kleines Damenreitpferd zu werden versprach. Es wurde hinten an die Kutsche angebunden, wobei es den Kutscher als Erstes gleich in die Hand biss. Bei nächster Gelegenheit sollte es dann weiter nach Hülshoff gebracht werden.
Kaum hatte man den Tabakgeruch einigermaßen aus den Kleidern bekommen, da ging es schon wieder zu Tante Dorly. Schnell, schnell ein paar Dinge in den Reisesack geworfen, die Equipage stand schon auf dem Hof und wieder knallte der Kutscher mit der Peitsche und die Pferdehufe klapperten über das Pflaster.
Annette hoffte, nun endlich ein paar Stunden für das Schreiben abzweigen zu können, aber die hochschwangere Tante Dorly rief ihr schon bei der Ankunft entgegen: »Ein Brief, Nettchen, ein Brief für dich. Kind, denk dir nur: Du sollst ein Konzert geben – auf dem Rathaus in Höxter. Wir kommen natürlich auch alle hin – mit Thereschen.«
»Oh Gott«, sagte Annette. »Ein Konzert? Und ich soll singen? Allein?«
»Nein, nein, du wirst mit der Vennewitz Duett singen.«
Annette zerrte ihre Reisetasche aus der Kutsche, ohne auf den Diener zu warten. Der Schweiß stand ihr auf der Stirn.
»Vennewitz? Wer ist denn die Vennewitz?«
»Na, Madam Vennewitz! Die Tochter des Weinhändlers, du hast sie doch zu Weihnachten kennengelernt.«
»Ich singe mit der Frau eines Weinhändlers?«
»Nicht irgendeines Weinhändlers! Vennewitz von Tannenburg – die Vennewitz. Sie haben die Domäne gepachtet.«
»Oh Gott, diese bunte Frau!«
»Still jetzt«, zischte Tante Dorly und legte eine Hand schützend auf ihren Bauch, »da kommt Onkel Philipp. Er hat das doch alles für dich organisiert und wenn er mitbekommt, wie undankbar du bist …«
»Schon gut«, sagte Annette und ließ erschöpft den Reisesack neben sich zu Boden sinken. »Ich werde es ja machen. Was soll ich denn singen?«
»Die Noten sind im Brief«, sagte Tante Dorly, »du schaffst es doch bis Mittwoch?«
»Mittwoch? Das sind keine drei Tage!«
Annette schnappte nach Atem. Nicht aufregen, sie durfte sich nicht aufregen, erstens, weil sich das nicht gehörte, und zweitens würde sie dadurch womöglich wieder einen Brustkrampf auslösen. Aber es war nicht ganz einfach.
Sie verzog sich in den runden Turm, in das mittelalterliche Zimmer, packte erst einmal den Koffer aus und klatschte sich Wasser ins Gesicht. Dann stellte sie sich ans Fenster und sah hinaus. Ein beruhigend breiter Wiesenstreifen trennte die Flutmauer nun von dem Fluss. Jenseits der Weser dehnte sich der Solling mit einem rauchenden weißen Schloss auf seinem Rücken. Das Schloss war jetzt eine Porzellanfabrik. Von dort zog sich eine Fahrstraße zum Ufer herunter. Ein armes Pferd schleppte einen zweirädrigen Wagen bergan, und das Schnalzen der Peitschen klang bis zu Nette ins Turmzimmer. Keine Minute würde sie für sich haben, weder heute noch in den nächsten beiden Tagen, nicht für die Arbeit an weiteren Gedichten, geschweige denn, um Steine zu klopfen oder sich auszuruhen. Was stand sie hier noch rum? Am besten sie ging gleich wieder ins Schloss und setzte sich ans Klavier.
Nette hatte nicht genug Luft, um kraftvoll und ausdrucksstark zu singen, aber wenigstens die Worte und die Melodie konnte sie so schon einmal üben. Dort, wo die Luft fehlte, summte sie einfach weiter und schlug dafür umso lauter in die Tasten. Allmählich gingen alle zu Bett, nur Nette übte immer noch weiter. Der Hausknecht Friedrich stellte ihr eine Kerze aufs Klavier. Sie übte bis spät in die Nacht, so lange bis Landrat Philipp von Wolff-Metternich in Nachthemd und Schlafmütze herüberkam und verlangte, dass sie endlich Ruhe gebe. Im Übrigen, so fügte er versöhnlich hinzu, klinge es doch bereits sehr schön. Vielleicht ein bisschen laut, wenn sie nur etwas weniger rabiat in die Tasten greifen könnte, er habe morgen eine wichtige Besprechung und ihrem Vortrag am Mittwoch in Höxter würde eine Pause sicher auch zugutekommen.
Am nächsten Morgen war die Stimme wieder da und der Landrat außer Haus. Annette probierte den ganzen Tag, sodass am Abend alle übereinstimmend erklärten, das sei jetzt richtig schön und Annette werde gewiss glänzen. Dann traf ein Bote aus Höxter mit einem Brief ein: Man habe sich leider versehen, Madame Vennewitz hätte die andere Stimme einstudiert.
»Wie soll ich das schaffen«, keuchte Annette. »Ein einziger Tag noch und ich muss wieder ganz von vorn anfangen.«
»Ich bin felsenfest davon überzeugt, dass du es schaffen wirst«, sagte Tante Dorly munter. »Du wärst nicht mein Nettchen, wenn nicht. Den anderen Teil hast du doch auch an einem Tag gelernt.«
Annette fing wieder von vorn an. Die Erstickungsanfälle schenkte sie sich diesmal. Sie hatte einfach keine Zeit dafür. Bis übermorgen musste das sitzen, und ein Versagen gehörte nicht zu den Optionen.
Am Mittwoch rollte die Wolff-Metternich’sche Kutsche mit Annette, Onkel Philipp und Tante Dorly samt den Cousinen, Therese, Maria, Adolphine und Sophie in Höxter ein. Das Klavier war bereits am Abend zuvor vorausgefahren. Man hatte es Annette unter den Fingern fortziehen müssen.
»Hier war mal ein mittelalterliches Stadttor«, sagte Tante Dorly, als sie den mit Laken und Wäsche gesprenkelten Wall passierten, »alles reißen sie jetzt ab und das …«, sie zeigte auf die beiden Sandsteinpfeiler, durch die sie rollten, »soll dann etwas sein.«
Zwischen üppig verzierten Fachwerkhäusern mit goldbraun glänzenden Plattendächern hindurch ging es zum Rathaus.
Annette trug ein neues Kleid, wieder mal blau, hellblau diesmal, aber mit doppelter Borte am Saum, das sie allerdings in der Kutsche schief gesessen hatte, weswegen Tante Dorly jetzt unaufhörlich an ihr herumzupfte und den Stoff zwischen ihren warmen Händen zu glätten versuchte.
Die kleine, zierliche Gestalt von Madame Vennewitz wartete bereits im Rathaussaal neben Onkel Philipps Klavier. Sie war eine Erscheinung. Das Kleid bestand aus leuchtend grünem Stoff, die Taille saß schon beinahe in der Körpermitte und der Saum war so breit, wie man es lange nicht mehr gesehen hatte. Annette setzte ihre Lorgnette auf die Nase: drei Lagen Rüschen bereits am Saum, zwei an der unerhört weit ausgeschnittenen Schulter, und über die ganze Länge und Breite waren Schleifen und Bänder und Blüten in Rosa und Hellblau verteilt. Die Damen gaben einander die Hände – die der Vennewitz waren milchweiß und schlaff – und versicherten, wie sehr sie sich freuten und geehrt fühlten, miteinander singen zu dürfen.
Herr Becker, der sie auf dem Instrument begleiten sollte, war allerdings noch nicht eingetroffen, und so setzte Annette sich vorläufig selber an die Tasten. Zu ihrer großen Erleichterung stellte sie fest, dass die Vennewitz gar nicht so gut sang, wie alle behaupteten. Sie selber sang weit besser. Mit dieser Erkenntnis kam eine große Ruhe über sie. Dann allerdings – sie hatten kaum angefangen – sangen sie plötzlich in völlig unterschiedlichen Tonlagen, wenn es nicht sogar unterschiedliche Melodien waren.
»Bitte, Madame Vennewitz, hier geht der Ton hoch. Sie müssen eine halbe Oktave hoch.«
»Nein, das kann ich nicht.«
»Wie bitte?«
»Ich kann nicht so hoch singen, deswegen habe ich die Stelle ja geändert. Ich singe einfach genauso weiter wie in der Strophe zuvor.«
»Oh«, sagte Annette. Sie fasste sich, atmete ruhig und gleichmäßig, jetzt nur nicht krampfen. »Das hätte ich vielleicht wissen sollen. Denn dann muss ich an dieser Stelle auch anders singen.«
»Ich gehe noch mal hinaus«, sagte der Metternich-Onkel, »mal sehen, ob Fritz und Carl schon eingetroffen sind.«
Er eilte davon.
»Und hier, das Ende der dritten Strophe werde ich auslassen«, erklärte die Vennewitz, »da verhaspele ich mich immer im Text.«
Annette schloss die Augenlider und atmete tief durch.
»Gut, dass Sie es sagen. Denn es wäre ja von Vorteil, wenn ich wüsste, wann mein Einsatz kommt.«
Die Volants am weiten Rock der Vennewitz zitterten vor Empörung.
»Wollen Sie sich über mich mokieren? Die Stellen sind mir nun einmal zu schwer. Ich habe mich überreden lassen, hier mitzusingen, aber wenn ich das tun soll, dann bitte zu meinen Bedingungen. Ab einer gewissen Höhe klingt meine Stimme nicht mehr schön.«
Annette lächelte süffisant.
»Aber gewiss, wir machen es genau so, wie Sie es wünschen. Ich werde mich Ihnen vollkommen anpassen. Gibt es noch weitere Veränderungen, von denen ich wissen sollte?«
Die Vennewitz holte zu einer scharfen Antwort aus, aber in diesem Moment betrat Herr Becker, die Klavierbegleitung, den Rathaussaal.
»Untröstlich, meine Damen, ich bin untröstlich, aber ich fürchte, Sie werden ohne mich auskommen müssen.«
Annette ließ die Finger schwer auf die Tasten sinken. Das Instrument gab einen resignierten Moll-Ton von sich.
»Nein«, rief Tante Dorly, »nein, das können Sie uns nicht antun.«
»Ich fürchte doch«, sagte Becker und nahm seinen Zylinder ab, drehte ihn verlegen in der Hand. »Ich habe jetzt drei Tage lang geübt, aber das Stück überfordert leider meine beschränkten Fähigkeiten.«
»Dann musst du spielen«, sagte Tante Dorly zu Annette, »du hast es ja gestern und vorgestern sowieso schon geübt.«
»Aber doch nur die Singstellen«, sagte Annette, »die Zwischenspiele habe ich alle überschlagen. Davon war schließlich nicht die Rede, dass ich jetzt auch die Begleitung übernehmen soll. Ich bin doch schon froh, dass ich in der kurzen Zeit überhaupt den Gesang gelernt habe.«
»Aber ich kann es auch nicht«, rief Herr Becker verzagt. »Ich kann es einfach nicht.«
»Ach was, Firlefanz«, sagte Tante Dorly, stemmte die Hände in den Rücken und schob den Bauch vor, »jetzt setzen Sie sich doch erst einmal ans Klavier, lieber Herr Becker, und dann wird es schon gehen. Wer nicht wagt, der nicht gewinnt.«
Annette stand vom Schemel auf und Becker nahm Platz, Er warf einen ängstlichen Blick in die Runde. Die Metternich-Töchter kicherten.
»Spielen Sie!«, sagte Tante Dorly herrisch und sah ihre Mädchen scharf an.
Becker spielte. Er machte seine Sache sehr schlecht, konnte das Tempo nicht halten und schlug zu allem Überdruss auch noch zweimal die falsche Taste an.
»Noch einmal«, sagte Tante Dorly. »Mit etwas mehr Konzentration.«
Becker hieb erneut in die Tasten.
»Na gut«, sagte Tante Dorly, »es lässt sich nicht ändern. Du wirst spielen müssen, Nettchen. Du schaffst das schon.«
Becker stand verlegen auf, und Annette ließ sich auf den Klavierschemel sinken. Da war es wieder, das Pressen in der Brust, die Unfähigkeit, Luft in die Lunge zu bekommen, und die Schwierigkeit, auszuatmen. Als würde eine Würgeschlange ihr die Rippen zusammendrücken. Annette atmete langsam und konzentriert aus, versuchte so viel Atem wie möglich herauszupressen, aber bevor sie die Lungenflügel mit neuer, guter, frischer Luft füllen konnte, hatte die Schlange sich wieder ein klein wenig enger um ihren Brustkorb gezogen, genau um das Maß, das sie ausgeatmet hatte. Abermals stieß sie keuchend ein winziges Quantum aus und wieder enger und wieder keine Luft, ein substanzloses Husten überfiel sie. Um sich von der Panik, die sie zu überrollen drohte, abzulenken, zwang sie sich, das Firmenschild auf dem Klavier anzusehen und alles andere auszuschalten. Dazu musste sie sich allerdings so weit vorbeugen, dass es auf die Umstehenden befremdlich wirkte. ›Johann Melchior Quante‹, stand dort, ›Instrumentenmacher zu Münster in Westphalen‹.
»Ist dir nicht gut, Kind«, sagte Tante Dorly. »Warte, gleich wird es besser.«
Sie holte ein Fläschchen und ein Taschentuch aus ihrem Beutel und tupfte ihrer Nichte ein wenig Kölnisch Wasser unter die Nase. Annette versuchte einzuatmen, bekam dabei aber so wenig Luft, dass sie den Mund aufreißen und japsen musste, wobei ein jämmerlich quäkender Ton wie von einem defekten Blasebalg aus ihren Lungen kam.
»Überhaupt keine Sache, überhaupt keine Sache«, sagte Tante Dorly noch munterer und blätterte das Notenheft um, »mein Nettchen schafft das. Die Zwischenspiele hast du doch bestimmt früher schon einmal gespielt, ganz und gar unbekannt sind sie dir nicht. Es ist noch genug Zeit, um sie einmal zu üben. Die Strophe, die ihr auslasst, da lege ich einfach meine Einladungskarte über die Seite und klemme sie mit meiner Haarspange fest, dann kommst du gar nicht erst in Versuchung, sie zu spielen oder zu singen. Und wenn du vergessen solltest, an welchen Stellen du deine Stimme der von Madame Vennewitz anpassen musst, ist das auch nicht so schlimm, es macht einen sehr interessanten und eigentümlichen Effekt, wenn ihr so aneinander vorbeisingt, das Publikum wird denken, ihr macht das mit Absicht.«
»Hier«, sagte Herr Becker und kam mit einem geschliffenen Glas und einer Karaffe Weißwein an, »trinken Sie das, dann geht es wie von selbst.«
Er stellte beides auf Onkel Metternichs nagelneues Klavier, ohne dass Tante Dorly dagegen Einspruch erhob, schenkte ein, und Annette stürzte das Glas in einem Zug herunter.
Anderthalb Stunden später wurden sie sehr beklatscht. Verdient beklatscht. Das Geräusch in ihrer Lunge war verstummt, der Krampf hatte sich gelegt, und selbst in ihrem angeschlagenen Zustand hatte Annette immer noch doppelt so gut gesungen wie die Vennewitz. Die Höxteraner waren außer sich vor Begeisterung. Es gab stehende Ovationen.
Selbst August und Werner kamen gleich nach dem Auftritt, um zu gratulieren. Werner wie immer schlicht im eleganten, aber etwas veralteten Gehrock, August trug einen moosgrünen Rock mit kleinem Stehkragen, der vom Schnitt noch ganz entfernt an einen Waffenrock erinnerte. Die mittig dicht gesetzten Knöpfe hatte er geöffnet, sodass darunter ein weißes Hemd mit einem großen Umlegekragen zutage trat, der so weich war wie die alte Zeit.
»Sehr schön, sehr schön, Nettchen!«, sagte Werner. »Fast zu schön. Du musst achtgeben, dass dein musikalisches Engagement nicht eines Tages in Ehrgeiz und eine eitle Begierde nach Bewunderung ausartet.«
Die Onkel waren in Begleitung der Herren Hoffmann und Wigand. Der riesige Hoffmann hatte lange blonde Locken und trug den verbotenen Altdeutschen Rock. Er hatte ihn bis unters Kinn zugeknöpft und dazu noch ein Halstuch stramm gebunden und seine Haare wie bei einem Mädchen in der Mitte gescheitelt. Ein wenig Bart zog sich um sein zartes Gesicht. Die ganze Zeit benutzte er Ausdrücke wie ›Deibel Ock‹, ›Tebelholmer‹ und ›Bruder Graf‹. Aber das kriminelle Gewand wirkte an ihm trotzdem erstaunlich brav, er ähnelte damit mehr einem romantischen Traumbild als einem Revolutionär. Auf ein Barett hatte er verzichtet und anstelle des Degens trug er einen übergroßen Spazierstock aus Kornelkirschholz mit Handschlaufe und Metallspitze am Gürtel.
»Noch in keinem Salon eine so klare und berührende Stimme gehört«, sagte Hoffmann, der mit seinem Ziegenhainer nicht so aussah, als ob er jemals in einem Salon gewesen wäre.
»Mitten ins Herz«, ergänzte Wigand. »Es hätte gar keinen Text gebraucht, so sehr fühlte man, wovon das gnädige Fräulein gesungen hat.«
»Und Madam Vennewitz – ganz, ganz wunderbar«, beeilte sich Hoffmann hinzuzufügen. Die Vennewitz nickte hoheitsvoll und lächelte säuerlich.
Onkel Carl und Onkel Fritz gesellten sich zu ihnen, wurden den neuen Geistesgrößen vorgestellt und lobten ebenfalls den Auftritt der Damen.
»Schöner als die Höxter Nachtigallen.«
August fühlte sich bemüßigt, seinen zivilen Aufzug zu rechtfertigen. Sicher, hier in Höxter hätte es wohl kaum eine Gefahr dargestellt, die Tracht anzulegen, aber wäre das nicht noch elender, es nur dann zu unterlassen, wenn man in eine der großen Städte kam? Da ließ er es lieber gleich ganz.
»Lasst uns ein wenig hin- und hergehen, ich bin nicht sicher, ob hier nicht jemand zuhört«, sagte Werner. Er war mal wieder in etwas verwickelt. Diesmal hatte er Joseph Görres, den Herausgeber des verbotenen Rheinischen Merkur, gewarnt, dass seine Verhaftung bevorstünde, und ihm zur Flucht verholfen. Nachweisen konnte man es ihm nicht, aber man hatte ihn in Verdacht, weswegen der Kölner Polizeipräsident Struensee und Oberdemagogenrichter Kamptz ihn vermutlich überwachen ließen.
»Hier hört niemand zu, du bist nicht in Köln.«
»Wer weiß, mir ist es lieber, wir gehen noch ein paar Schritte.«
Später gab es noch einen Ball im Rathaus. Den Auftakt machte ein einstudierter Contretanz zu vier Paaren. Die Tänzer hatten viel Zeit und Mühe darauf verwendet, schöne, mannigfaltige und bilderreiche Touren einzustudieren. Bei der nächsten Quadrille forderte Hoffmann Annette auf.
»Gern, aber ich bin eine schlechte Tänzerin.«
»Das glaube ich nicht.«
Er murmelte noch irgendetwas von ihrer subtilen Figur, brach aber mitten im Satz ab, unsicher, ob man ein solches Kompliment überhaupt machen dürfte, und vernuschelte den Rest ins Unverständliche.
Auf der Tanzfläche schlugen sich die beiden trotz ihres immensen Größenunterschieds recht ordentlich und wurden schließlich so sicher, dass sie sich sogar unterhalten konnten, wenn sie sich bei den einzelnen Touren begegneten.
»Sie tragen einen Rock wie mein Onkel August früher.«
»Er missfällt Ihnen?«
Drehung, abklatschen.
Ein anderer Tanzpartner.
Es war anstrengend, einzelne Menschen zu unterscheiden, wenn man so schlecht sah wie Annette. In größerer Gesellschaft machte sich der Mangel ihrer Sehkraft am schlimmsten bemerkbar. Sie musste nach dem Bild schnappen, wenn die Quadrillefiguren sie eng an ihre Tanzpartner heranführten – ah, ein kleiner Dicker mit schütteren Favoris und Beinen so krumm wie grünes Holz über dem Ofen getrocknet –, und dann versuchen, das Gesehene in den zerfließenden Formen und Farben, die sich ihr in der Entfernung zeigten, wiederzuerkennen. Halbe Drehung, Knicks, und schon stand sie wieder bei Hoffmann und drehte sich mit ihm, Rücken gegen Rücken.
»Ob Ihr Aufzug mir missfällt? Sagen wir so: Wenn es Ihre Absicht war, wie einer unserer Erzväter aus grauer Vorzeit auszusehen, so ist Ihnen das recht gut gelungen.«
Leichtes Berühren der Fingerspitzen und Drehung.
»Ich trage diese Tracht, um mich damit zu den Tugenden unserer Vorfahren zu bekennen, zu Ehrlichkeit, Treue und christlicher Demut.«
»Tatsächlich? Ich verstehe nicht ganz, woher Sie ein solches Zutrauen zu Ihrem Rock hernehmen. Glauben Sie tatsächlich, die Vorväter hätten niemals gelogen?«
Sie glitten auseinander und Annette beendete den Contretanz in einem angedeuteten Knicks, während sich Hoffmann verbeugte und dann herüberkam, um sie zum Getränketisch zu führen.
»Sie haben einen scharfen und schnellen Verstand«, sagte er.
»Habe ich Sie verärgert?«
»Nein. Eine deutliche Meinung ist mir allemal lieber als ein Durcheinanderrühren verschiedenster Ansichten zu einem ungenießbaren Brei. Punsch?«
»Gern.«
Er nahm dem Ratsdiener die Punschkanne aus der Hand und schenkte zwei krumme Gläser voll.
»Ihr Onkel hat zwar ebenfalls viel dazu getan, aber vor allem war es Jacob Grimm, der meine Aufmerksamkeit auf die deutsche Vergangenheit gelenkt hat. Ich habe ihn in Kassel kennengelernt, als ich eigentlich auf dem Weg nach Griechenland und Italien war. In der Bibliothek hat er mir einen Brief herausgesucht, den ich abschreiben wollte. Einen Brief von Winckelmann. Wir sind ins Gespräch gekommen, und als ich preisgab, dass meine Leidenschaft das Studium der Antike sei, sagte er nur: Liegt Ihnen Ihr Vaterland nicht näher? Noch im selben Jahr habe ich zur Germanistik gewechselt.«
»Tatsächlich? Nur weil Jacob Grimm Sie gefragt hat, ob …?«
Nach Hoffmann nahm der andere Freund von August, Paul Wigand, sie in Beschlag und Annette wechselte von Punsch zu billigem Champagner. Wigand war schon vierunddreißig, was Annette ziemlich alt vorkam.
»Sie müssen im Frühling hier sein, wenn die Nachtigallen schlagen«, sagte er, »Höxter ist berühmt für seine Nachtigallenkolonien. Wenn der Reuschenberg illuminiert ist, sieht er aus wie ein riesiger Elfenhügel von tausend Flämmchen umzuckt, und die Tanzmusik weht herüber und mischt sich mit dem Nachtigallenschlag. Sie werden nichts Schöneres finden.«
Von August wusste sie, dass sein häusliches Leben durch die Nervenkrankheit seiner Frau und einiger der Kinder verdüstert war – August hatte an dieser Stelle seines Berichts den Zeigefinger an die Schläfe gehalten und hin und her gedreht. Deswegen fragte sie Wigand nach seiner Arbeit am Höxter Gericht, wo er die Archivarbeiten erledigte. Aber sogleich bezeugte Assessor Wigand seine tiefe Abneigung gegen die Beamtentätigkeit als solche, mit ihrer pedantischen Weitschweifigkeit und den nie enden wollenden Schreibarbeiten. Er gestand, sich manchmal ganz und gar ausgebrannt zu fühlen, ausgebrannt zu einem Häuflein Asche, völlig erschöpft von so viel Sinnlosigkeit. Im Grunde überfordert. Das Einzige, was ihn durchhalten lasse, seien die Bücher, an denen er arbeite.
Nun endlich war ein angemessenes Gesprächsthema gefunden, und Wigand konnte von seinem letzten Buch, Die Geschichte der gefürsteten Reichs-Abtei Corvey und der Städte Corvey und Hoexter nach den Quellen, erzählen.
»Es ist natürlich ein Fachbuch«, sagte Wigand, »nichts Schwärmerisches.«
»Zwei meiner Onkel waren Domherren in Corvey«, erwiderte Nette passend.
»Ich weiß. Eine wunderbare Abtei, Stein und Eichenholz, wenn auch nur wenig echt Altes noch vorhanden ist. Aber alles ist vornehm und maßvoll gehalten, nichts überladen. Deswegen spürt man auch heute noch, wie das Altertum einen umfängt. Allein wie die Schritte im Kreuzgang hallen.«
»Es ist schön, dass Sie Glück im Schreiben finden«, sagte Nette.
»Schreiben«, sagte Wigand immer noch keineswegs fröhlich, »wenn Sie das ›schreiben‹ nennen wollen. Eigentlich fühle ich mich ja zur Poesie berufen. Die modrigen Urkunden wollte ich bereits vor drei Jahren zur Seite gelegt haben.«
Er schnaubte düster.
»Was ist passiert?«
»Ich bin mir über den Umfang meines Unternehmens nicht im Klaren gewesen. Erst über das Studium der Quellen habe ich überhaupt gelernt, was gründliches Arbeiten heißt. Poesie kann ich nur noch zwischendurch betreiben, muss ich mir wie eine Medizin verordnen, wenn die Bitternisse des Lebens überhandnehmen.«
»So schlimm?«
»Nun, es hilft mir, ab und zu in die Orchideen-Buchenwälder an den Rabenklippen zu flüchten. Und natürlich haben auch die tiefen, geheimnisvollen Büchergrotten ihren Reiz. Ich kann wohl sagen, dass ich mit dem letzten Buch zumindest hier in der Gegend ein wenig Furore gemacht habe. Deswegen überlege ich nun, ob ich meine anderen Bücher, die alle anonym oder unter falschem Namen erschienen sind – es sind vaterländische Themen, Sie verstehen also, warum ich meine Identität verbergen musste –, nicht noch einmal unter meinem richtigen Namen herausbringen werde.«
Nette lächelte aufmerksam und anerkennend. Es war einfach, Wigand zu gefallen – sie musste überhaupt nichts tun, außer von ihm begeistert zu sein. Da sie immer noch unter der euphorisierenden Wirkung ihres Bühnen-Triumphes stand, fiel es ihr auch nicht weiter schwer, einen gewissen Enthusiasmus an den Tag zu legen.
»Es ist noch nicht gewiss«, sagte Wigand, »aber da ich mir mit dem Buch einen Namen gemacht habe, werde ich wohl das ekelhafte Justizfach verlassen können, um die Neuordnung des Corveyer Archivs zu übernehmen. Urkunden sind doch die wichtigsten aller Quellen. Aus ihnen sprechen die Altvorderen selber zu uns. Mein Verweilen im alten Beruf wäre ein Verlust für die Wissenschaft.«
Onkel Werner und Onkel August, die zwei Schritte weiter am Getränketisch standen und sich kräftig einschenkten, betrachteten die Nichte wohlwollend. Zum ersten Mal schlug Annette sich gut im Umgang mit den Geistesgrößen. Fragte Wigand sie nach ihren Beiträgen zu den Grimm’schen Märchen, so antwortete sie überaus kurz, um ihm dann mit der Gegenfrage nach seinen Beiträgen die Gelegenheit zu geben, sich lang und breit darüber auszulassen, wovon sie handelten, wie er sie selber gefunden hatte, nämlich indem er als damaliger Amtsrichter die Gefangenen examiniert hatte, und wie wichtig sein Beitrag für die Brüder Grimm gewesen war. Besonders Wilhelm sei begeistert gewesen. Ob sie eigentlich wisse, dass er mit Wilhelm bereits zur Schule gegangen war, aufs Lyceum Fridericianum? Man könnte durchaus von engen Freunden sprechen.
»Tatsächlich?«
»Oh ja. Vor gar nicht langer Zeit habe ich bei einem Tischler hier in Höxter für Wilhelm einen Arbeitstisch mit extragroßen Schubladen in Auftrag gegeben, den Jacob dann zum Geburtstag bekommen hat. Unsere Freundschaft ist heute sogar noch inniger als zu Kinderzeiten. Das liegt an dem großen Ziel, verstehen Sie? Die Bewahrung des Alten, der Schätze unserer Vorväter. Neben dem Archiv im Gericht ordne ich noch unentgeltlich die Archive in der Umgebung, um zu retten, was zu retten ist.«
»Ein wahrhaft edles Ziel«, erwiderte Annette ohne jede Ironie und Wigands Augen leuchteten auf. Dass seine Gesprächspartnerin kurz zuvor gerade selber Begeisterungsstürme ausgelöst hatte, tat ihrer Eignung als andächtiger Bewunderin keinen Abbruch. Gesang war nichts, was in Wigands Augen eine Konkurrenz bedeutet hätte.
Sie standen nun alle wieder zusammen. Werner von Haxthausen erzählte Hoffmann von seiner Sammlung neugriechischer Volkslieder, deren Grundstock er gelegentlich seiner Anwesenheit beim Wiener Kongress von dem Griechen Bartholomäus Kopitar, dem damaligen Skriptor der Hofbibliothek, bekommen hatte und zu der Goethe die Einleitung schreiben wollte.
»Goethe schreibt Ihnen das Vorwort?«, rief Wigand ganz außer sich. »Unser Goethe, dieser Unvergleichliche? Mit brennendem Verlangen erwarte ich jedes neue Buch von ihm. Er ist unser größter Lehrer – außer Jesus Christus natürlich.«
Die Kapelle spielte einen Walzer und Werner Haxthausen vergaß sogleich, was er hatte antworten wollen, und setzte stattdessen zu einem längeren Vortrag darüber an, wie viel volkstümlicher und deutscher doch dieser Tanz sei gegenüber dem steifen Schreiten beim Menuett. Beim Wiener Kongress, wo er ja dabei gewesen war, da habe man vielleicht getanzt und gewalzt, ein Drehen und Schweben sei das gewesen, während das Menuett, die Gavotten und Sarabanden im Grunde durch und durch höfisch-französisches Gebaren seien.
Zu seiner Überraschung widersprach Wigand.
»Ich persönlich halte den Walzer ja für einen verderblichen Ausdruck der neuen Zeit, in der alles schneller und schneller gehen muss. Und warum tanzen nicht mehr alle zusammen? Was soll diese isolierte Zweisamkeit? Bei der Reitkunst ist es übrigens das Gleiche. Wann hat einer von euch zum Beispiel zuletzt von einem Pferdeballett gehört? Stattdessen treten die Rösser nun in Geschwindigkeitsrennen gegeneinander an. Rennen, nichts als Pferderennen. Der Wettbewerb als Ersatz für die Kunst – das ist doch nichts.«
»Da ist etwas dran«, räumte Werner von Haxthausen ein, »selbst die Kultur des langsam wachsenden Laubwaldes wird ja inzwischen vernachlässigt, nur, um sich im rascher wachsenden Nadelholz einen schnellen Ertrag zu sichern.«
»Du erlaubst, Bruder Graf«, sagte Hoffmann zu August und nutzte die Gelegenheit, Annette aufs Parkett zu ziehen. Ein guter Tänzer, ein sehr guter Tänzer, aber seine Drehungen fielen schnell und weit aus.
»Nicht ganz so wild«, lachte sie, »nicht so wild, Herr Hoffmann von Tanzboden.«
»Hoffmann, einfach nur Hoffmann«, sagte Hoffmann, »kein Adel. Nicht einmal Tanzbodenadel. Es tut mir leid, dass ich so langweilig heiße. Wenn ich mein erstes Buch veröffentliche, wird man mich ständig mit E.T.A. Hoffmann verwechseln. Aber vielleicht ist das ja auch von Vorteil. Jedenfalls, wenn ich mich auf Schauergeschichten verlege. Allerdings stimmt mich allein schon der Gedanke daran furchtbar melancholisch.«
Er schwang Annette in einer Drehung herum. Ihr war nicht unbedingt danach, sich eine weitere Stunde lang anzuhören, wie ein Schriftsteller die Vorzüge seines letzten oder demnächst erscheinenden Buches erläuterte, deswegen fragte sie nicht, wovon sein Buch denn wohl handeln würde, auch wenn ihr klar war, dass er das von ihr erwartete.
»Vielleicht sollten Sie sich ein kleines Anhängsel an Ihren Namen machen. Zur Unterscheidung. Hoffmann vom Walzer zum Beispiel. Oder Hoffmann, der Melancholische.«
»Das ist eine hübsche Idee, aber dann dürfte ich ja nie mehr meine Stimmungslage ändern, um meinem Namen auch immer gerecht zu werden. Da läge ein ziemlich trauriges Leben vor mir.«
Annette lachte. Etwas zu laut, etwas zu grell – wie immer. Hoffmann redete Unsinn, machte nur Worte, um einen Vorwand zu haben, sie ansehen zu dürfen. Er mag mich leiden, dachte Annette und nun tat es ihr doch leid, dass sie nicht nach seinem Buch gefragt hatte, um ihm die Gelegenheit zu geben, ein wenig vor ihr zu glänzen.
Onkel und Tante Metternich schwoften heran, tanzten neben ihnen im Dreivierteltakt auf der Stelle.
»Nettchen, Liebe, gehst du gleich noch einmal zum Fränzchen hinüber?«, sagte Tante Dorly. »Ich glaube, sie möchte dich auf die Hinnenburg einladen. Was hältst du davon? Sie könnten dich morgen abholen und dann gleich mitnehmen. Oder wird dir das zu viel?«
Zu viel? Wie kam Tante Dorly denn darauf? Sie war ein junges Mädchen, das gerade ihr erstes Konzert mit Bravour absolviert hatte, wurde von allen bewundert und angehimmelt und nun lag sie in den Armen eines jungen Mannes, wurde herumgewirbelt, lachte und tanzte. Was sollte daran anstrengend sein, einen Abstecher zur Hinnenburg und den arroganten Damhirschen zu machen, noch ein paar Tage beim liebsten Fränzchen einzuschieben? Schließlich musste sie den Hügel ja nicht zu Fuß heraufgehen, sondern würde gemütlich in einer Kutsche fahren. Und wer konnte schon sagen, welche aufregenden Bekanntschaften auf der Hinnenburg auf sie warteten.
»Sag bitte, dass ich gleich hinüberkomme, nur noch den Hopswalzer zu Ende.«
Und schon wirbelte sie weiter.
Zwei Wochen später klappte sie dann auf der Hinnenburg zusammen. Die Familie hatte sich zu Hausmusik und Gesang versammelt. Gerade nahm Kapellmeister Winkel die Geige in die Hand und Graf Bocholtz-Asseburg wollte mit dem Fliegenpötscher den Takt vorgeben, da rutschte Annette vom Barock-Sofa und verdrehte die Augen.
Ein Doktor reiste an, öffnete seinen schwarzen Koffer und nahm ein Rohr mit einem kleinen Trichter heraus: das Neueste vom Neuesten, ein Gerät, mit dem man die Lungen abhören konnte, ohne das Ohr direkt auf den Körper legen zu müssen. Der Doktor attestierte Annette eine Äquinoktialskrankheit, was sich darin äußerte, dass sie äußerst schwach war, so schwach, dass sie kaum die Hand nach etwas ausstrecken mochte, ständig hustete und im Laufe der drei Wochen, die sie nun zwangsweise beim Fränzchen und ihren Kindern verbringen musste, noch dünner wurde, als sie sowieso schon war. Meist saß sie bis zum Kinn in Decken gehüllt im französischen Terrassengarten und starrte missmutig auf die kahlen Aprikosenspaliere, die Springbrunnen, Putten und Taxuspyramiden. Wegen des Hustens war ihr verboten worden zu lesen und zu schreiben. Lesen und schreiben lösten ja bekanntlich die schlimmsten Hustenanfälle aus. Sie langweilte sich entsetzlich.