Erst im März kehrte Annette zum Bökerhof zurück.
Den argwöhnischen Augen des Herzensfränzchen entronnen, warf sie ein Gedicht nach dem anderen aufs Papier, jedes mit mindestens fünf Strophen.
Gleichzeitig arbeitete sie auch noch an einer Oper. Und das, obwohl ständig irgendwelche Geistesgrößen eintrafen und unterhalten werden wollten. Ludwig Grimm zuerst und dann kam auch noch Hassenpflug, der zu allem eine Meinung hatte. Zu den Judenausschreitungen, zu Frauen, und besonders zu Frauen, die ebenfalls eine Meinung zu den Judenausschreitungen hatten.
Am ersten schönen Frühlingstag hockten Anna und Nette über einem Blumenbeet und waren mit Unkrautjäten beschäftigt, als sie hörten, wie August, Werner, Ludwig Hassenpflug und Ludwig Grimm auf der anderen Seite der Hecke vorbeigingen und miteinander sprachen. Hassenpflug regte sich offenbar immer noch darüber auf, dass Nette sich am Abend zuvor in das politische Gespräch gemischt hatte, und nun ging es darum, wie viel Geist bei einer Frau noch akzeptabel war. Anna legte den Finger über die Lippen und kniff Nette in den dünnen Unterarm.
»Klüger als ich?«, höhnte Hassenpflug. »Die Sorge plagt mich nicht. Was soll ich darüber nachdenken. Ich weiß, dass ich keine Frau fände, die gescheiter ist als ich.«
Nette rieb ihren brennenden Arm und knuffte Anna in die Seite.
»In der Tat, die Schärfe des Verstandes bleibt auf ewig der Vorzug der Männer«, stimmte Werner zu. »Frauen können sich dem nur von ferne annähern.«
Anna legte den Kopf schief, steckte die Zunge aus dem Mundwinkel und zog eine Fratze vollständiger Verblödung. Nette musste sich die Hand auf den Mund pressen, um nicht zu lachen.
»Dagegen werden uns die Frauen immer durch ihr feines Gefühl übertreffen«, räumte Hassenpflug ein.
Nette, die bereits kniete, legte ihre Hände wie zum Gebet zusammen und richtete die Augen treudoof gegen den Himmel. Anna tat es ihr nach und fiel dann rücklings auf den kalten Erdboden und wälzte sich hin und her.
»Die arme Lotte«, sagte Nette, als die Onkel und ihre Gäste außer Hörweite waren.
»Die arme Lotte«, wiederholte Anna, »wie viel Selbstverleugnung es kosten muss, einen solchen Mann bei Laune zu halten.«
»Zum Glück ist sie ja sanftmütig und sehr geduldig.«
»Mit Sanftmut und Geduld kommst du da nicht aus.«
Als Nächstes kam Friedrich Beneke zu Besuch, ein Hamburger Kaufmannssohn, den Werner bereits angekündigt hatte. Er war ein gut aussehender junger Mann, schlank, wenn auch nicht besonders groß. Eine Stirnlocke, die südländisch und schwärmerisch anmuten sollte, aber leider strohblond war, hing in sein nüchternes norddeutsches Gesicht hinein. Bei seiner Ankunft ging er mehrmals an Annette vorbei, ohne von ihr Notiz zu nehmen. Als wenn sie eine Kammerzofe wäre. Und da hielt sie es genauso und ignorierte ihn ebenfalls. Die Freunde der Onkel waren ja oftmals etwas kompliziert – Genies eben.
Als sie später die Großmutter aufsuchte, um ihr den Anfang der Oper vorzuspielen, traf sie ihn wieder. Er stand bei der alten Frau in der niedrigen Stube, in der es nie so ganz hell wurde, bei dem massiven uralten Schrank voller Schnitzereien, während die Großmutter selber am Fenster saß, ein schwarzes Buch mit einem Palmzweig auf dem Deckel auf ihrem Schoß. Zu ihren Füßen hatten sich die beiden Dackel eingerollt.
Beneke erzählte von Bekannten in Köln. Nette ärgerte sich. Die Großmutter war kränklich – ein Katarrh mal wieder – und der junge Kaufmannssohn schien das überhaupt nicht zu bemerken, sah weder, wie die feinen Faltenrinnen in ihrem Gesicht immer mehr mit den Volants ihrer Haube zu konkurrieren begannen, noch wie ihr Mund vor Erschöpfung einfiel. Diesmal kam man natürlich nicht darum herum, einander vorgestellt zu werden. Beneke ließ die Vorstellung kurz über sich ergehen, verbeugte sich und wandte sich dann sofort wieder der Großmutter zu, brannte darauf, in seinen Belanglosigkeiten fortzufahren.
»Wie nehmen denn Ihre Bekannten in Köln die Idee auf, den Dom zu Ende zu bauen?«, wollte Annette sich am Gespräch beteiligen.
Beneke zuckte mit den Schultern.
»Davon weiß ich nichts«, schnappte er kurz in ihre Richtung und erzählte der Großmutter, die ein feuchtes Taschentuch in ihrer Hand knüllte, weiter vom neuen Stadtpalais des Sowieso. Annette hielt sich bei so viel Ungezogenheit nicht lange auf, sondern verabschiedete sich schnell.
Beim Abendbrot sah man sich zum dritten Mal. Der Großvater ließ seine üblichen Rokoko-Anekdoten vom Stapel, die allesamt darauf hinausliefen, wie ungeheuer wichtig der alte Haxthausen bei Hofe gewesen war, wie die Frauen hinter ihm her waren – als er noch bei Hofe lebte – hehe – und welche anderen wichtigen Männer – teilweise aus dem Hochadel, oh ja! – von ihm beeindruckt gewesen waren. Als er noch am Hofe lebte. Schließlich kam er darauf, wie er 1782 als Gerichtsherr – also jedenfalls als eine Art zweiter Gerichtsherr – für einen Mordfall zuständig gewesen war, der die ganze Gegend in Atem gehalten hatte.
»Es ging um einen Juden, namens Soistman Berend … oder war es Mehrend…?«
»Nein, nein«, erwiderte die Großmutter, die die Geschichte nun schon seit Jahrzehnten hörte, »Berend ist ganz richtig.«
Ein Diener schenkte Wein nach.
»Also Berend. Und jedenfalls kam er aus Ovenhausen.«
Dieser Jude also war ermordet worden und der Tatverdächtige, ein Hermann Winkelhannes aus Bellersen, flüchtig. Eine Ewigkeit später kehrte der Geflohene in seine Heimat zurück und es stellte sich heraus, dass er inzwischen über zwanzig Jahre in muselmanischer Sklaverei geschunden worden war. Der alte Freiherr hatte ihm deswegen die Strafe erlassen. Aber Winkelhannes nahm sich kurz darauf selbst das Leben. Er hängte sich an der Buche auf, unter der die Tat geschehen war.
»Mein Sohn hat einmal eine Geschichte darüber veröffentlicht.«
»Welcher war es?«
»Wie welcher?«
»Ich meine, welcher Ihrer Söhne.«
»Na, August natürlich.«
Der alte Haxthausen sah Beneke an, als wäre er nicht ganz dicht. Bevor jemand anderes das Wort ergreifen konnte, erzählte er nahtlos weiter, diesmal eine Anekdote, wie er einmal nach Hülshoff gefahren, aber eine Strecke vor dem Schloss bereits ausgestiegen war, um als Invalide verkleidet vor seiner ältesten Tochter Therese zu erscheinen.
»Und, ist Ihnen die Maskerade geglückt?«
Der Hamburger Gast heuchelte wie alle anderen die vollste Anteilnahme an diesen Geschichten, lachte sogar an den richtigen Stellen, sodass Annette ihm sein schlechtes Benehmen vom Nachmittag verzieh.
Der alte Freiherr kniff ein Auge zu.
»Ich habe nur Jenny und Nette angetroffen, und die haben mich sofort erkannt.«
»Nun, wenn die eigenen Enkeltöchter ihren Großvater nicht mehr erkennen sollten …«, erwiderte Beneke freundlich.
»Wussten Sie, dass unsere Nette als Zauberjungfer gilt?«, sagte der alte Freiherr. »Es liegt in der Familie. Einer meiner Großonkel, ein Malteser, hat im Geruch eines Adepten gestanden und war in allerlei Geheimwissen eingeweiht. Leider hat sein Executor alle seine Apparate und mystischen Bücher vernichtet. Er war nun einmal ein sehr frommer Domherr, der dergleichen nicht dulden mochte. Unter anderem eine etwa handhohe menschliche Figur, die in einem goldenen Kästchen lag. Der Name Joecrit ist daran geschrieben gewesen. Damit soll mein Großonkel sich Geld verschafft haben. Ich selber habe diese Figur noch gesehen. Dabei ist noch ein Würfel gewesen oder doch etwas sehr Ähnliches wie ein Würfel mit allerhand Zeichen und Zahlen statt der üblichen Punkte. Den besitze ich heute noch. Sie können ihn sehen, wenn Sie wollen.«
Beneke war sofort Feuer und Flamme, aber die Großmutter meinte, dafür wäre am folgenden Abend noch Zeit, nun sei es bereits sehr spät. Und damit hob sie die Tafel auf und der alte Haxthausen ließ sich von einem Diener hinter ihr her aus dem Zimmer schieben. Ferdinandine ging ebenfalls, um sich noch über die Rechnungsbücher zu setzen. Die anderen verteilten sich im Entree. Ludowine, Annette und Anna setzten sich aufs Sofa, während Sophie, Ludwig Grimm, Ludwig Hassenpflug und August mit dem Gast noch am Tische blieben. Werner, Carl und Fritz nahmen ihre Pfeifen vor und stellten sich an den Kamin. Eine neue Konversation begann. Nette fand Gelegenheit, von ihrer Oper zu berichten, die Wagen der Venus heißen sollte. Aber jedes Mal, wenn sie etwas sagte, war Beneke zur Stelle, um sich über das, was sie sagte, lustig zu machen. Oder darüber, wie sie etwas sagte. Annette machte eine Bemerkung – Beneke machte einen Witz über sie. Immer abwechselnd. Nette wurde unsicher, wählte ihre Worte bedachter, und nun begann Beneke, ihre vorsichtige und manchmal ein wenig überspannte Wortwahl zu parodieren, womit er die anderen sehr erheiterte. Erst überrascht, dann schmerzlich berührt, begriff Annette, dass da ein Fremder, ein gerade eingetroffener Gast, dabei war, sie vorzuführen, sie wie einen Zirkusbären am Nasenring durch die Manege zu ziehen, ohne dass ein einziger ihrer Onkel oder eine ihrer Tanten auf die Idee gekommen wäre, ihn für seine Ungezogenheiten zurechtzuweisen. Im Gegenteil, sie gingen mit dem größten Vergnügen darauf ein.
»In der Ouvertüre werde ich Melodien aus der Wiedertäuferzeit verwenden«, sagte Annette etwa, »ich brenne darauf, sie euch vorzuspielen.«
»Meine Ouvertüre«, lispelte Beneke zu Anna, »meine wunderbare Ouvertüre, ich brenne darauf, sie Ihnen vorzuführen. Allerdings ist das nichts gegen meine Konfitüre, meine wunderbare Erdbeerkonfitüre, ein nie geschmecktes Werk, das auf raffinierteste Weise vielleicht nur noch von meiner wunderbaren Bordüre übertroffen wird. Meine wunderbare Erdbeerbordüren-Ouvertüre.«
Anna kreischte vor Begeisterung. Selbst Ludowine, das stille Täubchen, konnte sich vor Lachen kaum noch halten. Beide hatten alle Sittsamkeit abgestrampelt, schienen vollkommen vergessen zu haben, dass ihr Leben von Demut und Bescheidenheit erfüllt sein sollte.
Annette konzentrierte sich darauf, die Tränen zurückzuhalten. Straube! Straube wäre jetzt auf ihrer Seite gewesen. Als sie nicht mehr in Gefahr war, die Fassung zu verlieren, hob sie das Gesicht und sah Beneke direkt in die Augen. Er errötete, kam ins Stammeln, brachte seinen letzten Witz nicht zu Ende, wandte das Gesicht ab und versuchte, mit einem neuen Thema abzulenken. Annette sah, wie es in seinen Augen flackerte. Es schien beinahe, als ob er Angst hätte.
»Verzeihung«, sagte sie so leise, dass alle sofort schwiegen, »aber Sie scheinen etwas gegen mich zu haben, mein Herr. Was habe ich Ihnen denn eigentlich getan?«
Er war so bestürzt, wie man nur sein konnte, wenn man sich schlecht benommen hatte und es einem auf den Kopf zugesagt wurde.
»Was, wieso? Nein, nichts«, stammelte er, lachte dumm.
Er saß in der Klemme und versuchte, das als weise Belustigung auszugeben.
»Wie kommen Sie denn bloß auf so etwas?«
»Nun, wenn es keine Abneigung ist, dann sagen Sie mir doch, was Sie von mir halten!«
»Na gut«, sagte Beneke trotzig, »Sie haben danach gefragt, und da will ich Ihnen die Antwort nicht schuldig bleiben. Natürlich habe ich keine Abneigung gegen Sie. Warum sollte ich? Aber Sie können nicht leugnen, dass in Ihrem Wesen etwas sehr Herrisches die Oberhand hat. Ihr Geist ist unweiblich. So, jetzt ist es heraus. Ich denke, die anderen werden mir zustimmen.«
Im Salon war es jetzt vollkommen still. Sophie tappte verlegen mit der Fußsohle auf den Boden. Anna und Ludowine stickten wie besessen.
»Ich verzeihe Ihnen Ihr hartes Urteil«, sagte Annette sanft. »Sie kennen mich nicht.«
Einer der Onkel hüstelte. Carl. Rasch ging man zu anderen Themen über, nahm das beständige Streiten, ob nun Goethe oder Schiller größer wäre, wieder auf und überlegte, ob das neue Buch von Sir Walter Scott angeschafft werden sollte.
Den ganzen Abend über gingen Beneke und Annette nun auffallend vorsichtig und freundlich miteinander um. Er fragte sie schließlich sogar nach weiterem Geheimnisvollen in der Familie und ließ sich erzählen, wie die Kinder von Tante Dorly, das Hermännchen und die zweijährige Mine, einander abgerufen hatten.
»Mit der Nachbarstochter hatte es angefangen. Die drei haben immer zusammen gespielt und wollten überhaupt nicht voneinander lassen. Und als das Julchen mit dem Scharlachfieber niederlag, da hat es drei Tage vor seinem Tod von nichts anderem als vom Hermann gesprochen und wollte immer mit ihm spielen. Kaum war das Julchen gestorben, ist Hermann krank geworden und verlangte unaufhörlich nach diesem Julchen. Kurz vor seinem Tode verlangte er dann auch noch nach der Schwester, nach Minka. Das Hermännchen hat die Mine immer Minka genannt. Und vierzehn Tage nach ihm war auch die Minka tot.«
Als Annette die Gesellschaft verließ, um zu Bett zu gehen, sah ihr der Kaufmannssohn lange hinterher.
Am anderen Morgen nach dem Frühstück passte sie Beneke auf dem Weg nach draußen ab.
»Möchten Sie mich vielleicht auf einen Spaziergang begleiten? Meine Tanten sind sehr beschäftigt, wir werden allein gehen …«
Sie hielt einen Moment den Atem an. Wenn er ablehnte, wäre sie schrecklich blamiert. Aber er kam, ohne zu zögern, mit. Etwas verlegen plauderten sie über dies und das – Beneke war sich nicht zu blöd, das Wetter zu loben –, dann gab es von Annettes Seite ein paar prüfende Fragen. Ob ihm die Kunst etwas bedeute, die Religion. Ob es etwas gebe, das er in seinem Leben entsetzlich bereue.
Und dann fragte Annette unvermittelt: »Kann es sein, dass es mein Onkel Werner gewesen ist, der Ihnen den Rat gegeben hat, mit mir umzugehen, wie Sie es gestern getan haben?«
Beneke war es nicht gewohnt, dass man heikle Dinge direkt ansprach. Kein Bürger des frühen 19.Jahrhunderts war so etwas gewohnt. Erschrocken rückte er ein Stück von seiner Begleitung ab.
»Ich … ich weiß nicht, was Sie meinen.«
»Ich frage, ob mein Onkel Werner Ihnen den Rat gegeben hat, mich auf jede erdenkliche Art zu kränken.«
»Ich … oh, nein … natürlich nicht! Warum sollte er das tun? Im Gegenteil, er hält Sie für überaus gescheit und talentiert und lobt Sie in jeder Hinsicht. Wenn ich Sie gekränkt habe, so tut mir das furchtbar leid.«
»Er hat Ihnen also nicht geraten, Sie sollten mich kränken, weil man sonst nicht mit mir auskäme?«
Beneke wand sich.
»Nun ja, er hat mir nicht direkt eine Weisung gegeben, aber er hat einmal erwähnt, dass er selber es so hält, dass er Sie bei jeder Gelegenheit demütigt und dass er deswegen der Einzige ist, den Sie fürchten.«
Annette biss sich auf die Unterlippe und sah über die Felder hinweg.
»Lieber Herr, ich kenne Sie eigentlich nicht, doch halte ich Sie für gut und für einen Mann von Ehre. Deswegen möchte ich Ihnen etwas von mir erzählen, vorausgesetzt, dass Sie mir Verschwiegenheit versprechen können.«
Beneke beeilte sich, seine Diskretion zuzusichern.
»Ich liebe meinen Onkel Werner, aber er handelt tatsächlich so, wie er es Ihnen erzählt hat: Er lässt keine Gelegenheit aus, mich zu beleidigen oder zu kränken. Ich glaube aber nicht, dass er es mit Absicht macht. Auch wenn er das Ihnen gegenüber selber von sich behauptet. Manchmal merke ich, wie er sich bemüht, freundlich und gütig gegen mich zu sein, aber dann bricht es plötzlich aus ihm heraus und er fällt schonungslos her über das, was ich gerade gesagt oder getan habe. Er kann einfach nicht anders. Bei jedem neuen Anlass verlässt ihn der Takt. Es ist, als könnte er die Tatsache, dass ich existiere, einfach nicht ertragen.«
Sie gab Beispiele.
»Sie reden recht offen mit mir«, sagte Beneke, »darum will ich ebenfalls offen zu Ihnen sein. Die Beschreibung, die mir Werner Haxthausen von Ihnen gab, war dazu angetan, in mir einen Widerwillen gegen Sie zu erregen. Er nannte Sie eigensinnig und gebieterisch, fast männlich im Benehmen. Ihr Verstand wäre größer als Ihr Gemüt.«
Annette blieb mitten auf dem Weg stehen und schlug die Hände vor das Gesicht.
»Nicht doch«, sagte Beneke, »ich habe Sie auch erkannt, die scharfe Klarheit Ihres Verstandes und Ihren recht männlichen Mut, diesen Verstand zu benutzen. Aber ich verstehe nicht, wieso Ihr Onkel den weiblichen Teil in Ihnen nicht sehen kann, die rührende Unschuld und den zarten Sinn.«
Annette nahm die Hände vom Gesicht.
»Ich will meinen Onkel Werner so gern lieben, aber er macht es mir nicht einfach.«
»Ihr Onkel hat nicht verstanden, dass seine Nichte das liebenswerteste und klügste Fräulein von der Welt ist. Allein, dass Sie es bereits wussten, dass Ihr Onkel mich entsprechend instruiert hatte, bevor ich es Ihnen zugab – Sie haben doch nicht etwa das zweite Gesicht?«
Annette zögerte.
»Ah«, rief Beneke, »ich hätte es wissen müssen. Ihr Großvater hat es ja gestern auch schon einmal erwähnt. Sie sind eine Seherin. Bitte, erzählen Sie mir von Ihren übersinnlichen Erscheinungen!«
»Nur wenn Sie mir noch einmal Verschwiegenheit schwören«, sagte Annette. »Sie scheinen mir als ein Mann, mit dem man über so etwas reden kann. Aber zuerst müssen Sie schwören.«
Beneke schwor sogleich. Dann starrte er sie mit großen Pupillen an und Annette legte los, erzählte vom Hülshoffer Schlossgespenst, das nur sie sehen konnte, erzählte von den Langhüten in ihren Schlapphüten, die bis auf die Schultern herabhingen, und den Timphüten, verbutzelten Männchen mit schwarzem Dreispitz auf dem rundlichen Kopf, die nichts als Unfug trieben, Bücher und Handarbeiten unter dem Sofa versteckten, hundert Knoten in die Vorhangschnur machten und in den Ofen bliesen, dass die Asche nur so durch das Zimmer flog. Erzählte, wie man es anstellen konnte, sich selber zu begegnen, nämlich indem man um Mitternacht mit zwei Lichtern allein vor den Spiegel trat, dreimal laut seinen Namen rief und sich dann umdrehte.
»Und dann?«
»Dann sieht man sich selbst.«
»Was denken Sie«, sagte Beneke, »ist es eine Gabe oder ein Fluch, wenn man mit solchen Mächten in Kontakt steht?«
»Das kann ich nicht sagen. Eher ist es eine Last als eine Gabe. Oft habe ich entsetzliche Träume. Besonders einer holt mich immer wieder ein. Es ist ein Gesicht, das mich im Traum heimsucht, ein männliches Gesicht, gar nicht einmal besonders widrig, eher durchschnittlich. Und trotzdem erfüllt es mich jedes Mal mit dem größten Entsetzen, wenn es erscheint. Er – der Mann, das Gesicht – will mir immer Rat geben, diktiert mir Rezepte für allerlei heidnisches Zeug, Flugsalben, Liebestränke, solche Sachen eben … auch sagt er mir Dinge vorher, die dann jedes Mal eintreffen. Das Schrecklichste ist vielleicht, dass er mir manchmal ein Zeichen zurücklässt, mir etwas auf das Nachtkästchen oder in die Schürzentasche legt. Eine Feder, eine Eichel, oder auch nur eine Tonscherbe. Stellen Sie sich diesen Moment am nächsten Morgen vor, wenn ich erwache, alles als einen Traum abtun will, und dann sehe ich auf mein Nachtkästchen, und dort liegt dann tatsächlich die Feder. Das Grauen, das ich dann empfinde … ich kann es Ihnen nicht beschreiben.«
»Kein Wunder«, rief Beneke, »wie entsetzlich! Ich glaube, ich könnte kein Auge zutun, wenn mir so etwas widerfahren würde. Und sind Sie je in Versuchung gekommen, eines dieser Rezepte auszuprobieren?«
»Nein, das nicht, aber ein paarmal bin ich seinen Ratschlägen gefolgt, habe Wege eingeschlagen, die ich nie zuvor gegangen bin, und es ist mir jedes Mal zum Vorteil ausgeschlagen. Aber stets war mir dann unheimlich, und obwohl nichts Unrechtes dabei gewesen ist, habe ich mich schließlich doch an unseren Herrn gewandt und im Gebet um Rat gefleht, wie ich damit umgehen soll. Seitdem taucht das Gesicht nur noch selten auf, aber mein Schrecken ist dann jedes Mal umso größer.«
»Das verstehe ich gut. Mich schaudert ja bereits, wenn Sie mir nur davon erzählen.«
Erhitzt kehrten beide von dem Spaziergang zurück, was ihnen gut stand, und die Haxthausen’schen Tanten konstatierten erstaunt, dass ihre Nichte, das unscheinbare, immer etwas zu laute und unmögliche Nettchen, nach Straube nun anscheinend auch noch diesen spröden jungen Mann um den Finger gewickelt hatte. Nicht zu fassen. Überhaupt schien sie in letzter Zeit immer hübscher zu werden. Beneke jedenfalls wich ihr den ganzen Tag nicht mehr von der Seite und strahlte sie so bewundernd an, dass es beim Abendbrot sogar den Großeltern unangenehm auffiel. Er sprach von ihr nur noch als von der Zauberjungfrau, und als Annette sich später an den Flügel setzte und auf die übliche Weise zur Abendunterhaltung beitrug, stand er die ganze Zeit neben ihr. Sie spielte aus dem Don Juan, inklusive Locken zurückwerfen und keuchen, sang auch dazu, etwas zu grell und etwas zu laut, wie es nun einmal ihre Art war, und absorbierte Benekes Aufmerksamkeit so vollkommen, dass es ihn kaum noch interessierte, als der alte Haxthausen angerollt kam und ihm den Zauberwürfel in die Hand drückte. Er gab ihn gleich wieder zurück, ohne ein einziges Mal damit gewürfelt zu haben. Da holte der alte Freiherr als Zweites auch noch eine hölzerne Hand aus der Tasche, an der ein rotes Band befestigt war. Daran ließ er sie vor Beneke baumeln.
»Sie stammt ebenfalls aus dem Besitz meines Großonkels und ist aus Farrenholz geschnitzt. So hat man es mir jedenfalls erzählt. Und wen man damit kratzt, bei dem soll sich ein Liebeszauber einstellen.«
Er legte Beneke das seltsame Ding in die Hand.
»Na, wen wollen Sie jetzt damit kratzen.«
Beneke errötete tief, blickte unwillkürlich Annette an und alle lachten schallend. Schnell gab Beneke seinem Gastgeber die Zauberhand zurück, der sie schmunzelnd wieder in die Tasche steckte.
Am nächsten Morgen, der ein grauer und trüber Morgen war, sah Annette aus dem Fenster in Annas Zimmer, wie Friedrich Beneke, der um sieben Uhr abreisen musste, verzweifelt rund um den Bökerhof lief, sie offenbar suchte, um ihr ein letztes Mal gegenüberzustehen und Leb wohl zu sagen. Als er zur Altane über dem Säulengang hochblickte, huschte sie hinter die Gardine. Schließlich stieg der verstörte junge Mann in die Kutsche, wo bereits Hassenpflug auf ihn wartete, und Annette ging zufrieden lächelnd zum Frühstück hinunter.
»Du hättest gestern nicht aus dem Don Juan singen sollen«, sagte Anna zu ihr, »dafür hast du nun einmal nicht die Stimme.«