Kaum war Friedrich Beneke fort, erschien Straube. Er wollte das Osterfest bei seinen Freunden verbringen und mindestens zwei Wochen bleiben. Straube begrüßte die Großmutter und den grimmigen alten Haxthausen, vor dem er sich wie stets ein wenig fürchtete.
Der Freiherr musterte ihn aus seinem Rollstuhl heraus.
»Sie tragen Arbeitshosen?«
Es war mehr eine Feststellung als eine Frage.
»Manchesterhosen«, sagte Straube mit seiner hohen Stimme. »Und ich trage sie schon deswegen besonders gern, weil Ihr Sohn August sie mir hat anfertigen lassen.«
»August – soso.«
»Ach, Manchesterhosen sind das«, versuchte die Großmutter mal wieder zu retten, was nicht zu retten war, »da wäre ich nie darauf gekommen. Die samtigen Streifen und der Strich des Stoffs geben ihrer Erscheinung eine gewisse Eleganz.«
»Sehr elegant«, bestätigten auch Sophie, Anna und Ferdinandine und reichten ihm die Hand. Es gab Tee und Butterbrote. Werner und Fritz kamen herunter, August war nicht dabei, er war gerade auf der Jagd und auch Annette erschien erst, als der Tee schon getrunken war. Ihr Kleid war voller Staub und in der rechten Rocktasche steckte der Mineralien-Hammer. Straube nahm ihre Hand, sagte nichts und sah sie bloß an.
»Willkommen, lieber Straube«, sagte Nette förmlich, »Sie sind bestimmt müde. Waren Sie schon auf dem Zimmer?«
»Ich bin nicht müde«, sagte Straube, »ganz im Gegenteil. Ich würde gern noch ein paar Schritte gehen. Wollen Sie mit mir kommen und mir einmal Bökendorf zeigen? Nun war ich schon so oft hier und jedes Mal zeigen mir Ihre Herren Onkel nur die eine Seite, den Weg nach Abbenburg mit seinen Hasen und Hirschen. Nicht einmal bin ich im Dorf gewesen.«
Er stand auf und bot ihr den Arm.
»Sie werden enttäuscht sein«, warnte Nette und schob ihre kleine Hand über seinen Flausärmel, »die Bökendorfer halten wenig auf die Annehmlichkeit des Wohnens und die Miststätten liegen offen an der Straße. Aber wenn Sie es wünschen, will ich Ihnen die Triumphe zeitgenössischer Lehm- und Flechtwerkarchitektur gern vorführen.«
Sie ließen die Familie mit ihren Butterbroten und Erwartungen allein zurück.
»Das ist ja so unhöflich«, rief Anna, »Straube hat noch nicht einmal sein Bündel in Augusts Zimmer gebracht.«
»Ach Kind, nun lass die beiden doch«, erwiderte die alte Freifrau, »es ist nun einmal eine große Herzensfreundschaft zwischen ihnen.«
»Ich habe allmählich genug von Nette«, sagte Anna. »Immer will sie etwas Besonderes sein, spielt Klavier, als ob sie gerade einen Anfall hat, oder macht sich mit ihren Gedichten wichtig. Und nun nimmt sie uns auch noch Straube weg.«
Sophie kam ihr zu Hilfe.
»Als wenn das keinen Aufschub geduldet hätte. Bökendorf! Nicht einmal auf August hat er warten wollen.«
»Und sie ist so schrecklich aufdringlich«, sagte Ferdinandine, »immer versucht sie, bei den Männergesprächen mitzumischen. Als wäre sie so eine Berliner Salondame – nur ohne die Eleganz und den Witz natürlich.«
»Seid nicht albern«, sagte ihr Bruder Fritz, »euch verbietet doch auch niemand den Mund.«
»Nein, Fritz, Ferdinandine hat recht«, mischte sich Werner ein. »Wenn unsere Schwestern etwas zu den Gesprächen beitragen, dann bewegt sich das immer in den Grenzen weiblicher Sittsamkeit. Und im Gegensatz zu Annette wissen sie auch, wann eine höfliche Gesprächsbeteiligung in Impertinenz umzuschlagen droht.«
Nette und ihr Herzensfreund gingen nebeneinander über die staubige Dorfstraße.
»Was für eine schöne Farbe die Häuser haben«, sagte Straube, wild entschlossen, Gefallen am Dorf zu finden, »so eigentümlich gemasert.«
»Ulmenholz«, sagte Nette, »die alten Häuser sind noch alle aus Ulmenholz gebaut. Inzwischen kann man in den Wäldern lange suchen, um noch eine Ulme zu finden. Sie werden nicht mehr gepflanzt. Sie wachsen zu langsam.«
»Ach ja«, seufzte Straube und wich einem Misthaufen aus, »heute muss ja alles husch, husch gehen. Sogar im Wald soll es sich lohnen.«
Rauch quoll aus einem der Häuser, quoll gleichermaßen aus Fenster und Tür wie aus dem Schornstein, was seine Bewohnerin nicht daran hinderte, im Inneren herumzufuhrwerken. Als sie eine Decke aus dem Fenster hängte, sah man das Gesicht, das viel älter wirkte, als der junge sehnige Körper hatte vermuten lassen. Ein fast südländisches Aussehen, bis auf das blonde Haar. Ihr Mann, ein großer, hagerer Kerl, dessen Gesicht schon jetzt tief gebräunt war, stapelte im umzäunten Garten Holz. Er hielt inne, als die Herrschaften sich näherten, und zog seine Mütze. Mit scharfen, schlauen Augen musterte er das Paar. Nette rückte unwillkürlich ein wenig von Straube ab.
»Hier«, sagte sie und wies auf ein Haus, das sich in nichts von den anderen unterschied, »hier im Heggelken-Haus hat Anfang des 17.Jahrhunderts ein mächtiger Zauberer gewohnt, der sich in einen Werwolf verwandeln konnte.«
»Tatsächlich?«
»Der Sage nach. Mein Vorfahr, Franz-Dietrich von Haxthausen, hat ihn gejagt und endlich mit einer silbernen Kugel angeschossen und gefangen genommen.«
»Ein tatkräftiges Geschlecht, diese Haxthausens«, sagte Straube.
»Der Zauberer hat ihm für seine Freiheit eine goldene Kette geboten, welche dreimal um den Bökerhof gehen sollte und die er in einer Nacht aus England holen wollte. Mein Vorfahr hat dies aber ausgeschlagen und den Zauberer verbrennen lassen.«
»Der arme Kerl«, sagte Straube. »Glauben Sie eigentlich, was Sie mir da erzählen?«
»Natürlich. Es gibt ja sogar Prozessakten darüber.«
»Gewiss – aber glauben Sie es auch? Diese Werwolf-Sache.«
»Natürlich nicht.«
»Das beruhigt mich sehr. Bei August bin ich mir da nicht immer sicher. Manchmal habe ich das Gefühl, heute glaubt jedermann nur noch das, was ihm in den Kram passt, und ich bin der letzte Dummkopf, der sich von der Wirklichkeit in seinen Phantasien stören lässt.«
Inzwischen war August von der Jagd zurück und natürlich maßlos enttäuscht, seinen besten Freund Straube nicht vorzufinden.
»Ich kann ihn für dich suchen gehen«, sagte Anna.
Sie ging ins Dorf, lief die Straße rauf und runter, schlau beäugt von dem braun gebrannten Holzstapler. Da sie Nette und Straube dort nicht fand, suchte Anna als Nächstes im Park, zuerst auf der Carlshöhe, einem kleinen Steinbau auf einer Anhöhe, die ihr Bruder Carl hatte anlegen lassen. Aus dem inneren Raum führte eine Treppe nach oben auf eine Terrasse, deren Aussicht immer alle Besucher begeisterte. Im Sommer schaute man auf ein großes Kornfeld, das am Berge wogte wie die See. Anna stieg die Treppe hoch. Sie fröstelte. Die Dämmerung setzte bereits ein. Niemand da. Leer und verlassen lag die Terrasse vor ihr. Anna ging bis zum Geländer und sah sich um. Da lag der Berg, das Feld war noch grün, und wogen wollte es gerade auch nicht. Außer zum Berg konnte man auch in das benachbarte Boskett sehen, mitten hinein wie in eine geöffnete Hutschachtel. Sie beugte sich vor. Dort unten, in dem von Taxuswänden eingefassten Freiluft-Salon, ging etwas ganz und gar Empörendes vor, etwas so Abscheuliches, dass sie beinahe die Fassung verloren und aufgeschrien hätte.
Am Abendbrottisch saß das Paar dann da, als wäre gar nichts geschehen. Anna versuchte Nette in die Augen zu sehen, ihr durch beständiges Anstarren das Gefühl zu vermitteln, sie sei entlarvt. Aber Nette aß in aller Ruhe vier Brote nacheinander, ohne auch nur den Ansatz eines schlechten Gewissens zu zeigen. Gerade erst Beneke und nun wieder Straube. Dabei war Nette noch nicht einmal hübsch. Farbloser Teint, farblose Lippen und dann diese Glupschaugen.
August erzählte mal wieder von seiner Volksliedersammlung, die so gut wie fertig war. Mit Klavier und Gitarrenbegleitung, was natürlich viel besser sein würde als Brentanos und Arnims Wunderhorn. Vorerst würde es eine kleine Ausgabe von hundert Stück geben. Jacob Grimm würde eine Abhandlung dazu schreiben, und Straube sollte endlich in Gang kommen und ebenfalls dazu beitragen. Straube versprach es.
»Meinst du, ich sollte auch Hassenpflug fragen?«, fragte August.
»Ludwig Hassenpflug ist auf dem Weg nach Berlin, um sich von seinem Vetter Wolfart zwei Wochen lang mesmerisieren zu lassen. Hat er dir nichts davon erzählt? Das sieht ihm ähnlich. Aber es geht ihm auch gar nicht gut. Er hat sich dermaßen überarbeitet, dass er überhaupt kein Papier mehr ohne inneren Widerstand anrühren kann. Das muss man sich mal vorstellen. Wie ein armer Gaul, der zuschanden geritten wurde. Die älteren Kollegen schieben ihm alles rüber, was sie selber nicht schaffen. Und er lässt sich alles aufhalsen und ist trotzdem nicht beliebt. Hassenpflug spricht von einem Ausgebranntsein.«
»Solche Krankheiten sind doch nur eine Erfindung der heutigen Zeit«, knurrte der alte Haxthausen. »Ein Ausgebranntsein? Was soll das bitte sein? Früher hieß das Faulheit.«
»Das ist von hier aus vielleicht schwer zu beurteilen«, erwiderte Straube höflich. »Er war jedenfalls sehr verzweifelt und fürchtete, bald völlig arbeitsunfähig zu sein.«
»In der Tat, das könnte schwierig werden, ein Assessor, der kein Papier mehr anfassen mag«, sagte der alte Haxthausen.
Wieder fixierte Anna ihre unbotmäßige Nichte, versuchte, durch gnadenloses Anstarren ohne einen Wimpernschlag ihr schlechtes Gewissen zu wecken. Vergeblich. Es ging nicht anders, sie musste Nette am nächsten Tag zur Rede stellen, bevor noch Schlimmeres geschah.
»Ich habe euch gesehen.«
»Wen meinst du mit euch?«, fragte Annette mit selbstzufriedenem Lächeln.
Sie gingen über den sonnenbeschienenen Hof. Annette hielt einen kleinen Primelstrauß in der Hand. Den hatte Anna eigentlich für Straube gepflückt. Aber Straube hatte die Blumen gleich an Annette weitergereicht. Es wäre ein Jammer, wenn diese Sonnengesichtlein bei ihm und August in der Stube vor sich hin welkten, sie sollten lieber draußen bei den schönen Mädchen sein und mit ihnen um die Wette leuchten, so habe sich der Schöpfer das nämlich gedacht. Deswegen hatte Nette sie jetzt, die Blumen.
»Tu nicht so! Du weißt genau, wen ich meine: dich und Straube. Ich habe euch im Boskett gesehen. Wie kannst du uns nur so blamieren?«
Es war nicht so, dass Anna Annette beneidete. Natürlich nicht. Das wäre ja absurd gewesen. Nicht nur war sie in jeder Hinsicht hübscher als ihre um drei Jahre ältere Nichte, die da neben ihr hertrampelte, sie besaß im Gegensatz zu ihr auch ein einfaches, edles Wesen und hatte es gar nicht nötig, sich ständig in den Vordergrund zu spielen. Und wenn Straube sich nicht um sie, sondern um Annette bemühte, dann deswegen, weil jemand wie Anna völlig außerhalb seines Vorstellungsvermögens lag. Bei Annette aber schien er sich Hoffnungen zu machen, und das war eine Beleidigung für die ganze Familie.
»Ach das«, sagt Annette völlig unbeeindruckt. Sie blieb unter Ludowinens Linde stehen, hob einen Arm aufreizend langsam über den Kopf und strich mit den Fingerspitzen durch die weichen herzförmigen Blätter, die sich gerade erst hervorgewagt hatten. Dann ließ sie sich in einer drehenden Spiralbewegung auf die dazugehörige Bank sinken. Nicht einmal hinsetzen konnte sie sich, ohne eine große Sache daraus zu machen.
»Wie kannst du nur«, fing Anna noch einmal an und setzte sich neben sie.
»Was denkst du denn?«, erwiderte Annette lächelnd.
Anna wurde unsicher. Vielleicht war ja wirklich nichts weiter passiert. Annette war so unattraktiv, so laut, so verrückt, dass es tatsächlich schwer vorstellbar war, irgendein Mann könnte sich ernsthaft für sie interessieren. Nicht einmal Straube. Aber sie hatte es gesehen. Sie hatte gesehen, wie er die Innenfläche ihrer Hand geküsst hatte. Leidenschaftlich. Und wenn sie nicht so schnell wieder gegangen wäre, hätte sie womöglich noch mehr gesehen.
»Oh pfui! Ist dir eigentlich klar, was du dem armen Mann damit antust, wenn du ihm Hoffnungen machst? Ihr könnt gar nicht heiraten. Er ist Protestant. Und bürgerlich. Mutter würde es niemals erlauben. Und deine Mutter erst recht nicht. Du weißt ja wohl noch, wie es mit Onkel Max ausgegangen ist?«
Maximilian-Friedrich Droste zu Hülshoff, Annettes musikalischer Onkel aus Münster, hatte 1788 ohne die Erlaubnis der Familie zwar keine Protestantin, aber eine Bürgerliche geheiratet. Die erste Missheirat nach Jahrhunderten in der Familie, und auch der Umstand, dass Bernhardine Engelen als die schönste Frau Münsters galt und Tochter des höchsten fürstbischöflichen Finanzbeamten war, machte es nicht besser. Selbst den Pfarrer hatten die beiden nur dadurch zur Trauung bewegen können, dass sie in den frühesten Morgenstunden in sein Schlafzimmer einbrachen und den verwirrten Mann so lange bedrängten, bis er schließlich in Hemd und Nachtmütze zum Zeugen ihres Eheversprechens wurde. Damit man ihn endlich in Ruhe ließ und er zurück ins Bett konnte. Danach mussten Onkel Max und Tante Bernhardine Stadt und Land verlassen und wagten erst zwanzig Jahre später nach Münster zurückzukehren – als das Fürstbistum nicht mehr bestand.
»Ach Onkel Maxi«, sagte Annette, als wäre gar nichts dabei, wenn jemand die Familie ins Gerede brachte. Sie zupfte eine goldgelbe Primel aus dem Strauß und rollte den Stängel gedankenverloren zwischen den Fingern. Was Anna noch wütender machte.
»Ist dir eigentlich klar, dass August mehr oder weniger für den Unterhalt von Straube aufkommt? Damit demütigst du die ganze Familie, wenn einer wie Straube glaubt, er könne sich Hoffnungen machen.«
Endlich verschwand die unangemessene Selbstzufriedenheit aus Annettes Gesicht. Verdrossen starrte sie vor sich hin.
»Ein Bürgerlicher!«, setzte Anna nach. »Erst Jenny, dann du. Eure armen Eltern! So wie du dich benimmst, wirst du für jeden standesgemäßen Mann indiskutabel.«
»Lass Jenny aus dem Spiel. Außerdem ist ja gar nichts passiert. Wir haben uns bloß unterhalten. Über die Treibhäuser … und wie schön sie jetzt umgestaltet sind. Ich soll sie ihm morgen zeigen.«
»Die Treibhäuser?«
Anna sah ihr fassungslos ins Gesicht. Annette versuchte diesem Blick standzuhalten, begann aber schnell zu blinzeln und dann kicherte sie unerhörterweise los, und da musste plötzlich auch Anna kichern. Es war das Letzte, was sie wollte, sie war empört über sich selbst. Wie konnte sie nur lachen und Annette damit das Gefühl geben, ihr Verhalten wäre verzeihlich. Sie versuchte es zu unterdrücken, aber es war stärker als sie. Annette umarmte sie kichernd und legte ihren Kopf auf Annas Schulter.
»Das ist nicht lustig«, sagte Anna und rutschte zur Seite.
»Nein«, sagte Annette und richtete sich kichernd wieder auf.
»Dir ist nicht klar, was du Straube antust«, versuchte Anna es. »Der arme Kerl. Du darfst ihm keine Hoffnungen machen. Du liebst ihn doch gar nicht.«
»Da bin ich mir nicht so sicher«, sagte Annette. »Er ist jedenfalls ein guter Mensch. Du weißt, wie zerrissen ich immer bin. Ihr habt es mir schließlich oft genug vorgeworfen. Aber wenn Straube mit mir spricht, werde ich plötzlich ganz ruhig, einfach nur durch die Art, wie er … spricht. Und mich ansieht.«
Nette rollte und quetschte einen Blütenstängel nach dem anderen in ihren kleinen matschigen Händen, bis die Blumen immer schrecklicher aussahen, zuerst wie von einem Wind zerzaust und dann wie zertreten.
»Aber das ist es doch gerade«, rief Anna, »er soll dich nicht ansehen! Er ist ein Denker, ein großer Mann! Als seine Frau wäre es deine Aufgabe, dafür zu sorgen, dass alle auf ihn sehen. Am Ende nimmst du ihm noch sein Genie.«
»Denkst du, das wäre möglich?«, sagte Nette und schlitzte einen Primelstiel der Länge nach mit dem Daumennagel auf. »Ich weiß, ihr haltet ihn alle für ein Genie, aber Straube hat mir einige seiner Gedichte zu lesen gegeben … Ehrlich gesagt, fand ich … nun, sie waren schon voll Geist und Leben, aber sie halten sich nicht immer in der gleichen Höhe:
›O träufle auf mich herab den Balsam des Friedens
In die wunde Brust voll Unruh und Sorgen …‹
Also ich weiß nicht.«
»Du verdienst ihn gar nicht«, rief Anna aufgebracht. »Erst machst du ihn in dich verliebt und kaum hast du ihn in deinen Netzen, verachtest du ihn dafür.«
»Nein, so ist es ja gar nicht. Ich achte ihn. Ich achte ihn sogar sehr. Ich weiß nur nicht, ob er wirklich ein Genie … natürlich sind da auch Szenen von tiefster Feinheit …«
Sie sah auf die Blumen in ihrem Schoß, die ihre Finger gerollt und zerquetscht und in jeder nur erdenklichen Art gemartert hatten, und schluchzte plötzlich laut auf.
Geht das wieder los, dachte Anna.
»Der arme Straube«, schluchzte Annette, »der arme, arme Straube!«
Sie nahm ein mit einem Schwan besticktes und nicht ganz sauberes Taschentuch aus ihrer Schürze und schnäuzte sich ausgiebig.
»Der arme, arme, arme Straube«, heulte Annette, hörte damit aber plötzlich auf und sah Anna mit einem ganz anderen Gesichtsausdruck an:
»Hast du etwas zu schreiben da?«
»Nein, natürlich nicht. Denkst du, ich trage ständig einen Packen Papier und ein Tintenfass mit mir herum?«
»Dann hole einen Briefbogen, eine alte Zeitung, irgendetwas! Schnell, du musst etwas für mich aufschreiben, bevor ich es vergesse. Lauf schon! Ich darf mich nicht rühren, sonst ist es weg.«
Das war das Erstaunliche an Annette. Sie war eine Nervensäge, ein Trampel, eine völlig unmögliche Person. Aber manchmal wurde sie von einem Moment zum nächsten herrisch, unbeugsam und selbstsicher, und wenn sie in diesen Zustand kam, konnte Anna, die sich ihr normalerweise unendlich überlegen fühlte, jedes Mal nicht anders, als widerspruchslos auszuführen, was Annette von ihr gefordert hatte. Auch diesmal sprang sie auf wie eine Magd und lief ins Haus, um das Verlangte zu holen, kam mit Bleistift und einem Briefbogen in den Hof zurück, wo sie sich neben Nette niederließ, um sich von ihr die neuesten Ergüsse diktieren zu lassen.
Annette zog ihr linkes Bein zu sich auf die Bank, verhakte den Fuß unter dem rechten Knie, lehnte sich zurück und starrte in die Baumkrone hinauf.
»Was sind das für Finger, die … nein, nicht schreiben, warte! Ich fange noch einmal an: Was sind meine Finger so grün … hast du das? Was sind meine Finger so grün, Blumen hab’ ich zerrissen, sie waren ohne Schuld und haben doch sterben müssen.«
»Nicht so schnell«, sagte Anna, »ich bin erst bei ›zerrissen‹. So, jetzt habe ich es … ›sterben müssen‹ …«
Es war hübsch, dieses Gedicht, das musste Anna zugeben. Wirklich ein hübsches Gedicht, das sich auf einer Hochzeit nett aufsagen ließ. Nein, auf einer Hochzeit wohl eher nicht, dafür war es zu finster, aber vielleicht auf einer Beerdigung. Man würde viel Zuspruch dafür bekommen. Und Annette diktierte es ihr jetzt einfach so aus dem Stegreif, einfach so. Falls sie sich nicht bloß wichtig machte. Das würde ihr ähnlich sehen, dass sie in der letzten Nacht stundenlang daran herumformuliert hätte und sich jetzt hinsetzte und so tat, als wäre es ihr gerade erst in diesem Moment eingefallen.
»… ihr sollt vor eure Füße sehn.«
Mit dem letzten Satz sank Annette ganz erschöpft in sich zusammen und legte sich der Länge nach auf die Bank, den Kopf in Annas Schoß. Sie atmete flach und pfeifend und wurde zusehends weißer im Gesicht.
»Das war zu viel«, rügte Anna. »Du sollst dich nicht so echauffieren. Lass uns ins Haus gehen, du musst ins Bett.«
»Gleich. Hast du den letzten Satz? Noch nicht? Gut, ich will ihn ändern.«
Als der letzte Satz stand, nahm Nette ihrer jugendlichen Tante herrisch den Briefbogen aus der Hand und zog ihn in Zentimeterentfernung an ihren Augen vorbei, bis sie alles gelesen hatte, was da eben aus ihrem Hirn gesprudelt war. Sie nickte wie ein Lehrer, der mit seinem Schüler zufrieden war, es aber nicht über sich brachte zu loben. Ihr Gesicht war noch weißer geworden, der Atem klang nicht mehr menschlich, eher wie das Geräusch von etwas Metallischem.
»Versprich mir, dass du Großmutter nichts erzählst.«
»Natürlich nicht, Mutter würde sich entsetzlich aufregen und mir Vorwürfe machen, dass ich dir nicht früher Einhalt geboten habe.«
»Nein, ich meine das mit Straube. Dass wir morgen ins Treibhaus gehen. Du darfst es ihr nicht sagen. Sie ist eine Heilige. Es würde sie töten. Und den anderen darfst du auch nichts erzählen. Schwöre es! Schwöre, dass du niemandem etwas sagst, niemandem und schon gar nicht August.«