Eine Mietkutsche rumpelte in einer Staubwolke durchs Westfälische. Stechfliegen peinigten Kutscher und Pferde. Im Wageninneren litt durchgerüttelt und völlig verschwitzt Wilhelm Grimm. Ihm war übel, da er gegen die Fahrtrichtung saß. Die Sonne briet ihn durch das Kutschenfenster hindurch, und der feine Staub, der sich unerbittlich durch die Fugen drängte, verpasste ihm eine goldene Panade. Gegenüber saßen August von Haxthausen und der schöne Arnswaldt. August trug seinen moosgrünen Gehrock und wadenhohe Stiefel. Arnswaldt war in ein silbriges Grau gekleidet, über den Stehkragen quoll ein weißes, mit goldenen Fäden durchzogenes Tuch, das mit den goldenen Punkten in seinen Augen korrespondierte. Es ging über Steinhaufen und Wurzelstumpen, als wenn die Erde bebte.
»Wusstet ihr, dass Westfalen bei englischen Reiseschriftstellern als die schlimmste Gegend Europas gilt«, presste Arnswaldt zwischen den Zähnen hervor. Er hatte sich mehrere Lappen um den Kopf gewickelt, um einer Gehirnerschütterung vorzubeugen. Grimm nickte bitter und tupfte sich mit einem Taschentuch das Blut ab, das ihm aus der Nase tropfte. Westfalen war echt das Letzte: elende Dörfer, räudige Köter, die die hin- und herschwankende Kutsche kläffend verfolgten, Verwachsene aller Art, die an fauligen Kartoffeln nagten, und schmutzige Gasthöfe mit schwarzen Daumenabdrücken auf der Butter. Von den sogenannten Straßen mal ganz zu schweigen. Es gab keine Provinz mit einem ungünstigeren Terrain, was die Postwege betraf.
Als es zur Abwechslung mal etwas ebener dahinging, nahmen August und Arnswaldt ihr Gesprächsthema von vor einer Stunde wieder auf: Straube und der Liebeswahn, in dem er sich anscheinend befand. Wilhelm seufzte. Eine seltsam schiefe Gestalt, dieser Heinrich Straube. Außerdem maßlos überschätzt.
»Das ist ihm nicht ernst. Das kann ihm nicht ernst sein. Er wird es nicht wagen …«, sagte August.
»Ich fürchte, doch«, erwiderte Arnswaldt arrogant. Warum sollte er nicht arrogant sein: Er war zweiundzwanzig, Sohn eines Ministers aus altem thüringischen Adelsgeschlecht und von geradezu bestürzender Schönheit. Wenn er nicht gerade diese Lappen trug, hatte er seine dichten braunen Haare verwegen zur Seite drapiert, und zudem verfügte er über zwei mandelförmige, melancholisch dreinblickende Augen.
»Direkt gesagt hat er es nicht, nicht einmal mir gegenüber, aber er trägt sich neuerdings mit dem Gedanken, das Adelsrecht seiner Vorfahren erneuern zu lassen.«
»Als wenn es sonst keine Hindernisse gäbe …«, knurrte August.
»Letztes Jahr noch habe ich eine Unterschriftenliste in Umlauf gebracht, auf der sich jeder eintragen konnte, der bereit war, einen jährlichen Beitrag zum Unterhalt des Kommilitonen Straube zu leisten – es waren übrigens nur zwei, die unterschrieben haben, Mierlich und Hoffmann, sodass die finanzielle Last mal wieder fast gänzlich an mir hängen geblieben ist – und jetzt denkt er, er kann meine Nichte heiraten.«
»Das ist vermutlich sowieso Unfug, dass seiner Familie irgendein Titel zustünde«, sagte Arnswaldt. »Soviel ich weiß, hat Heinrichs Vater sein Geld in einer Lotterie gewonnen. Man stelle sich vor … in der Lotterie!! Und dann auch noch wieder bankrott gemacht.«
»Aber der liebe Straube kann ja nichts dafür«, rief August, nun wieder ganz Freund, »und wer weiß, was noch aus ihm wird. Wilhelm, sag du mal: Was hältst du von Straube?«
Wilhelm Grimm zögerte. Wie viele Adlige verhielt sich Freund August demokratisch und gesellig, als gebe es keine Standesunterschiede, erwartete aber auch, dass die Bürgerlichen sich ihrerseits bemühten, diese Unterschiede niemals zu vergessen.
»Als Bräutigam? Völlig indiskutabel«, sagte Grimm. »Absurder Gedanke.«
»Ja, ja, natürlich, keine Frage«, erwiderte Freund August beruhigt, »allerdings bin ich mir mehr als sicher, dass Straube es in nicht allzu ferner Zeit zu Ruhm und Ansehen bringen wird.«
»Er lacht zu viel«, sagte Grimm, »Straube lacht entschieden zu viel.«
»Was?«
August wandte ihm das linke Ohr zu.
»Straube lacht zu viel.«
»Straube lacht zu viel? Na hör mal! Du redest vom wahrscheinlich größten Dichter Deutschlands! Arnswaldt, was sagst du? Findest du, dass Straube zu viel lacht?«
»Er lacht tatsächlich ziemlich oft«, sagte Arnswaldt und schüttelte sich das lose Lappenende aus dem Gesicht.
»Na, es kann ja nicht jeder so trübsinnig wie ihr daherkommen«, erwiderte August.
Nun rüttelte es wieder so stark, dass sie nicht mehr reden konnten. Wilhelm Grimm sah aus dem Fenster. Die Landschaft war deprimierend, Wiesen, Wiesen, Wiesen, es musste Stunden her sein, dass sie an einem einsamen Gehöft vorbeigekommen waren, und mehr als einen halben Tag, dass sie eines dieser unbeschreiblich schmutzigen Dörfer passiert hatten. Windschiefe Hütten, die kaum noch menschlichen Behausungen glichen, bessere Schweinekoben allenfalls, ein einziges Fenster, Löcher im Dach, und jeden Moment drohte die ganze Pracht einzustürzen.
»Ich bin sicher, dass Nette an allem schuld ist«, ließ August nicht locker. »Sie hat Straube ermuntert, ohne es ernst zu meinen. Weil sie eingebildet ist, und jetzt hat sie jemanden gefunden, der bereit ist, ihre Mädchengedichte zu loben. Deswegen ermuntert sie ihn. Aber das ist natürlich völlig undiskutabel. Das soll er sich aus dem Kopf schlagen.«
Grimm verstand nicht, wieso überhaupt darüber gesprochen wurde. Na gut, Annette von Droste-Hülshoff war ziemlich vorlaut und anstrengend, aber sie war immer noch ein Freifräulein. Wollte Straube die Weltordnung umstürzen? Mit einem Freifräulein konnte einen allenfalls eine warme Herzensfreundschaft verbinden – wie sie ihn, Wilhelm, mit Fräulein Jenny verband. Fräulein Jenny war lieb und unscheinbar, hatte ihm auch diverse Geschichtchen für den Märchenband geliefert, darunter das von den zertanzten Schuhen, ein besonders schönes. Wenn sie sich nur nicht in ihn verliebt hätte. Schrecklich! Peinlich! Gar nicht auszudenken, wenn dadurch der Verdacht aufkäme, dass er sich ihr genähert hätte. Je unsicherer die ökonomische Lage des Adels wurde, desto hartnäckiger klammerten sich die Barone an ihre Titel und versuchten, ihre Kreise rein zu halten. Schließlich war es sogar zu einer Aussprache mit August gekommen. Wie ein dummer Schuljunge hatte er vor ihm gestanden und beteuert, nichts getan und nichts versprochen zu haben. Als wenn er sich jemals für dieses muscheln-und-blumen-sammelnde Geschöpf interessiert hätte! Na ja, gut, ganz kurz vielleicht. Aber er kannte seinen Platz. Umso empörender, dass August jetzt allen Ernstes die Möglichkeit einer Verbindung seiner Nichte Annette mit diesem Straube in Betracht zog. Straube und eine Droste-Hülshoff! Dagegen wäre die Verbindung zwischen ihm und Fräulein Jenny ja wohl ein Segen gewesen.
»Was gibt es Neues aus Kassel?«, fragte August. »Geht es Jacob gut?«
»Nicht so gut. Er ist schwermütig, hat gar keine Freude mehr, an nichts. Aber es wäre ihm nicht recht, wenn ich ausführlicher darüber sprechen würde. Und dann ist ja auch unsere gute, liebe Kurfürstin von uns gegangen. Wir können es immer noch nicht fassen.«
Grimm begann, ausführlich von seiner letzten Begegnung mit der Kurfürstin zu erzählen, die ihn und Jacob so sehr geschätzt hatte, weniger um ihrer selbst willen als vielmehr um ihrer Tante willen, die eigentlich weniger ihre Dienerin als vielmehr ihre Freundin gewesen war. Es hatte sogar noch Himbeerwein auf dem Tisch der Kurfürstin gestanden – Himbeerwein hatte Tante Zimmer immer so gern getrunken – und Gebäck und Obst, als wenn die Tante jeden Moment hereintreten könnte. Dem Louis hatte die Kurfürstin einmal sechshundert Taler zu seinem Studium geschenkt. Wilhelm erging sich gerade in der detaillierten Beschreibung darüber, wie Jacob und er ihr zum Abschied die Hand geküsst hatten, als die Kutsche mit einem Ruck stehen blieb und August und Arnswaldt von ihrer Bank schleuderte – mitten auf Wilhelm drauf. August rappelte sich als Erster hoch, stieß den Wagenschlag auf und lehnte sich mit dem Oberkörper hinaus.
»Was ist los?«
Der Kutscher sprang vom Bock.
»Es geht nicht mehr weiter, Euer Hochundwohlgeboren, überzeugt Euch selbst.«
Alle drei stiegen aus und klopften sich den Staub aus den Kleidern. Vor ihnen, mitten auf der Straße, klaffte ein Spalt, in dem ein Pferd bequem verschwinden konnte. Links ging es eine steile Wiese hinunter und rechts reihten sich Tannen dicht an dicht – direkt bis an den Weg.
Sie taten ein paar Schritte, um hinter die nächste Biegung zu schauen. Die leichte Bewegung genügte, um bei Wilhelm Grimm einen heftigen Hustenanfall auszulösen. All der Straßenstaub, der sich auf seine Lungenflügel gelegt hatte, wollte wieder hinaus. Er musste sich an einer Birke festhalten. Auch hinter der Kurve hatte die Straße immer noch eine Rinne in der Mitte. An den Seiten war sie kaum befahrbar, dort würden die Räder durch tiefen Sand mahlen.
»Die Regenfälle letzte Woche«, sagte der Kutscher. »Wahrscheinlich sieht es jetzt den ganzen Weg bis Brakel so aus. Wir müssen die Pferde ausspannen und ein paar kräftige Männer holen, die die Kutsche im Gleichgewicht halten, sonst geht das nicht gut aus. Das Beste wird sein, die Herrschaften gehen das letzte Stück zu Fuß, es sind ja keine zwei Stunden bis Bökendorf und wer weiß, wann wir mit der Kutsche eintreffen werden.«
»Sehr gut, mir geht das Geschaukel sowieso schon auf die Nerven«, sagte August, sah aber dann auf Grimm, der sich inzwischen festgehustet hatte, mit hochrotem Kopf nach Atem rang und konvulsivisch zuckte.
»Mensch Wilhelm, ich fürchte, für dich ist das zu anstrengend. Es ist besser, du wartest und fährst mit der Kutsche weiter. Es macht dir doch nichts aus, wenn wir dich hier zurücklassen?«
Grimm röchelte nach Luft und versuchte gleichzeitig den Kopf zu schütteln. Tränen schossen ihm aus den Augen. Nein, nein, natürlich machte es ihm nichts aus. Erneuter Hustenanfall. Speichel flog ihm aus dem Mund.
»Bestens. Wir sollten nicht alle zu spät kommen. Es ist schließlich Werners Geburtstag. Und wir heben dir ein Bratenstück auf und werden auf deine Gesundheit trinken.«
»Was hat er?«, fragte Arnswaldt uninteressiert. »Husten? Das hatte ich neulich auch, eine scheußliche Angelegenheit, aber da muss man sich eben ein wenig zusammenreißen.«
Wilhelm Grimm röchelte zustimmend.
August und Arnswaldt brachen sich Wanderstäbe aus dem Randbewuchs und machten sich auf zum Bökerhof. Der Kutscher und sein Knecht spannten die erschöpften Pferde aus und ließen sie grasen, gingen dann in gebührender Entfernung hinter den beiden Herren her, um in Brakel Hilfe zu holen. Wilhelm, der inzwischen aufgehört hatte zu husten, blieb mit der Kutsche und den Koffern zurück.
Als alle vier hinter der Wegbiegung verschwunden waren, wurde es sehr still. Dann begann eine verspätete Heckenbraunelle zu zwitschern und Wilhelm kletterte auf den Kutschbock, blinzelte in die Sonne und sah den Pferden beim Grasen zu. Große träge Tiere, die wie Pendeluhren mit den Schweifen schlugen, sich aber nicht die Mühe machten, die Fliegen von ihren Köpfen zu verscheuchen, sondern sie einfach ertrugen. Zu faul, um die Köpfe zu schütteln. Oder zu verfressen. Wie Straube. Dass August sich da so hineingesteigert hatte, unbedingt ein Genie in Straube sehen zu wollen. Auch Die Wünschelruthe hatte August doch in Wirklichkeit nur gegründet, damit der dumme Kerl ein Redakteursgehalt beziehen und wenigstens so tun konnte, als wenn er arbeitete. Ein halbes Jahr war das gerade mal gut gegangen. Dabei hatten dank Augusts Beziehungen alle dafür geschrieben, Achim von Arnim, Ernst Moritz Arndt, sogar den faulen Brentano hatte August animiert. Das war allerdings wirklich eine Leistung – etwas von Brentano zu bekommen. An Brentano war etwas Träges, das sah man schon daran, wie er ging. Wenn er selber etwas wollte, so konnte es natürlich nie schnell genug sein: ›Schick bitte sofort, du weißt, dass wir ohne dein Genie völlig aufgeschmissen sind‹, und so weiter. Richtig schmierig konnte er dann werden, versprach einem alle möglichen Gegengefälligkeiten, die er dann natürlich nie einhielt. Kam man selber mit einer Bitte, die gar keine Mühe verursachte, hatte er tausend Ausreden. Auf Briefe, in denen er um etwas gebeten wurde, antwortete er gleich gar nicht und tat später, als hätte er sie nie erhalten. Und dann diese ungebremste Religiosität. Wie bei Arnswaldt. Früher waren die beiden gottlos und genusssüchtig, auch dreist zu den Mädchen, und jetzt gebärdeten sie sich wie die Heiligen, schimpften über den »Aufkläricht« und brachten es fertig, sogar in ihrer christlichen Unterwerfung anmaßend aufzutreten. Auch Grimm schätzte die Religion. Die Religion war das Fundament von allem, ohne Gott war nun einmal alles nichts, und das Leben eigentlich nicht auszuhalten, aber Arnswaldt trieb es in seiner Demutswollust doch anstrengend weit. Wann hatte er bloß angefangen, so penetrant zu frömmeln?
Wilhelm stellte fest, dass er Hunger bekam. Der Proviant, den er sich in einem geknoteten Tuch mitgenommen hatte, war längst aufgebraucht. Er kletterte von der Kutsche herunter und sah unter dem Kutschbock nach, in der Hoffnung, ein Butterbrot zu finden. Dort stand aber nur ein Fässchen Wagenschmiere, und als er – um keine Möglichkeit auszuschließen – auf die Knie ging, um das Brett zwischen den Wagenfedern zu inspizieren, waren dort nur die üblichen Hafersäcke festgebunden. Er stieg von der Kutsche und setzte sich ins warme Gras, war hungrig und wartete darauf, dass ihm etwas Märchenhaftes zustieß oder sich eine gefühlvolle Stimmung einstellte. Darüber schlief er ein. Seltsame Träume peinigten ihn. Zuerst träumte er von seinem Bruder Jacob. Jacob rief, dass er zurückkommen solle. Er sei so traurig. Wilhelm hätte ihn nicht allein lassen dürfen. ›Gott steh mir bei‹, flüsterte Jacob immer wieder. ›Gott steh mir bei‹. Und dann weinten sie zusammen. Dann träumte ihm von Augusts Nichte, nicht Jenny, die liebe sanfte Jenny, sondern die andere, das Biest, die Blonde, Glotzäugige, machte sich wieder über ihn lustig. Machte Scherze über seinen Namen, die überhaupt nicht lustig waren, und wollte und wollte nicht aufhören, obwohl ihm doch schon die Tränen die Wangen herunterliefen. Er schämte sich dafür, aber dann sah er, dass er ja nur ein kleiner Junge war, ein ganz kleiner Junge, der ruhig noch weinen durfte. Es machte nichts. Und mit diesem Gefühl der Erleichterung wachte er wieder auf und fand sich von Ameisen überlaufen, wie Gulliver von den Liliputanern. In der Ferne sah er den Kutscher und seinen Knecht mit vier Männern kommen. Es waren Bauern mit Strohhüten und geknoteten Halstüchern. Sie hatten lange schmale Stangen mitgebracht. Als sie näherkamen, erkannte er, dass es junge Birkenstämme waren, die sie nun rechts und links, vorn und hinten unter die Kutsche klemmten, um sie so über die gefährliche Rinne zu geleiten. Die Pferde grasten derweil noch friedlich vor sich hin.
Einer der Männer hatte seine kleine Tochter dabei.
»Wie heißt du, Kind?«, fragte Grimm freundlich.
»Kriemhilde.«
Grimm sah den Vater fragend an. Der sah zurück, während er seine Schulter an den Stamm presste: »Die Fräulein von Haxthausen haben den Namen ausgesucht und sind Patinnen. Was soll man da machen?«
Es war schon Abend, als Wilhelm Grimm den Bökerhof erreichte. Inzwischen hatte sich das Herzklopfen, sein altes Leiden, eingestellt. Die Familie hatte bereits gegessen, saß aber noch im Entree. Erleichtert erkannte Grimm, dass für ihn noch eingedeckt war. Ein Obstteller stand auf dem Tisch, Plattenkuchen, Pumpernickel, Schinken und Rübenkraut. Und ein Kelchglas für den Wein.
Die Herren mit den windzerzausten Frisuren und den weichen Kragen saßen rauchend und wild diskutierend am Tisch. Die Damen hatten sich über den Raum verteilt, sich auf dem Sofa oder in der Nähe des Kamins niedergelassen und hatten die symmetrisch gescheitelten Köpfe bereits wieder über ein Strickzeug gebeugt – ganz Fleiß und heitere Fügsamkeit. Wer war noch einmal welche? Dort drüben in einem dunkelgrünen Kleid mit kleinem gekräuselten Besatz stand Anna von Haxthausen, einen Strickstrumpf in Händen und mit der Schuhspitze Kreise auf den Boden zeichnend. An Anna erinnerte er sich immer, weil sie vor Jahren die erste Haxthausen gewesen war, die ihm auf seine Bitte hin ein Märchen erzählt hatte. Ein Kind damals noch. Aber wer war die Dicke neben ihr? Er machte nacheinander allen seine Aufwartung. Zuerst der alten Freifrau mit den kugelrunden Augen, die in unerschütterlichem Gottvertrauen die meisten der hier Anwesenden geboren hatte – »Wie sind Sie drei denn gereist, lieber Herr Grimm? Über Geismar?« »Über Geismar, ganz recht.« –, dann dem alten Freiherrn im knarzenden Rollstuhl – »Sie haben lange auf den Kutscher warten müssen? Kein Grund zur Klage. Das hat noch niemandem geschadet. So sehen Sie das doch auch, was?« »Gewiss.« –, dann Werner, dessen vierzigster Geburtstag es schließlich war, der gefeiert wurde, dann Augusts jüngsten Schwestern Anna und Ludowine, dann der dicken eleganten Schwester – ach ja, Ferdinandine von Zuydtwyck hieß sie –, dann Sophie Haxthausen, die hier den Haushalt führte – »Ich habe Ihnen wieder das blasslila Zimmer vorbereitet« –, dann August, Arnswaldt, Fritz und Carl von Haxthausen und Augusts unmöglicher Nichte, die ihn bereits am Nachmittag in seinen Träumen gepeinigt hatte. Sie saß mit einem aufgeschlagenen Buch in der Sofaecke, die Beine unter ihr blaues Atlaskleid auf die Polster gezogen, und starrte ihm mit vorgeschobenem Kopfe entgegen. Etwas Unwirkliches ging von ihr aus. Es lag wohl daran, dass sie so schmal und zart war. Ihr Körper schien gar nicht zu existieren, es sah aus, als würde ein leeres Kleid über dem Sofapolster schweben. Zuletzt begrüßte er seinen eigenen Bruder Ludwig, der von der Hinnenburg hergeritten war.
»Arnswaldt erzählt gerade von seinem Abschiedsfest«, sagte August.
Arnswaldt gab mal wieder den formvollendeten Unterhalter, der auf jeden Einzelnen einging, ein wenig die hübsche Anna charmierte und so ganz nebenbei von der Ruine Plesse erzählte, die er so vorzüglich lieb hatte und in der er den schmerzlichen Abschied von der Studentenzeit in Göttingen begangen hatte. Immer wieder quoll sein angenehmes, herzliches Lachen auf. Arnswaldt sah in der frühabendlichen Beleuchtung noch schöner aus, als er sowieso schon war, geradezu blendend. Sogar die brave Ludowine warf ihm zartblaue Blicke zu. Übertrieben schön, dachte Grimm.
»Dann leben Sie jetzt also wieder in Hannover«, sagte Annette.
Arnswaldt drehte den Kopf zur Nichte herum und sah durch sie hindurch.
»In Hannover, ganz recht.«
»Bei Ihrer Familie? Sie haben Geschwister?«
»Eine Schwester, ganz recht. Louise.«
Sofort wandte er sich jemand anderem zu. Zu jedem war er zuvorkommend, nur gegen Annette schien er so etwas wie eine Abneigung zu hegen, er beachtete sie kaum. Es war schon auffällig.
Sie schien sich aber nicht besonders viel daraus zu machen, sondern kam stattdessen zu Grimm herüber, um ihm das Buch zu zeigen, das Werner von Haxthausen zum vierzigsten Geburtstag bekommen hatte. Es war ein kleines, handliches Buch, das man in die Rocktasche stecken konnte, dem Anlass gemäß besonders kostbar gestaltet, mit drei vergoldeten Schnittkanten. Der Einband war aus einem silbrig schimmernden Stoff und kunstvoll bestickt. Korn- und Mohnblumen auf beiden Seiten, vorn mit Schmetterling, hinten ohne. Auf den Buchrücken waren untereinander ein Schwan, ein Eichhörnchen und der Name Werner mit der Jahreszahl 1820 gestickt.
»Der Entwurf stammt von Jenny. Die Ausführung haben wir alle zusammen übernommen, das heißt, das meiste stammt natürlich von Ludowine. Sie stickt nun einmal am feinsten.«
Wilhelm lobte das exquisite Buchgewand und schlug die erste Seite auf, auf die zwei große, aus schwarzem Papier geschnittene Initialen, ein ›W‹ und ein ›H‹, geklebt waren.
Der Querbalken des ›H‹ war zu einer Brücke mit Geländer geschnitten, über die eine Frau mit Kiepe und ein Mann mit einem an einem Stock aufgehängten Bündel gingen.
»Und welche der Damen hat hier so fein gearbeitet?«
»Ich weiß es gar nicht. Wahrscheinlich auch wieder Ludowine.«
Wilhelm blätterte weiter. Es war eine Liedersammlung. Die ersten sechs Seiten in feinster Sonntagsschrift ausgeführt – »Von Ludowine«, erklärte Nette –, dann folgten weitere Lieder in der ebenfalls schönen Schrift von Anna. Der Falke war dabei, Oh Maria voll der Gnaden und natürlich die Königskinder, denen dat water vell to breed war. Dazwischen immer wieder gepresste Stiefmütterchen, Rittersporn oder Kleeblätter, oder auch die eingeklebte Radierung einer Kirche, die eine ganze Seite für sich beanspruchte.
»Wie schön, sogar Erntelieder sind dabei! Die sind bestimmt von Ihnen, Fräulein Nette?«
»Nein, von mir ist gar nichts. Ich habe Werner versprechen müssen, später etwas hineinzuschreiben, aber meine Schrift ist so klein und abscheulich, dass ich nur alles verderben würde.«
»Nun, jedenfalls gibt es jetzt endlich eine Liederbuchausgabe, wie es Ihr Onkel sich immer gewünscht hat. Das wird ihm viel Freude machen.«
»Wie geht es Ihnen in Ihrer Bibliothek?«, fragte Annette.
»Nun, wie Sie wissen, arbeite ich in einem recht schönen Saal. Aber es geht einem dort wie den Blumen auf dem Fensterbrett, die die Sonne durch das Glas sehen, aber doch verlernen, was der frische Atem draußen ist. Es ist gut, wieder einmal in Bökendorf zu sein.«
»Sie sehen etwas angestrengt aus. Vielleicht …«
In diesem Moment schien Arnswaldt sich plötzlich besonnen zu haben und sprach Annette unvermittelt an.
»Ich hätte eine Bitte. Ihr Onkel erzählt, dass Sie sehr virtuos am Klavier sind. Würden Sie etwas für mich spielen? Ich habe hier Noten von Schubert. Sie würden mir eine große Freude damit machen.«
Annette warf sich sogleich auf den Klavierhocker und flügelte los. Zu schnell, zu laut, keuchend. Die Familie war etwas geniert. Aber Arnswaldt stand wie selbstverständlich auf, stellte sich ruhig neben das Klavier und klopfte mit der Hand den Takt. Erstaunt sah Annette ihn an. Er lächelte – ein sehr hübsches Lächeln – und sie spielte plötzlich langsamer, so langsam, wie es dem Schubert’schen Lied entsprach, und Arnswaldt begann zu singen. Er hatte eine schöne Stimme, voll wie ein Glockenton. Annette fiel darin ein und sie sangen zusammen, als hätten sie es immer schon getan. Als sie fertig waren, klatschten alle spontan. August rief sogar bravo. Arnswaldt sah Annette tief in die Augen. Statt sie aber nun zurück zu ihrem Platz zu führen, wie es sich gehört hätte, ließ er sie einfach sitzen und ging zu Anna und Ludowine hinüber, als wäre Nette ihm nicht der Mühe wert, einen guten Eindruck zu machen. Sie konnte selber sehen, wo sie noch einen Platz fand. Beschämt erhob sie sich vom Klavier und schlich etwas verloren durch das Zimmer. Grimm stand auf und bot ihr seinen Stuhl an. Dankend nahm sie an. Von ihrem üblichen Spott keine Spur mehr. Stattdessen saß sie jetzt unglücklich vor Grimm, der hinter dem Stuhl stehen geblieben war, und sah mädchenhaft schüchtern abwechselnd zu Boden oder zu Arnswaldt hinüber. Der hatte Anna und Ludowine inzwischen in eine kichernde Liebesblödigkeit versetzt. Einer wie Arnswaldt verstand es, die Mädchen zu drillen.
»Wie hat Ihnen denn nun unser Freund Straube gefallen?«, fragte Grimm. »Sie haben ihn doch inzwischen kennenlernen dürfen.«
Annette drehte sich dankbar zu ihm um.
»Er ist ein ganz besonderer Mensch, ich schätze ihn über alle Maßen.«
»Oh ja«, sagte Grimm süffisant, »und so talentiert.«
»Ich weiß nicht«, erwiderte Annette. »Empfinden Sie das wirklich so? Glauben Sie auch, dass er ein so großes Talent besitzt, wie August sagt?«
Angenehm überrascht beugte sich Grimm etwas zu ihr herunter. Was für einen hübschen kleinen Mund sie hatte. Anmutig geradezu. Reizend geschwungen. Und Zähne wie aneinandergereihte Perlen.
»Nun ja, er ist gewiss nicht ohne Talent und hat etwas Eigentümliches. Aber vieles von dem, was er schreibt, ist noch verworren. Ich habe manchmal die Befürchtung, dass ihn Ihr Onkel August durch zu große Bewunderung verderben könnte.«
»Verderben? Nein, das glaube ich nicht. Jede Eitelkeit ist Straube ja vollkommen fremd. Und verworren finde ich ihn überhaupt nicht. Allerdings … ach, ich weiß gar nicht, warum ich Ihnen davon erzähle. Ich fürchte, Sie meinen es nicht gut mit ihm. Am Ende sind Sie gar eifersüchtig.«
»Eifersüchtig auf Straube?« Grimm lachte bitter auf. »Ganz wie Sie meinen.«
Er ging woanders hin. Sollte sie doch allein herumsitzen. So gut sah sie gar nicht aus. Falls überhaupt, dann war es eine sehr wunderliche Art von Schönheit, die Übergröße von Stirn und Augen, und wie sie einen anglotzte und sich einem dabei entgegenreckte, als hätte man irgendetwas im Gesicht kleben. Was war sonst noch so los im Entree? Der Großvater nörgelte natürlich wieder über die Schlechtigkeit der Zeit, in der alle Welt ständig unterwegs war und jedermann eine Uhr besitzen wollte, eine Uhrenherrschaft sei das. Er beschwor den Glanz der Vergangenheit, in der man Weltläufigkeit noch durch Aufenthalte bei Hofe und das Lesen von Büchern gewonnen hatte. Allenfalls noch durch Kavalierstouren für – eben für Kavaliere.
Die Großmutter erhob sich, sah ihren Gatten an, sie nickten beide in alle Richtungen, und August stand auf und schob seinen Vater im Rollstuhl hinaus, der Mutter hinterher. Werner von Haxthausen führte Arnswaldt und die beiden Grimms inzwischen in die Bibliothek, wo es neben Bücherschätzen auch einige Gemälde und Kupferstiche zu bewundern gab. Sie standen auf dem Boden und waren gegen die Bücherregale gelehnt.
»Hier«, er zeigte auf ein großformatiges Altarbild, »das habe ich dem Pfarrer von St. Martin in Euskirchen abgekauft und gerade noch vor dem Verfall gerettet. Es waren noch Flügelbilder dabei, die ich aber in Köln gelassen habe. Alle desolat. Und wissen Sie, was passiert ist? Kaum war das Bild hier wieder in präsentablem Zustand, bekomme ich einen Brief vom Euskirchener Kirchenvorstand, in dem man mich des Kunstraubs bezichtigt. Ist das zu fassen? Hier ein Tafelbild des Meisters von St. Severin. Ich habe es durch den Kaplan in St. Severin erwerben können, Ägidius Schieffer. Die beiden Flügel gehören eigentlich nicht dazu. Ich habe sie bloß angefügt, damit es wieder ein Triptychon ist. Die Flügel sind von Barthel Bruyn. Habe ich von einer Frau Nettesheim erworben.«
Louis warf seinem Bruder Wilhelm einen Blick zu und versuchte, nicht zu lachen. Arnswaldt stand andächtig vor einem großen, dunklen Madonnenbild.
»Von einem unbekannten Meister«, sagte Werner Haxthausen. »Das waren noch Zeiten, als die großen Meister den Nachruhm verschmähten und sich weigerten, ihre Kunstwerke zu signieren. Allein damit zufrieden, das Schöne geschaffen zu haben.«
»Heute unvorstellbar«, sagte August, der gerade hinzugekommen war, »überall diese Besessenheit davon, etwas zu gelten.«
Werner Haxthausen nickte düster.
»In Köln habe ich noch viel mehr. Dies ist nur eine Auswahl, die ich für Hoffmann hergeholt habe. Er war einige Wochen hier, um die paderbörnischen Bibliotheken nach Schätzen zu durchforsten. Schade, Sie haben ihn gerade verpasst.«
»Da braucht er Glück. Inzwischen wird der Vandalismus der preußischen Beamten nicht mehr viel übrig gelassen haben«, sagte Arnswaldt, »jedenfalls nicht in den Klöstern.«
Werner Haxthausen nickte wieder.
»Das habe ich ihm auch gesagt. Ich habe in unseren Klosterbibliotheken schon seit mindestens zehn Jahren nichts mehr gefunden – jedenfalls nichts Außergewöhnliches. Früher waren das Schatzgruben. Die Preußen haben unsere Bibliotheken zwar durchgesehen, dabei aber die herrlichsten alten Bücher als dumme Mönchsgeschichten abgetan und in irgendeine Kammer geworfen. Da haben die Knechte dann die Seiten herausgetrennt, um sich damit den Arsch zu wischen.«
»Nein!«
»Doch. Man musste nur in so einer Bücherkammer herumwühlen und kam mit zwei oder drei wertvollen Folianten wieder heraus. Oder in der Umgebung herumfragen. Manchmal haben diese Ignoranten auch bloß die Bilder herausgerissen und an Kinder verschenkt. Einmal habe ich bei einem Krämer eine halbe Chronik aus dem 16.Jahrhundert gefunden – in einzelnen Seiten, in die er seinen Käse einwickeln wollte. Die kostbarsten Seiten, die mit den ausgemalten Anfangsbuchstaben, waren leider schon in Tüten verwandelt. Darin wollte er Schnupftabak verkaufen. Ich habe versucht, zu retten, was zu retten war, aber ich konnte nur noch einen Bruchteil zusammenfügen.«
»Oh Gott«, seufzte Wilhelm Grimm.
»Das war ja nicht alles«, legte August noch einen drauf. »In Bamberg haben diese Ökonomieviecher das Brautkleid der heiligen Kunigunde aus dem Domschatz gezerrt, auf ein Brett genagelt und die Perlen und Edelsteine mit einem Gerbermesser heruntergeschabt.«
»Hoffmann und ich werden uns zusammentun, um das Alte vor dem Vergessen zu bewahren«, verkündete Werner von Haxthausen. »Wir haben beschlossen, Beiträge zur westfälischen Geschichte zu sammeln und als Edition herauszugeben.«
Wilhelm und Ludwig Grimm tauschten einen Blick, der so viel wie ›armer Hoffmann‹ heißen sollte. Bei Werner von Haxthausen war Hoffmann an jemanden geraten, der zwar überaus begeisterungsfähig war, dem es aber an Konzentration, Durchhaltevermögen und Zuverlässigkeit mangelte. Jedes Jahr wollte er etwas Neues herausgeben. Mal war es ein Almanach mit alten deutschen Jägerliedern, mal waren es die griechischen Volkslieder, aber immer kam etwas dazwischen oder er verlor plötzlich die Lust. Nicht einer seiner hochfliegenden Pläne war jemals Realität geworden. Darin war er noch schlimmer als August – bei dem bestand immerhin eine gewisse Hoffnung, dass er die Volksliedersammlung irgendwann einmal beenden würde.
»Wie steht es eigentlich um die Volkslieder?«, fragte Wilhelm.
»Gut«, sagte August, »mehr als gut. Görres hat mir einen Teil der Originale aus der Brentano-Sammlung zukommen lassen, dann natürlich die Haxthausen’sche Sammlung, die Lieder von Sprickmann und nicht zuletzt die 600 süddeutschen Lieder aus eurem Bestand. Macht alles in allem rund 2000 – und das sind nur die weltlichen. Davon beinahe 400 mit Melodien.«
»Na, was steht dann einer Veröffentlichung noch im Weg? Du wolltest doch schon mal eine kleine Ausgabe drucken lassen.«
»Davon bin ich wieder abgekommen. Diese Sammlung wirkt nur als großes Ganzes. Und dafür fehlen noch einige Abhandlungen und die historischen Untersuchungen.«
Wilhelm lächelte steif.
Als sie ins Entree zurückkamen, saßen die dort Verbliebenen alle um den Tisch und sahen zu, wie Carl von Haxthausen einige Silhouetten schnitt, unter denen aber keine derjenigen glich, von der sie gefertigt war. Annette stand beim Eintreten der Herrengruppe auf und verkündete, nun ebenfalls schlafen gehen zu wollen. An der Tür ging sie so nah an ihnen vorbei, dass sie Arnswaldt und Wilhelm Grimm streifte.
»Was für eine subtile Figur«, flüsterte Arnswaldt Wilhelm zu. »Und was für Haare.«
»Nixenaugen«, sagte Grimm und war über sich selbst überrascht.