Tag und Nacht dachte sie an Straube. Konnte man weiterleben, nachdem man so viel Schuld auf sich geladen hatte? Man konnte. Fragte sich nur, ob man es sollte – so ganz und gar unwürdig vor Gott.
In den Nächten, wenn es keine Ablenkung gab, war es besonders schlimm. Dann malte sie sich aus, wie sie Straube erklärte, was geschehen war und warum es geschehen war, Szenen, in denen sie sich ihm zu Füßen warf und in denen er sie aufhob und alles mit einem Lachen abtat. Im Grunde ihrer Seele hoffte sie immer noch, das Geschick wenden zu können. Hoffen war das Schlimmste. Denn nein, Straube würde nicht lachen, und das, was sie getan hatte, war nicht zu erklären. Sie war so schuldig geworden, dass nicht einmal Straube es ihr verzeihen konnte. Wie gekränkt er sein musste! Was für ein Verrat!
Der Selbsthass kam jede Nacht mit der gleichen Wucht, es wurde überhaupt nicht besser und würde nun ein Leben lang anhalten. Dies war die Strafe, und ihr blieb nichts übrig, als sie voller Demut auf sich zu nehmen und ihre Unwürdigkeit wie eine Monstranz vor sich herzutragen. Wenn der Herr beschlossen hatte, dass ihr Leben nur noch aus Scham und Selbstanklagen bestehen sollte, dann galt es dankbar zu sein, dass der Herr sie für so stark befunden, so viel zu ertragen, und darum zu beten, dass er die Wunden noch heftiger möge brennen lassen.
Morgens, direkt nach dem Aufwachen, gab es manchmal einen Moment – nicht länger als ein, zwei Wimpernschläge –, in dem es sich anfühlte, als wäre alles in Ordnung und die Welt wäre schön. Aber dann fiel ihr wieder ein, was sie getan hatte, und die Last der eigenen Schuldhaftigkeit wollte sie schier erdrücken. Wozu lebte sie, wozu atmete sie? Nur um zu leiden, zu fehlen und sich schämen zu müssen. Wenn es doch nur einmal eine mäßig gute Minute gegeben hätte. Wenigstens eine Minute ohne dieses flammende Gefühl der eigenen Unwürdigkeit. Aber nein, sie durfte nicht wünschen, dass es besser werden sollte. All das geschah ihr ganz recht. Niemand sollte ihr vergeben. Das hatte übrigens auch keiner vor.
Die Eltern wussten nichts oder gaben vor, nichts zu wissen, aber die Haxthausen’schen Verwandten, die eigentlich auch nichts wussten, überboten einander mit Missbilligung. Auf einmal schien sie das Reisefieber gepackt zu haben, denn nachdem Anna, Caroline und die Großmutter wieder abgereist waren, trafen nacheinander Tante Sophie und die Onkel August, Carl und Werner ein.
Jeder Einzelne knöpfte sie sich vor. Annette wehrte sich nicht. Sich gegen ungerechte Vorwürfe verteidigen – so weit kam es noch. Leiden wollte sie, leiden! Sie klagte sich vor den anderen auch noch selber an. Wenn August von Arnswaldts vorbildlichem Verhalten sprach, stimmte Annette ihm zu, nannte Arnswaldt gut, edel, einen wahren Freund. Es wäre zu erbärmlich gewesen, die Schuld auf ihn zu schieben. Falls er doch ein wenig Schuld hatte, was zu denken bereits eine Anmaßung war, so hieß es, ihm von ganzem Herzen zu vergeben. Außerdem geschah ihr ja alles so recht! Sie verdiente es. Im Gegensatz zu Straube verdiente sie es nicht anders. Wenn sie nur etwas gegen die Traurigkeit des armen Straube hätte unternehmen können, dafür hätte sie gern noch mehr eigenen Kummer ertragen.
Je zerknirschter Annette sich gab, je mehr sie sich anklagte und vor allen demütigte, desto ungehemmter fiel die Verwandtschaft über sie her, desto kräftiger trat sie nach. Als wollte man sie für alle Zeiten zu Boden schlagen. Ob Annette eigentlich manchmal an Straube denke, diesen arglosen lieben Kerl. Man wisse nämlich nicht, ob er das jemals verkraften würde. Nein, Genaueres wollte man ihr nicht sagen, nur so viel: Es sei ernst. Gott sei Dank stand ihm Arnswaldt zur Seite. Übrigens habe man es kaum glauben können, was Arnswaldt über sie erzählt habe – wenn man nicht wüsste, was für ein frommer, grundehrlicher Mensch Arnswaldt sei … Ob sie gar nicht an die Familie gedacht hätte. Für jeden Einzelnen von ihnen könne das fatale Konsequenzen haben. Im Grunde wären sie ganz und gar in Arnswaldts Hand. Durch ihre Schuld. Nur gut, dass Arnswaldt ein so guter Freund sei. Man wisse nicht …
Wenn sie es gar nicht mehr aushielt, schloss sie sich in ihrem Zimmer ein. Dann rüttelten die Aasgeier an ihrer Tür und verlangten eingelassen zu werden, um sie mit Hohn und Anklagen zu überhäufen. Ruhe gaben sie nur, wenn die Hülshoff’schen Eltern anwesend waren.
Das Gefühl der eigenen Schuld und Unwürdigkeit wurde zu einem gähnenden, alles verschlingenden schwarzen Loch, an dessen Boden sie hockte, die Hände vors Gesicht geschlagen. Selbstbewusstsein – was war das? Am Grunde des Brunnens lagen ein paar ausgerissene Wurzeln herum. Da – das war ihr Selbstbewusstsein.
Die Mutter beobachtete ihre Tochter, die sich ungewohnt passiv, beinahe willenlos verhielt, neuerdings oft bei ihr saß und sogar freiwillig Handarbeiten vornahm.
»Weißt du, Nette«, sagte Therese, »ich möchte dich nicht für Selbstverständlichkeiten loben, aber du sollst doch wissen, dass ich bemerke, wie viel angemessener und weiblicher du dich in letzter Zeit benimmst. Bleibe auf diesem Weg.«
Sie versuchte, wieder zu schreiben. Aber wie sollte man im Gefühl der äußersten Schwäche und des völligen Unvermögens schreiben? Bis sie sich endlich Das Geistliche Jahr vornahm. Was hatte Straube noch gleich gesagt? Sie müsse sich von dem Gedanken verabschieden, für die Großmutter zu schreiben. Statt naive Erbauungsverse für eine reine Seele zu Papier zu bringen, würde sie von nun an zu Gericht sitzen. Über wen? Über sich selbst natürlich. Über wen denn sonst?
Die ersten beiden Gedichte, die sie sich ansah, warf sie sogleich ins Feuer. Zu lieb. Zu harmlos. Vernichtung, Vernichtung, Vernichtung. Das nächste handelte von den Zweifeln einer Seele. Daraus ließ sich etwas machen: zum Beispiel ein Gedicht über die Zweifel einer Seele am Abgrund. Allmählich bekam die Sache Wucht. Das nächste Gedicht ging wieder im Feuer auf. Zu milde, zu freundlich. Sie hatte kein Recht mehr, dergleichen zu schreiben. Ein heiteres, friedliches Gesicht zeigte der Glaube nur dem, der das Böse in sich selbst noch nicht erfahren hatte. Von nun an wurde jeder Vers zu einer zornigen Selbstanklage, zu einem Flehen nach härterer Strafe. Erschöpft sank sie Abend für Abend über dem Schreibtisch zusammen.