Der Winter kam in diesem Jahr früh. Schon am 13.November fing es an zu frieren, am 14. schneite es und den 16.November lag der Schnee bereits fußtief, und es herrschte eine Kälte von minus zehn Grad. Die Flüsse froren zu. Heine besuchte nun öfter Straube, der dank Haxthausen’scher Zuwendungen in der Lage war, auf muckelige vierzehn Grad zu heizen. Nach etwa zehn Tagen folgte Tauwetter mit anhaltendem Nebel. Alles versank im Matsch. Heines Stiefelputzer rollte mit den Augen, hielt sich aber an sein Versprechen, kein Wort von sich zu geben. Der Winter 1820 blieb in Göttingen aber nicht nur wegen seiner Kälte und des ganzen Matsches in Erinnerung, sondern vor allem, weil es diesmal besonders wild zuging. Nicht, dass es in den vorangegangenen Jahren langweilig gewesen wäre. Seit der Gründung der Universität war das Duell eine allgemein akzeptierte Einrichtung zur Lösung von Konflikten. Die adligen Studenten empfanden es als unzumutbar, eine Beleidigung ihrer hochwohlgeborenen Ehre vor etwas so gewöhnlichem wie einer staatlichen Behörde zur Anzeige zu bringen. Was hatte das Universitätsgericht sich einzumischen? Mit dem Wegfall der Stände wurde es keineswegs besser. Im Gegenteil: Der Personenkreis, der eine besondere Form von Ehrgefühl und damit Selbstjustiz für sich in Anspruch nahm, weitete sich nun auch auf die bürgerlichen Studenten aus. Ohnehin handelte es sich bei diesen Jahrgängen um eine rabiate Generation, deren Hemmschwelle sich im Krieg heruntergeschliffen hatte. Duelle wurden zur Selbstverständlichkeit. Angeblich eine alte germanische Tradition: Flecken auf dem Schild der Ehre konnten nur mit Blut abgewaschen werden.
Der Winter 1820 übertraf allerdings alles Gewesene. Zunächst wurde der Pedell Doris so übel zusammengeschlagen, dass er für Wochen das Bett hüten musste, und dann wurden fünfundachtzig Duelle zwischen der Burschenschaft und den Landsmannschaften kontrahiert. Allein Schnüll war neunmal los gewesen, Curdts dreimal, der kleine Meyer ebenfalls dreimal und Kerstein, Knille, Schmerfeld und Biermann jeder einmal. Und das waren nur die, die Straube kannte. Die Pedelle kamen kaum noch hinterher, die Studentenbuden aufzusuchen, um die Studiosi vors Universitätsgericht zu laden. Die Strafen waren meist milde.
»Meine Herren, Sie haben sich wie immer vortrefflich benommen«, sagte der Vorsitzende dann. »Wir wissen ja, dass Sie gar nicht anders handeln konnten. So eine Unverschämtheit lässt man natürlich nicht auf sich sitzen. Allein, die Gesetze müssen nun einmal gehandhabt werden, auch wenn es dem ganzen Senat sehr leidtut.«
Zumeist handelte es sich ja auch bloß um Kratzer, die die Studenten sich gegenseitig zufügten. Für Kratzer gab es Karzer, was allerdings auch Karzergebühren bedeutete. Außerdem mussten die Waffen abgeliefert werden, was aber natürlich niemand tat. Stattdessen kaufte man irgendwo alte, schäbige Degen oder Säbel, die man anstelle der eigenen dem Senat übergab, der dann vorgab, es nicht zu bemerken. Damit das Gericht einmal hart durchgriff, musste man sich schon etwas Außergewöhnliches leisten. Wie Heine.
Heine war eines Tages mit dicken Schlammkrusten auf den frisch geputzten Stiefeln bei Straube erschienen und hatte ihm einen Briefbogen auf den Tisch geknallt.
»Die Antwort von Brockhaus. Abgelehnt. Man will mich nicht. Man ist im Augenblick gar zu sehr mit Verlagsartikeln überladen.«
Straube warf einen flüchtigen Blick auf das Papier.
»Das tut mir leid. Die wissen nicht, wen sie da gerade abgelehnt haben.«
»Allerdings, das wird für immer an ihnen kleben: Harry Heine abgelehnt. Und diese zierliche Formulierung – mit Verlagsartikeln überladen –, als wenn es ihnen Freude gemacht hätte, mich recht zu treffen.«
»Nimm es nicht zu schwer. Es ist dem großen Goethe ebenso gegangen mit seinem ersten Produkt.«
»Liebster Lausangel, wenn du noch länger mein liebster Lausangel sein willst, dann vergleiche meine Lyrik bitte nicht mit dieser Weimar’schen Hofprosa.«
»Bist du jetzt etwa schon beleidigt, wenn ich dich mit dem Dichterkönig vergleiche?«
»Goethe, der Dichterkönig?«
Heine zog die Oberlippe hoch und ließ den Eckzahn blitzen.
»Goethe könnte Gott danken, wenn er nur halb so viel Ideen hätte wie Walter Scott.«
»Du hast wirklich eine fürchterliche Laune«, sagte Straube, »würde es dir etwas ausmachen, mich jetzt weiterarbeiten zu lassen?«
Heine verschwand, kehrte aber nach einer knappen Stunde wieder zurück. Ohne ein Wort zu sagen, setzte er sich aufs Sofa und starrte finster vor sich hin. Straube versuchte, ihn zu ignorieren und einfach weiterzuarbeiten, aber kurz darauf erschienen Schnüll und Hektor, um sich ebenfalls am straubischen Ofen zu wärmen. Hektor legte sich still auf den Boden, aber Schnüll musste unbedingt von seinem zweiten Aufenthalt im Hotel de Brühbach erzählen.
»Diesmal ist auch Wentzel dabei gewesen. Außerdem konnte ich Hektor mitnehmen. Beim ersten Mal war ich ja ganz allein, da war es schon ein seltsames Gefühl, als die Tür hinter mir abgeschlossen wurde. Ich habe eigentlich die ganze Zeit bloß Kaffee getrunken und geraucht. Und die Zeit wollte überhaupt nicht vergehen. Aber diesmal war es fidel. Wentzel hatte zwei Kisten Wein dabei, damit haben wir schon morgens angefangen. Dann ein wenig gedämmert, und dann ist es schon Mittag gewesen. Nach dem Mittagessen habe ich Hektor beigebracht, ein Stück Wurst auf der Nase zu balancieren, und Wentzel hat Briefe geschrieben. Dann gab es schon wieder Kaffee. Dann wieder Wein, dann wurde geschwatzt oder gedämmert und abends haben Wentzel und ich uns mit Spazierstöcken duelliert. Um neun ist dann immer Brühbach zu uns gekommen und hat ein Pfeifchen mitgeraucht, ein Weinchen mitgetrunken und uns seine Lebensgeschichte erzählt. Brühbach hat dreimal am Tag Hektor rausgelassen. Dafür hat er Wein gekriegt. Sag mal, was ist denn mit Heine. Der sagt ja gar nichts. Heine, wieso sagt Er nichts?«
Heine starrte bloß finster vor sich hin.
»Ja«, sagte Straube, »langsam mache ich mir auch Sorgen. Was ist passiert?«
»Du musst morgen für mich zu Wilhelm Wiebel gehen und eine Forderung überbringen.«
Schnüll klatschte in die Hände.
»Sehr schön.«
Hektor gähnte.
»Das wundert mich gar nicht«, sagte Straube, »bei der Laune, mit der du losgezogen bist. Aber wer ist bitte Wilhelm Wiebel?«
»Der fadeste und lächerlichste Kerl auf Gottes Erden, ein Esel mit Rosinensauce.«
»Worauf willst du ihn fordern. Auf Degen?«
»Auf Pistolen.«
»Bist du irre? Was hat er dir denn getan?«
Sogar Schnüll war beeindruckt.
»Auf Pistolen – das hatten wir länger nicht.«
Arnswaldt kam zu Besuch nach Göttingen und war außer sich, als er hörte, dass Straube die Forderung überbracht hatte.
»Auf Pistolen! Ist der Heine wahnsinnig? Und du hilfst ihm auch noch dabei! Bist du wahnsinnig?«
Er zog seinen tropfnassen Mantel aus und hängte ihn neben dem Ofen über einen Stuhl.
»Es ist nun einmal eine Frage der Ehre. Da konnte ich doch nicht Nein sagen. Zum Glück hat man die beiden ja vorher erwischt.«
»Und wenn jetzt dein Name genannt wird? Du hast doch August versprochen, dass du dein Studium schnell abschließt. Wenn du nun relegiert wirst?«
»Erzähle August bitte nichts«, sagte Straube.
»Ich habe für uns beide eine Einladung bei Blumenbach. Heute Abend. Ich habe ihn extra gebeten, dich mit dazu zu laden. Wenn jetzt herauskommt, dass du eine Pistolen-Forderung überbracht hast, bin ich gründlich blamiert.«
Obermedizinalrat Blumenbach war Professor für Naturgeschichte. Seine Vorlesungen wurden von Studenten sämtlicher Fakultäten besucht, zum einen, weil sie die Möglichkeit boten, Blumenbachs ausgezeichnete Naturaliensammlungen zu besichtigen – darunter die von James Cook und den Forsters stammende Südsee-Sammlung und Blumenbachs eigenhändig zusammengetragene Sammlung menschlicher Schädel –, und zum Zweiten, weil die Studenten seine berühmten Witze hören wollten, die der Professor in jedem Semester zu wiederholen pflegte.
Arnswaldt ging im Frack. Seinen anderen Rock wollte er Straube überlassen. Der weigerte sich jedoch und bestand darauf, seinen Flaus zu tragen. Immerhin erklärte er sich bereit, ihn zuvor gründlich auszubürsten.
Beim alten Blumenbach ging es dann auch wenig förmlich zu. Ein Dienstmädchen führte sie in ein gutbürgerliches Zimmer mit den üblichen Bildern an der Wand, dem üblichen runden Tisch, den üblichen Stühlen drum herum, dem üblichen Sofa mit der geschweiften Lehne und den üblichen Gästen: ein weiterer älterer Herr, zwei hagere ältere Damen mit Häubchen, von denen die eine die Obermedizinalrätin Blumenbach war, und vier mehr oder weniger grazile jüngere Damen mit Mittelscheitel und Löckchen, von denen nur die Mamsell Göschen interessant schien. Blumenbach saß quer und mit übergeschlagenen Beinen auf seinem Stuhl und trug einen Frack, der so abgenutzt und aus der Mode war, dass Straubes Flaus nicht weiter auffiel. Da es sich um einen Tee-Schlaps handelte, hatten alle dampfende Tassen vor sich stehen. Dazu gab es Zwieback und Kuchen.
Der Gastgeber redete ohne Punkt und Komma und bestritt die Unterhaltung mehr oder weniger allein. Er brummte beim Sprechen durch die Nase, was auch damit zu tun hatte, dass er zwischendurch immer wieder Schnupftabak in seine Nasenlöcher stopfte.
»Ja … brumm … der Robert Bruce war ein edler Schotte, der seine Landsleute frei machen wollte, führte Krieg und verlor gleich drei Schlachten. Brumm. Konnte aber vor seinen Verfolgern fliehen und floh auf einer Barke auf eine Insel, da lebte er ganz allein und versteckt. Grämte sich und dachte über die drei verlorenen Schlachten nach … ah, brumm … hatte vor, die Pilgerkleidung anzulegen und nach Jerusalem zu pilgern. Da sieht er, als er eines Morgens so auf seinem Lager liegt, da sieht er, wie über ihm eine Spinne einen Faden zieht, von Wand zu Wand, der aber sechsmal abreißt. Das siebte Mal aber hält, und sie baut ihr Netz fertig … brumm. Da war er darauf aufmerksam, wie die Spinne doch an ihr Ziel gekommen, sagte zu sich, ich habe nur drei Schlachten verloren und doch den Mut verloren. Da schiffte er über, und als er an Land kam, da jubelten alle, weil sie ihn für tot angesehen hatten. Er sammelte sie um sich und gewann sieben Schlachten hintereinander und sein Volk ward frei und er starb als König und ward bestattet – 1325 – mit großer Feierlichkeit und in einen Zinnsarg gelegt.«
Blumenbach nahm eine extra große Prise und bot auch den Gästen an. Arnswaldt lehnte ab, aber Straube, der ältere Herr und die Medizinalrätin Blumenbach bedienten sich ebenfalls aus dem silbernen Döschen. Der Professor brummte.
»Da schrieb neulich die Regierung von dort nach London, dass das Grabgewölbe schadhaft sei, ah, ah, da wurden dann mehrere hingeschickt, auch ein Bildhauer, man fand noch Gebeine von Robert Bruce im Sarg. Da bekam der Bildhauer die Erlaubnis, einen Gipsabdruck vom Schädel zu machen, einen einzigen nur. Brumm, ah. Dann, dann, ah, ah, wurden die Gebeine in einen anderen Sarg gelegt und man hat sechzehn Zentner Harz hineingegossen, um es für die Ewigkeit aufzubewahren. Da, da hat mich doch eins dabei gerührt, ah, als das heiße Harz hineingegossen wurde, soll das umstehende Volk aufgeschrien haben, als wenn es den Knochen noch wehtun könnte. Was die Menschen doch kurios sind, no, hören Sie weiter, brumm. Dieser einzige Abguss vom Schädel wurde dem König nach London geschickt, er ließ ihn in sein Zimmer stellen, und als er ihn genug betrachtet hatte, sagte er: Packt mir den Schädel gut ein. Ich will ihn meinem Professor Blumenbach nach Göttingen schicken, der wird gewiss seine Freude daran haben. Und das ist wahr, ah, ich habe noch heute meine Freude daran. Der Kopf ist sehr schön. Brumm. Ah, ah, herrlich, herrlich, noo, na, brumm, hören Sie weiter. Eins muss ich Ihnen nämlich noch sagen, dass seit jener Zeit die Schottländer den Spinnen niemals etwas zuleide tun. Gelt, das ist hübsch. Und der Name Robert Bruce ist ein Name, den man heute noch häufig in Schottland findet. Haben Sie alle noch genug zu trinken? Ah, ja, das ist recht.«
Er zog die Augenbrauen herauf und lächelte, bis Grübchen neben seinem Mund erschienen.
»Eins muss ich Ihnen noch sagen. Der Schädel war nämlich vortrefflich verpackt, und nun raten Sie einmal, worin?«
Die Damen sahen einander an und dann wieder zu Blumenbach und versuchten nicht einmal zu denken.
»In Mehl?«, fragte Straube
»Ach was, bloß in Stroh. Stroh ist doch das Allerbeste. Ah. Brumm.«
»Hat man denn auch Galls Schädellehre angewandt?«, fragte Mamsell Göschen und sah vor lauter Verlegenheit schnell wieder in ihre Teetasse.
»Ah, ah, Gall. Davon halte ich nichts, der Gall und seine Schädellehre. Ich verlasse mich da lieber auf meine Menschenkenntnis, … brumm … auch wenn ich da schon ein paarmal tüchtig auf die Nase gefallen bin. Aber einen Heuchler oder Verräter erkenne ich sogleich.«
»Sind Sie denn schon einmal verraten worden?«, fragte Straube mit heiserer Stimme.
»Das nicht, aber ich kenne Freunde, die Freunde verraten, und Verwandte, die Verwandte verraten haben, ah, es ist eine grässliche Sache!«
»Woran wollen Sie denn einen solchen Verräter erkennen?«, sagte Straube.
»Ich erkenne das an den Augen. Verrat ist mir von allen Lastern das Infamste. Brumm. Ich meine, so ein Mensch müsste Tag und Nacht keine Ruhe haben und sich sein Leben lang schämen. Wenn einer noch ein wenig Gewissen im Leibe hat, so muss ihn das peinigen bis zur letzten Minute seines Lebens. Bei den schlimmsten Exemplaren, ah, ah, kann man es freilich nicht erkennen. Auch ich nicht. Mit welcher Kaltblütigkeit, teuflischer Ruhe und heimlicher Freude wird oft Verrat begangen. Die Natur müsste einem solchen Unmenschen ein großes schwarzes Zeichen auf die Stirn drücken, damit alle Menschen ihn fliehen könnten.«
»Herr von Arnswaldt, geht es Ihnen nicht gut?«, fragte Mamsell Göschen.
Alle schauten ihn an.
»Was ist dir«, fragte Straube, »du bist ja kreideweiß?«