Es war der Abend vor dem Christtag. Die Bäume waren beschneit und an den Fensterscheiben des Bökerhofs wuchsen Eiskristalle. Draußen war es so kalt, dass einem die Worte vor dem Munde wegfroren, aber drinnen war es warm und gemütlich. Die beiden Türen des großen Zimmers waren schon seit Tagen verschlossen. Wie ein Heiligtum. Niemand durfte hinein. Zu einer Tür hatte die alte Freifrau den Schlüssel, zur anderen Ferdinandine. Alle schlichen ganz ehrfürchtig daran vorbei. Selbst die Hausdackel gingen wie auf Zehenspitzen. Hier stand er, der aufgeputzte Baum voller Zuckerpuppen, goldener Nüsse, Äpfel und Papierketten.
Wie immer an diesem Tag halfen alle Haxthausen’schen Brüder und Schwestern, die es zum Weihnachtsfest nach Hause geschafft hatten; Sophie war dabei, die ganz besonderen Bökendorfer Kekse, die traditionellen Hauskuchen, zu backen, die jedes Jahr an die Freunde geschickt wurden. Vier Kuchen in der Form eines Schwans, einer Hirschkuh, eines Dackels und eines Pantoffels gingen nach Kassel an die Grimm-Geschwister, eine weitere Hirschkuh war für Malchen Hassenpflug, ein gebackenes Schwert für ihren Bruder, ein gebackenes Hufeisen ging an Hoffmann, der jetzt Hoffmann von Fallersleben genannt werden wollte, und Anna formte gar den Bökerhof selber – mit Mandelfenstern und einer von Rosinen eingefassten Tür – für Straube, damit er seine Freunde nicht vergaß. Für Arnswaldt gab es bloß einen Pilz, eine besonders langweilige Kuchenform, aber Arnswaldt hatte ja auch eigentlich versprochen zu kommen und dann doch abgesagt. Er hatte Ferdinandine einen Brief geschrieben, dass seine Gesundheit nicht die beste wäre – rheumatische Kopfschmerzen –, und gleich die Geschenke mitgeschickt.
Sophie mengte neuen Kuchenteig an, und Fritz und Ferdinandine holten ihr nacheinander Eier, Butter, Rosinen, Korinthen, süße und bittere Mandeln, Hefe, Zucker und Zitronat oder was immer ihre Schwester gerade verlangte. Werner spielte mit den Kindern und Dackeln, die in der Küche herumwuselten, und Augusts und Carolines Beitrag beschränkte sich darauf, bei der Vorratskammer im Weg zu sitzen und jedes Mal aufzustehen, wenn jemand etwas daraus brauchte. Nur Ludowine war nicht dabei. Sie hatte schon wieder die Rose am Kopf, lag mit einem Tuch über den Augen auf ihrem Zimmer und grämte sich, weil sie es deswegen nicht geschafft hatte, für Wilhelm Grimm noch zwei Märchen aufzuschreiben und nach Kassel zu senden. Sie wurde aber nicht sonderlich vermisst, da sie ja auch sonst mehr oder weniger unsichtbar zu sein pflegte.
Am nächsten Morgen traf Straube ein. August hatte ihm eine Kutsche entgegengeschickt, damit er nicht den ganzen Weg laufen musste.
Anna wartete bis nach der Bescherung, solange alle noch geblendet von den Lichtern waren, die durch die grünen Zweige schimmerten und eine Helligkeit wie im Paradies verbreiteten, wartete, bis alle einander ihre Geschenke zeigten, die Bänder und Umschlagtücher und seidenen Handschuhe, den Tee und den Tabak und die Tabaksdosen, das Sonnenschirmchen, die bestickten Pantoffeln, die Pappkästchen und die Puppe. In dem Moment, in dem Dorly und Fränzchen sich gegenseitig ihre Säuglinge in den Arm drückten und Sophie und Ferdinandine die Brieftasche aus Perlmutter und Gold öffneten, die Anna von Arnswaldt bekommen hatte, und über den Brief kicherten, der darin lag, machte sie Straube ein Zeichen, dass er mit ihr ins Entree hinauskommen solle. Dort reichte sie ihm die Tücher.
»Von Nette.«
Straube starrte sie an, dann nahm er die Tücher und drückte sie an sein Gesicht. Ein weißes Taschentuch mit seinen Initialen und ein weißes Halstuch, rundherum mit grauen Rauten bestickt.
»Stecken Sie sie ein«, zischte Anna, »sonst gibt es Fragen, wenn jemand sie sieht.«
Straube ließ die Tücher in der Innentasche seines Flauses verschwinden.
»Ist kein Brief dabei?«
Er sah so unglücklich aus.
»Nein. Nette darf Ihnen nicht schreiben.«
Straube sackte in sich zusammen. Anna legte ihm die Hand auf den Arm.
»Ich werde Ihnen einen Brief geben, den sie mir geschrieben hat. Daraus wird Ihnen manches vielleicht verständlich. Ich lege ihn nachher unter den blauen Blumentopf hier. Aber ich will ihn wieder zurückhaben. Lesen Sie ihn und dann stecken Sie ihn wieder zurück.«
»Natürlich.«
Er drückte ihre Hand.
Als alles im Hause schlief, schlich Straube mit einem Licht die Treppe herunter, zog den Brief hervor und las ihn durch. Und dann noch einmal. Im Ganzen las er ihn viermal durch und danach immer wieder einzelne Stellen.
»Recht kann ich es dir auch nicht erklären«, hatte Nette an Anna geschrieben, »das könnte ich Straube ganz allein, aber den werde ich wohl nicht wiedersehen. Ach Gott, ich ginge gerne zu Fuß nach Göttingen, wenn es anginge. Anna, du weißt, wie lieb ich Straube immer gehabt habe, die andern wissen es auch, ich habe nie ein Geheimnis daraus gemacht. Schon in Hülshoff habe ich es gesagt … und nun meint er wohl, ich hätte ihn nie lieb gehabt; Oh Gott, er hat Recht, es zu glauben, ich kann ihm den abscheulichen Gedanken nicht nehmen, das ist mein ärgstes Leiden. – Anna, ich bin ganz herunter … ich denke immer nur an Straube, um Gottes Willen, schreib mir doch, was macht er, ihr wisst nicht, wie unbarmherzig ihr seyd, dass ihr mir nichts sagt … ich schreibe das alles so hin, als wenn es mich keine Schmerzen kostete und doch löst es sich mir aus der Brust, wie Stücke vom Herzen … Arnswaldt muss mich von Anfang an gehaßt haben, denn er hat mich behandelt wie eine Hülse, die man nur auf alle Arten drücken und brechen darf, um zum Kern zu gelangen. … Ein wahrscheinlich sehr herbey geführtes Mißverständniß ließ mich glauben, dass Arnswaldt mir seine Neigung gestanden, und ich stand keinen Augenblick an, auch meine Gesinnung offen zu gestehen, das glaubte ich irrig zu dürfen, da ich fest entschlossen war, ihm meine Hand zu verweigern, wenn er sie fordern sollte, ich entdeckte ihm deshalb mein Verhältniß zu Straube …«
Straube musste den Brief sinken lassen und sich die Augen wischen.
Und dann die Stelle weiter unten: »Ach könnte ich Straube nur noch einmal sehen oder auch nur eine freundlich vergebende Zeile von seiner Hand. – Soll er meine Locke wohl fortgeworfen haben? – Anna, es ist unmöglich, ein solches Verhältniß kann sich nicht ganz lösen, das habe ich deutlich gefühlt, wie ich Arnswaldt zu lieben glaubte, und ganz deutlich noch eh’ er abreiste. Sieh, Anna, ich habe es Arnswaldt auch zuletzt mehrmals gesagt: ›Ich habe mich getäuscht und habe Straube jetzt wieder viel lieber als Sie.‹«
Er schlief nicht in dieser Nacht, er verbrachte sie damit, den Brief abzuschreiben. Erst gegen Morgen schlich er sich zurück ins Bett und dort fielen ihm gleich die Augen zu. Als er aufwachte, war bereits heller Tag. Das Frühstück hatte er verpasst. Er warf sich in seinen Flaus, wickelte den grau und rot gestreiften Weihnachtsschal von Ludowine dreimal um seinen Hals und ging hinaus in die klirrende Kälte. Es war niemand zu sehen. Er ging um das Haus herum und sah durch das Küchenfenster. Drinnen brutzelten Eier in einer Pfanne auf dem Feuer. Die Köchin hielt eine glühende Schippe darüber, um ihnen eine knusprige Bräune zu geben. Die Haxthausen’schen Schwestern saßen auf dem Tisch. Sie hielten Bänder in den Händen und besprachen irgendetwas. Anna entdeckte ihn und winkte ihm zu, machte Zeichen, dass sie herauskommen würde. Als sie zu ihm kam, trug sie einen Mantel über dem Kleid und ein wollenes Tuch über den Schultern, zitterte aber trotzdem vor Kälte. Gemeinsam gingen sie in den verschneiten Laubengang. Immer wieder löste sich Schnee aus den Zweigen und fiel auf sie herunter.
»Versprechen Sie mir, dass Sie Arnswaldt diesen Brief niemals zeigen«, sagte Anna.
»Ich verspreche es«, erwiderte Straube. »Ich rede sowieso nicht mehr mit ihm über diese Angelegenheit. Nicht, wenn ich es vermeiden kann. Er selber fängt allerdings ständig davon an.«
»Ich bin froh, dass Sie mit Arnswaldt nicht mehr darüber reden. Ich verstehe nicht, wieso er … Er ist doch sonst ein so ehrlicher, frommer Mensch.«
»Wir alle sollten es jetzt ruhen lassen.«
»Ich mache mir selber Vorwürfe. Ich hätte Annette den Kopf zurechtrücken müssen. Schon bevor Arnswaldt herkam. Die Geschichten mit Wolff und Beneke – das hätte ich ihr nicht durchgehen lassen dürfen.«
»Beneke?«
»Ach, von Beneke wissen Sie noch gar nicht? Doch ich will es ruhen lassen, da Sie diese Geschichten ja auch ruhen lassen wollen.«
Straube stand wie vom Donner gerührt.
»Sie sind wie ein Bruder«, sagte Anna, »so gut kenne ich Sie inzwischen, wie mein liebster Bruder, da fühle ich nicht anders als Annette.«
Sie verstummte, sah ihn erwartungsvoll an.
»Sagen Sie Annette bitte, dass sie mir schreiben soll. Oder nein, besser ich schreibe ihr zuerst. Könnten Sie für mich den Brief besorgen? Sie finden doch sicher einen Weg.«
Anna fuhr zusammen.
»Nein, das wollen Sie nicht, lieber Straube. Das wollen Sie nicht! Das wäre das Schlechteste, was wir jetzt tun könnten. Annette ist auf dem richtigen Weg – ja. Aber sie ist noch nicht gefestigt. Denken Sie an die große Schuld, die sie gegen Sie hat. Sie ist wie ein zartes Pflänzchen, das noch nicht richtig gewurzelt hat, und wenn Sie ihr jetzt schreiben … Nette könnte denken, dass Sie ihr verziehen haben.«
»Ich habe ihr ja auch fast schon verziehen. Es kommt mir ungerecht und grausam vor, wenn ich mir ihre Sicht der Dinge nicht wenigstens anhöre.«
»Aber damit schaden Sie ihr bloß!«
Anna weinte jetzt beinahe.
»Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich Ihnen den Brief niemals gezeigt. Sie dürfen ihr nicht verzeihen. Annette muss zu ihrer Buße noch recht oft den Vorwurf in sich fühlen, wie schlecht sie gegen Sie gehandelt hat.«
»Sie ist euch sehr wichtig, die moralische Besserung eurer Nichte, nicht wahr«, sagte Straube bitter.
»Wie meinen Sie das? Natürlich, wenn Sie es anders sehen …. aber rechnen Sie nicht auf meine Hilfe. Wenn Nette denkt, dass Sie sich mit ihr versöhnt haben, dann denkt sie am Ende auch, dass sie nichts gegen den Himmel verbrochen hat. Und das darf sie nicht.«
Schweigend gingen sie zum Schloss zurück. Inzwischen war das Mittagessen aufgetragen worden. Sie kamen gerade noch rechtzeitig. Straube stocherte nur in seinem Braten. Dafür verdrückte August eine doppelte Portion.
Nach dem Essen zog er sich mit Straube in sein Zimmer zurück.
»Ich würde gern schon etwas früher fahren«, sagte Straube und rollte die Pfeife in seinen Händen hin und her. »Ich muss noch einiges vorbereiten.«
»Das geht nicht«, erwiderte August, »ich kann dich erst zum Jahreswechsel bringen.«
»Ich könnte ja schon allein vorfahren.«
August legte den Kopf in den Nacken und ließ eine Qualmwolke aus seinem Mund aufsteigen.
»Kann es sein, dass du in Wirklichkeit nach Hülshoff willst?«
»Ja«, sagte Straube, »ich bin wohl ein schlechter Lügner. Aber ich muss mit Nette sprechen. Sonst habe ich keine Ruhe.«
August lag immer noch in derselben Position. Den Nacken auf der Sessellehne, glotzte er mit aufgesperrtem Mund seiner Rauchwolke hinterher.
»Reflektierst du etwa auf unsere Pferde? Das kannst du vergessen.«
»Ich fahre mit der Post. Daran kannst du mich nicht hindern.«
»Ach, mit der Post will der Herr fahren. Von welchem Geld eigentlich? Von meinem doch wohl nicht? Wenn du anderes hast, dann sag es nur, dann kann ich meine Zuwendungen ja einstellen.«
Straube schwieg. Schweigend starrte er aus dem Fenster, bis darüber seine Pfeife ausging. August paffte schlecht gelaunt vor sich hin.
»Die lassen dich gar nicht rein in Hülshoff. Und wenn du da einen Skandal machst? Was dann? Dann muss ich es wieder für dich glätten.«
Straube weinte leise.
»Entschuldige bitte«, sagte er, »das nimmt mich alles sehr mit.«
August beugte sich zu ihm, legte seine Hand auf Straubes Arm und brachte seine Nase ganz nah an Straubes Gesicht. Beinahe hätten sich ihre Brillen berührt.
»Ich leid es nicht, dass ein Genie wie deines sich an so ein Frauenzimmer wegwirft«, sagte August. »Das ist unwürdig. Als dein Freund muss ich dich daran hindern. Und jetzt wollen wir nicht wieder davon sprechen.«