Die Poetische Schusterinnung an der Leine

Drehen wir die Uhren auf das Jahr 1817. Es dürfte sich dabei um Taschenuhren handeln. Die Armbanduhr war zwar bereits erfunden, konnte sich aber erst im 20.Jahrhundert durchsetzen. Auch die Taschenuhr besaßen nur Wohlhabende. Ansonsten schaute man auf den Kirchturm. Gab es mehrerere davon und wollte man sich verabreden, musste man sich der Ungenauigkeiten wegen auf eine bestimmte Kirchturmuhr einigen.

1817 also, ein Donnerstagabend im Sommer. Die beiden Studenten August von Haxthausen und Heinrich Straube gingen durch die mittelalterlich engen Gassen der ehrwürdigen Universitätsstadt Göttingen, wobei sie bis zu den Waden durchs Wasser pflügten. Wasser kam auch von oben. Es regnete in Strömen. So wie es den Tag zuvor geregnet hatte. Und den Tag davor. Und die ganze Woche davor. Nicht einmal die Alten hatten so etwas je erlebt. Und das mitten im Sommer.

Straube trug einen Flaus, ein abgewetztes, schmutziggelbes Kleidungsstück, das ungefähr die Gestalt eines Überrocks besaß, und das er liebevoll meinen Friedrich nannte. Wegen der Nässe verströmte der Flaus einen muffigen, etwas tierhaften Geruch. Dazu leistete Straube sich eine weiße Perücke und eine enorm breite, ehemals weiße Halsbinde, die verbergen sollte, dass er mit weiterer Wäsche nicht besonders gut versorgt war. Augusts

»Ein Schirm wäre jetzt schön«, sagte Straube.

»Ein Schirm?« August blieb ruckartig stehen und packte Straube am Kragen. »Ein Paraplü? Französische Verweiblichung! Deibel ock, Straube, was fällt dir ein?«

Er ließ ihn wieder los und setzte kopfschüttelnd seinen Weg fort. Straube planschte ihm in seinen undichten Stiefeln hinterher. Die Rinne in der Straßenmitte war übergelaufen und hatte die gesamte Fahrbahn zur Gosse gemacht, in der eine stinkende Brühe aus Hausabwässern, Jauche, Kot und Schlachtabfällen Blasen schlug. Trotzdem benutzte niemand die erhöhten und gepflasterten Fußsteige, auf die die Stadt so stolz war. Die Abflussrinnen, die von den Mistgruben zwischen den Häusern herausführten, waren lange vor den Gehsteigen angelegt worden und man hatte während der Baumaßnahmen schlichtweg vergessen, sie zu verlängern. Statt auf den Fahrdamm ergossen sich die Abflüsse nun direkt auf den Gehsteig. Bei diesem Wetter kam noch das Traufwasser von den Dächern dazu – die mittelalterlichen Häuser besaßen keine Regenrinnen – und wahre Sturzbäche unterspülten den Gehweg und damit auch die

Vor dem Rathaus war großer Andrang. Bettler und Bedürftige reihten sich vor einem Marktstand mit rotem Regendach auf. August und Straube stellten sich aus lauter Neugierde mit an.

»Was gibt es denn?«, fragte August.

»Armenbrot«, krächzte das ausgezehrte Männlein vor ihnen, »aber nur gegen Brotzettel.«

Er sah aus, wie die Alten den Tod gemalt, die Augen lagen tief in ihren Höhlen, die Kleider bestanden nur noch aus schwarzen Fetzen.

»Woraus ist es denn gebacken?«, fragte Straube interessiert.

»Keine Ahnung«, keckerte das Gerippe, »es ist ziemlich grün. Wahrscheinlich aus Moos und Rinde.«

»Das Mischbrot des Mischwaldes«, sagte Straube vergnügt.

Schon stellten sich weitere Bedürftige hinter ihnen an. Eine Frau mit vier Kindern am Rock drängte sich heran, als gehörte sie zu ihnen.

»Sie soll’n Rogg’n und Erbs’n aus Riga hab’n.«

»Hinten anstellen«, schnauzte einer hinter ihnen.

»Was?«, fragte Haxthausen, der als Kind bei einer Blatternimpfung auf dem rechten Ohr ertaubt war.

»Rogg’n und Erbs’n. Aus Riga. Oder Flensburg. Weiß nicht so genau.«

Die Frau beachtete ihn gar nicht. Stattdessen kniff sie ein Auge zu und betrachtete Augusts mittelalterlichen Aufzug.

»Wie läufst du überhaupt rum? Was bist’n für einer?«

»Ach gute Frau, das würde jetzt zu weit führen«, sagte August und zog Straube mit sich fort. »Ein andermal vielleicht.«

Bei Augusts Waffenrock, dem breiten, offenen Kragen und dem Barett mit der Reiherfeder handelte es sich um eine Altdeutsche Tracht, eine Mode, die während der Befreiungskriege aufgekommen war und mit der die meist jugendlichen Träger ihre Unzufriedenheit mit der Gegenwart und ihre Abneigung gegen alles Französische – und sei es bloß Hemd oder Hose – zum Ausdruck brachten. Ein inoffizieller Entwurf für eine eigenständige deutsche Nationaltracht, so es denn einmal eine eigenständige deutsche Nation geben sollte. In Jena wäre er in diesem Aufzug gar nicht weiter aufgefallen. Dort war die Altdeutsche Tracht längst zu einem Erkennungszeichen der Burschenschaftler geworden. Aber hier in Göttingen …

»Ich weiß nicht, ob das wirklich eine gute Idee ist, all diese Suppenküchen und Brotverteilungen«, sagte August. »Damit zieht man doch nur noch mehr Bettler an. Und die, die schon hier sind, ermuntert das bloß zum Nichtstun. Außerdem wollen sich diese ganzen Hilfsvereine doch bloß gegenseitig übertrumpfen und wichtig machen. Weißt du, was meine Nichte Annette neulich zu mir gesagt hat, Deibel ock? Sagt, sie kann mir jetzt nicht zuhören, sondern muss nach Münster zur Armenspeisung. Das wäre wichtiger, als sich von mir gute Lehren anzuhören.«

»Ah, die begabte Nichte, die zweite Sappho«, sagte Straube. »Wann werde ich sie kennenlernen?«

»Was?«, sagte Haxthausen und wandte ihm das linke Ohr zu.

»Deine Nichte! Die zweite Sappho! Wann werde ich sie kennenlernen?«

»Aber das denkst du doch auch«, sagte Straube.

»Jetzt nicht mehr! Nicht, wenn es diese Folgen hat. Zu Wilhelm Grimm hat sie Wilhelm Unwill gesagt. Kannst du dir das vorstellen? Zu Grimm! Wilhelm war deswegen tagelang gekränkt.«

»Ach, der Grimm«, sagte Straube, »der Grimm ist aber auch schrecklich empfindlich. Unwill – finde ich eigentlich ganz lustig.«

»Ich bin gespannt, ob du das noch genauso siehst, wenn sie ihre schlechten Scherze erst auf deine Kosten macht.«

»Ihr lacht doch sowieso alle über mich«, sagte Straube leichthin, »warum also nicht auch deine talentierte Nichte?«

»Was? Ach so, ja.«

August schnaubte wild durch die Nase.

»Das ist ja wohl etwas anderes.«

Sie traten aus dem Gewirr der engen Gassen heraus auf die breite Weender Straße. Drei offene Mietkutschen rasselten mit ungeheurem Lärm und Fontänen spritzend an ihnen vorbei, vollbesetzt mit Verbindungsstudenten, die bei ihrem Anblick johlend die Mützen schwenkten. Eine rohe und wilde Bande war das, alle trugen sie lange Schnurrbärte, die meisten waren bis vor Kurzem noch Soldaten gewesen und hielten sich für die Befreier Deutschlands. Eine vierte Kutsche kam neben August und Straube zum Halten. Darin saß der dicke Schnüll, Fuchsmajor des Corps Hannovera, zusammen mit einem Dutzend Corpshunden, die die Farben ihrer jeweiligen Verbindung am Halsband trugen. Überwiegend waren es Pudel – ziemlich nasse Pudel –, aber auch zwei Wachtelhunde des Corps Bremensia waren dabei, ein kläffender Mops und Schnülls eigener Hund, ein Bullenbeißer namens Hektor, der sich freundlich sabbernd neben seinem Herrn aus dem Wagen lehnte. Hektor trug eine eigens

»Haxthausen, altes Gespenst«, schrie Schnüll gegen das Mopsgekläff an, »willst du mit auf den Paukboden? Delius schlägt sich mit Krawinkel, und Pappenheim schlägt sich gleich dreimal: mit Dilthey, Krawinkel und Vogelsang.«

Straube, dessen Anwesenheit vom Fuchsmajor vollkommen ignoriert wurde, entfernte etwas Entengrütze von seinem Flausrock.

»Danke, mein Bester«, erwiderte August und tätschelte dem Bullenbeißer den Kopf mitsamt der Mütze, »aber die Gilde verlangt nach uns.«

Schnüll starrte ihn verständnislos an. Er war ein guter Fechter, hatte aber wenig Sinn für höhere Gedanken.

»Die Innung«, erläuterte August. »Die Poetische Schusterinnung an der Leine. Was du hier unter meinem Arm siehst, sind die Statuten, die von den Gesellen sehnsüchtig erwartet werden. Sapperment!«

Die Poetische Schusterinnung war eine literarische Vereinigung, mit der August von Haxthausen sich und gleichgesinnten Kommilitonen eine schöngeistige Alternative zu den blutrünstigen und leichtfertigen Studentenverbindungen geschaffen hatte. Schnüll, der weder Journale noch Bücher las, blies sich auf, um seine Meinung über literarische Herrenkränzchen kundzutun, aber in diesem Moment konnte der Kutscher die Pferde, die den anderen Droschken hinterherwollten, nicht länger halten, und der Ruck des Anfahrens warf Schnüll in den Sitz zurück und schleuderte zwei Pudel von der Bank, sodass der Fuchsmajor sich erst einmal darum kümmern musste und Haxthausen mit einer Grimasse und einer vagen Handbewegung entließ.

 

Die Sitzung fand bei Meyer statt, einem Studenten aus Lüneburg, der im Schumann’schen Gartenhaus vor dem Albani-Tor

Als Haxthausen und Straube als Letzte, aber durchaus noch in der Zeit, eintrafen, quoll ihnen aus Meyers Freundschaftstempel bereits Tabakqualm und der Dampf nasser Kleidung entgegen. Obwohl erst sieben Uhr, war es drinnen bereits so dunkel, dass Dr. Biber zwei billige Lichter angezündet hatte, die den Geruch verbrannten Trans verbreiteten. Und er hatte eigenhändig den Ofen befeuert. Überall standen mit Stroh ausgestopfte Stiefel herum, hingen nasse Strümpfe und Gamaschen. Selbst über dem Bilderrahmen mit der Göttinger Ansicht hing ein Paar. Die wenigen Sitzplätze waren natürlich längst vergeben. Der schöne Arnswaldt und der nicht ganz so schöne Hornthal lümmelten auf Bibers Alkoven-Bett, Langelotz und Westphal hatten die beiden Stühle ergattert und ritten sie verkehrt herum wie Pferde, und der ewig heimwehkranke Baggesen hatte seinen schmalen Körper auf ein Fensterbrett gefaltet und träumte von der Schweiz, unter sich einen großen, stinkenden Hund, der entfernt an einen Bernhardiner erinnerte. Jedenfalls behauptete Carl Baggesen steif und fest, dass das Vieh dem Bernhardiner seiner Großtante, die in Bern auf dem Hübeli beim Stadtbach lebte, wie aus dem Gesicht geschnitten wäre. Christiani und Casper sowie ein strubbeliges, kurzbeiniges Hündchen lagerten auf dem Holzboden, der mit einem Flickenteppich und einigen Mehlsäcken

Straube nahm ebenfalls seine Pfeife vor und quetschte sich als Dritter mit auf das Bett – zu von Arnswaldt und von Hornthal.

»Oh Gott«, sagte Hornthal, als Straube Zunderschwamm und Feuerstein auspackte, »jetzt kommt wieder der Straubische Stinkschwamm! Kann mal jemand ein Fenster öffnen?«

Straube schlug in aller Ruhe Funken in den Zunder, schmatzte an der Pfeife und sagte: »Zündet ganz hervorragend, der Straubische Stinkschwamm.«

Ein impertinenter Gestank stieg auf, der zwischen all den anderen üblen Gerüchen von nassen Kleidungsstücken und nassen Hunden, dem verbrannten Tierfett billiger Lichter und den körperlichen Ausdünstungen ungewaschener Poeten noch hervorstach. Straube weidete sich an dem Anblick von Hornthal und Arnswaldt, die ihre Köpfe so weit wie möglich aus der Bettnische reckten.

Für diesen Abend hatte die alphabetische Reihenfolge August von Haxthausen zum Altgesellen bestimmt. Dazu kletterte er auf ein ächzendes kleines Tischchen, wrang noch einmal seine langen Haarsträhnen aus, nahm seine Brille hervor und wartete, bis sich das Gegrummel und Gehuste ein wenig gelegt hatte. Dann rief er mit tönender Stimme: »Guten Abend! – Gott ehre das Reich, Gott ehre das Gelag! Gott ehre jede fromme

Da nun aber alle außer ihm bereits saßen oder lagen, ließ sich auch August auf die Tischkante herunter und fuhr gleich fort, indem er nach dem Anwesenheitsbuch fragte. Christiani ließ es zu ihm durchreichen. August putzte seine beschlagene Brille am Musketierkragen, leckte den Bleistift an und hakte ab.

»Anwesend sind: Almhold, Alpin, Casper Brenno, Danteut, Liebetraut, Tannhäuser …« – bei der Nennung seines eigenen Gildenamens nickte er zweimal und wies mit dem Stift auf seine eigene, samtbespannte Brust –.

»… Hans auf der Wallfahrt, Johannes Wassersprung, Westphal und Georg Theodor Meyer. Oder hat sich der Geselle Meyer inzwischen für einen Gildenamen entschieden?«

»Das hat er«, erwiderte Meyer, der an der Tür stand, und verneigte sich steif in alle Richtungen, »mein Gildename sei fortan …«

»Dr. Biber! Dr. Biber!«, schrien die Gildebrüder albern, und August musste doch sehr um Ruhe bitten. Meyer räusperte sich.

»Mein Gildename sei Treuwerth an der Ilmenau.«

»Sei willkommen, Treuwerth an der Ilmenau«, antwortete August von Haxthausen feierlich. »Wem Freud ist wie Leid, und Leid wie Freud, der danke Gott für holde Gleichheit. Was ist mit Zwicker? Wollte Danteut nicht Zwicker mitbringen?«

»Zwicker lässt sich entschuldigen, er muss sekundieren«, sagte Christiani.

»Kommen wir zu den Statuten«, August räusperte sich, »die Statuten, zu deren Einsicht oder Abschrift die zünftigen Gesellen die Woche über bei mir Gelegenheit hatten, was leider nur vereinzelt wahrgenommen wurde.«

Er begann mit der ausführlichen Einleitung der von ihm

»Also noch einmal«, sagte August Haxthausen, »wer unentschuldigt fehlt, zahlt vier Groschen Strafe. Gute Groschen! Wer vorher eine Ursache seines Ausbleibens angibt, welche aber nicht als gültig von drei Viertel der Stimmen angenommen wird, der zahlt zwei Gute Groschen; wird seine Ausrede einstimmig verworfen, zahlt er wieder vier Gute Groschen. Gibt er erst bei der nächsten Sitzung die Ursache an, so genügen schon zwei Drittel der Stimmen gegen ihn und er muss vier Gute Groschen zahlen.«

»Nein, nein, nein«, rief Arnswaldt. Seine Stirn war gerunzelt wie die Unterseite eines Pilzes und seine Lippen bestanden aus zwei schmalen blutleeren Strichen.

»So wird nie Disziplin einziehen. Wer nicht bis spätestens einen Tage nach der Sitzung seine Entschuldigung eingereicht hat, muss in jedem Fall zahlen.«

»Gott, was ist der Herr von Arnswaldt wieder streng«, sagte Straube und gähnte.

»Stimmen wir ab«, sagte Haxthausen. »Wer ist dafür, dass wir es so wie in meinem ursprünglichen Entwurf halten?«

Langelotz, Straube, Dr. Biber, Christiani, Westphal, Casper und August selber meldeten sich.

»Wer ist für den Vorschlag von Hans auf der Wallfahrt?«

»Enthaltungen?«

Niemand meldete sich.

»Was ist mit dem Gesellen Alpin?«

Der angesprochene Baggesen kauerte immer noch auf dem Fensterbrett, die Arme um die mageren Knie geschlungen, und sah geistesabwesend hinaus in den Schuhmann’schen Gemüsegarten, wo die Bohnenranken tapfer versuchten, die Zaunlatten emporzuklimmen, während ihre Blätter von absurd großen Regentropfen zu einem grünen Matsch zerschlagen wurden. Eine Heimsuchung war das, diese Kälte, dieser nicht enden wollende Regen. Und in der Schweiz sollte es noch schlimmer sein, eine richtige Hungersnot mit Toten, viel schlimmer als hier in Göttingen. Ob die Großmutter und ihre Schwester auf dem Hübeli beim Stadtbach wohl genug zu essen hatten?

»Alpin!«

Baggesen fuhr auf. Beinahe stieß er seine längst erloschene Pfeife vom Fensterbrett. »Was?«

»Es bleibt also bei der ursprünglichen Fassung«, sagte August.

Baggesen rieb mit beiden Handflächen sein Gesicht, zwang sich zur Aufmerksamkeit.

»Zu Danteuts Antrag«, rief August. »Wer ist dafür, dass auf Tee und Zubehör verzichtet wird?«

Dr. Biber sah besorgt in die Runde. Langelotz, der wusste, wie sehr sein Freund unter solcher Einschränkung leiden würde, erhob sich von seinem Stuhlpferd und stützte die Hände auf die Lehne.

»Vielleicht sollten wir es so halten, dass der Tee frühestens eine Stunde nach Beginn ausgeschenkt werden darf.«

Beifälliges Gemurmel von allen Seiten.

»Also halten wir das fest«, sagte August.

»Sollten wir nicht ordentlich darüber abstimmen?«, murrte Arnswaldt.

»Gut. Darüber stimmen wir also das nächste Mal ab«, entschied August.

Er wurde wieder zeremoniell: »Mit Gunst! Wohlbewanderte Gesellen, Ihr werdet wissen, dass wir alle acht Tage unseren ehrlichen Eingang und Ausgang haben und dass wir dazwischen alle guten Künste treiben; das wollen wir auch heute tun, und so rufe ich denn Euch, Danteut von Axelstadt, auf, zu beginnen.«

Christiani reichte seine Pfeife an Casper, rappelte sich vom Boden hoch und nahm die rote Verbindungsmütze ab. Ohne Mütze sah er mit seiner Stupsnase und den großen erstaunten Augen wie ein Kind aus – wenn auch ein wahnsinnig elegantes Kind. Seine Schneiderrechnungen waren legendär. Zwar war sein Studentenrock genauso schwarz wie die seiner Gildebrüder, hatte aber einen viel besseren Schnitt. Dazu hatte er sich diesmal einen schwarzen Umhang mitgebracht, den er sich um die Schultern schwang. Er musste über Casper steigen, um nach vorn zu gelangen.

»Venus und Adonis«, sagte Christiani mit fester Stimme und reckte das rundliche Kinn. Seine Oberlippe zitterte.

 

»Aus dem silberblauen Spiegelmeere

Hebt Aurora blutig sich empor

Ha! …«

Im selben Moment, in dem er »Ha« rief, griff seine rechte Hand einen Teil des Umhangs und schleuderte ihn sich über die linke Schulter, wobei er die Faust gleich auf der Schulter liegen ließ, sodass sein Ellenbogen nach vorn stach und der schwarze Stoff von seinem Arm heruntertraufte wie ein Bahrtuch. Christianis Gesicht, das nun oberhalb von so viel Schwarz zu

»Ha! Schon sprengt der göttlich hehre

Helios des Himmels goldnes Tor

Seine wilden Rosse bäumen

Wiehernd sich bis zum Arktur

Venus und Adonis träumen

Liebend noch, auf Paphos Flur …«

»Moment mal«, sagte Arnswaldt. »Ich bitte um Entschuldigung, dass ich unterbreche, aber wäre es nicht passender, wenn vorerst nur die Rezensenten das Gedicht bekämen und es dann beim nächsten Mal zusammen mit den Rezensionen verlesen würde? Sonst haben wir nächste Woche wieder das Problem wie beim letzten Mal, dass die meisten das Vorgetragene schon wieder vergessen haben und die Rezensionen gar nicht richtig würdigen können.«

»Und dabei sind es doch die Rezensionen, auf die es vor allem ankommt …«, erwiderte Christiani giftig. Den Arm hatte er wieder heruntergenommen.

»Was?«, fragte Haxthausen.

»Hans auf der Wallfahrt findet die Rezensionen wichtiger als die Gedichte und will die Gedichte deswegen nur noch den Rezensenten zukommen lassen«, brüllte Christiani in Haxthausens linkes Ohr.

»Eine merkwürdige Idee, wir werden das nächste Mal darüber abstimmen«, sagte Haxthausen verwirrt. »Aber du musst nicht brüllen. Links höre ich sehr gut. Und jetzt sollte Danteut erst einmal die Gelegenheit haben, sein Gedicht ungestört zu Ende vorzutragen. Bitte keine Unterbrechungen mehr!«

»Woher soll ich wissen, ob ich überhaupt eine Kritik schreiben will, wenn ich das Gedicht noch gar nicht kenne«, warf Straube ein.

Christiani brachte sein Gedicht zu Ende, aber er war aus dem Takt gekommen, das Feuer der Leidenschaft glomm nur noch schwach, und er konnte sich erst in den letzten Strophen wieder steigern.

»… Zähren, heiße bittre Zähren fließen

In des Heißgeliebten dampfend Blut

Weiße Rosen, Anemonen sprießen,

aus der heißen liebgeweihten Flut …«

Der Applaus war dann auch freundlich, aber nicht besonders enthusiastisch. Christiani hockte sich wieder auf den Boden und ließ sich von Casper seine Pfeife zurückgeben, die der für ihn weitergeraucht hatte. Dr. Biber kam mit einer zweiten Kanne Tee.

»Keine weiteren Vorträger?«, fragte Haxthausen. »Hier ist niemand mehr eingetragen, aber vielleicht hat ein Geselle zufällig etwas dabei.«

Er sah erwartungsvoll in die Runde.

»Was ist mit dir, Westphal? Hast du dir wenigstens endlich einen Gildenamen überlegt?«

Westphal schüttelte den Kopf und klammerte sich an den Stuhl, auf dem er ritt.

»Wo bleibt dein Gedicht? Du bist einer von denen, die diesen Monat überhaupt noch nichts vorgelesen haben.«

»Ich habe überhaupt keine Zeit. Ich schreibe doch meine Doktorarbeit. Eigentlich habe ich nicht mal die Zeit, jetzt hier zu sein.«

»Hm, willst du uns das nächste Mal vielleicht daraus vorlesen?«

»Aus der Doktorarbeit? Interessiert euch das? Ich schreibe über die Geschichte des Kräfteparallelogramms.«

»Oh Gott«, stöhnte Christiani.

»Ich wollte mich auch nicht aufdrängen«, schnappte Westphal.

»Sonst noch jemand, der ein Gedicht oder einen Vortrag dabeihat?«, rief August.

Niemand meldete sich.

»Sapperment. Das ist arm. Letztes Mal gab es nur drei Gedichte, davon zwei ebenfalls von Danteut und eines von mir. Ich möchte daran erinnern, dass laut Paragraph 15 der Statuten jeder Geselle, der nicht binnen Monatsfrist irgendetwas von seinen Geistesprodukten liefert, acht Gute Groschen in die Strafkasse zahlen muss.«

Immer noch meldete sich niemand. Desto eifriger wurde geraucht. Straube besah sich eine Laus, die er aus seinem Flaus gefischt hatte.

»Dann kommen wir also hiermit zu den Rezensionen«, sagte August bitter.

»Ich fordere den Gesellen Liebetraut auf, zu beginnen, und zwar mit der Rezension des Gedichts, das Danteut uns das letzte Mal vorgetragen hat. Wenn ich mich recht erinnere, hieß es Glosse.«

Hornthal stand gar nicht erst vom Bett auf, sondern nahm bloß einen Bogen Papier aus seiner Mappe. »Ich bin der Meinung, die erste Strophe sollte nicht fragen, wo die Liebe wohne, sondern wie das Leben aus ihr komme. Die Liebe sollte da noch gar nicht genannt sein. Die zweite Strophe ist dann aber schon viel besser. In der dritten Strophe würde ich nicht zweifelnd fragen, wer uns die Liebe gegeben …«

»Das habe ich doch überhaupt nicht«, murrte Christiani.

»Doch, hast du.«

»Habe ich ganz gewiss nicht!«

»… sondern ich würde den schelten, der noch fragen könnte: hat ein Gott sie uns gegeben. Die vierte Strophe ist übrigens

Hornthal steckte den Zettel wieder ein.

»Na, du musst es ja wissen«, sagte Christiani.

»Ich verwarne den Gesellen Danteut«, sagte August von Haxthausen in den Statuten blätternd, »und verweise auf Paragraph 3 des Abschnitts Innere geistige Einrichtung, die zu besprechen wir heute leider noch nicht die Zeit gefunden haben und die lautet:« – er raschelte die einzelnen Seiten wieder zusammen – »›Die Kritik muss so scharf wie möglich in das Werk eingehen, sie muss sich bloß rein persönlicher Beleidigung enthalten. Dagegen kann auch der schärfste Tadel, sobald er nur aus einer Ansicht hervorgeht, niemals beleidigend sein, und die Mitglieder versprechen sich gegenseitig, solches nie übel zu nehmen.‹ Wenn du trotzdem auf die Rezension antworten möchtest, dann hast du jetzt Gelegenheit dazu.«

»Will ich gar nicht«, sagte Christiani, »ich möchte nur anmerken, dass der Geselle Liebetraut immer dicker wird und aus gutem Grund nicht Liebetrautsichwas heißt und dass er ganz offensichtlich nicht begriffen hat, wovon die dritte Strophe handelt, sonst würde er nicht so einen Unsinn reden. Außerdem sitzt er da auf Bibers Bett wie in einem Großvaterstuhl, und so benimmt er sich auch – wie ein Großvater, der einem spielenden Kind vorschreiben will, wie es hüpfen und springen soll.«

»Etwas persönlich, aber witzig«, sagte August, »ich glaube, das können wir durchgehen lassen.«

»Wo wir gerade dabei sind«, sagte Straube, »ich würde gern eine Kritik der drei Rezensionen verlesen, die das letzte Mal über mein schönes Gedicht hergefallen sind, da mein Gedicht zu zart und zu empfindlich ist, um sich selber verteidigen zu können.«

»Nur zu, Johannes Wassersprung«, sagte August von Haxthausen, »kritisiere!«

»Über die drei Rezensionen kann Rezensent weiter nichts sagen, als dass sie ebenso kurz als schlecht, ebenso flüchtig als wenig tüchtig, ebenso dunkel als ein Karfunkelgemunkel, ebenso dreist als nach einem Leist, …«

Der Rest ging im Gelächter unter, und Straube verneigte sich nach allen Seiten und nahm wieder auf dem Bett Platz.

»Dann kommen wir jetzt zur Rezension von Tannhäusers Gedicht Hoffnung«, sagte August so neutral, als wäre Tannhäuser vom Venusberge aus dem Heiligen Römischen Reich nicht sein eigener Gildename. »Arnswaldt … äh, ich meine Hans auf der Wallfahrt, und Johannes Wassersprung, ihr habt euch für die Rezensionen gemeldet.«

Arnswaldt stand auf und trat auch noch einen Schritt vor. Er lächelte seinem Freund Haxthausen offen ins Gesicht und las von einem Blatt ab.

»Dieses seinsollende Gedicht, durch eine besondere Überschätzung gewürdigt, den Schatz der Gilde zu beflecken, schien seine ursprüngliche Bestimmung besser zu kennen als sein Verfasser, als es uns verloren ging, und wurde wohl gegen seinen Willen durch eine zweite Abschrift, welches im Grunde die unnützeste Arbeit ist, die ich jemals vorgenommen, ins Leben zurückgezwungen. Es ist zwar Die Hoffnung überschrieben, kann aber allenfalls für eine Erinnerung aus einer glücklichen Kindheit gelten, die etwas trivial in ein romantisches jugendliches Alter hinüberspielt.«

Haxthausen, der anfangs erwartungsvoll geschaut hatte, stutzte kurz, dann aber verzog sich sein Gesicht zu einem breiten Grinsen. Er faltete die Hände vor dem samtenen Wams und war ganz linkes Ohr.

»Jedenfalls hoffen wir«, fuhr Arnswaldt fort, »dass die

Als er geendet hatte, blieb es still. Baggesen, der sich wieder zum Fenster hinaus nach Bern zum Hübeli am Stadtbach geträumt und deswegen nichts mitbekommen hatte, fuhr auf und sah sich irritiert um.

»Bravo«, brach endlich August die Stille, »bravo, bravo! Eine wunderbare Kritik. Ich danke dem Gesellen für die mir zugeteilte Strenge.«

»Ich sehe das anders«, fiel Straube schnell ein, »ich halte Hoffnung für eines der innerlich vollendetsten Gedichte, wenn im Äußeren auch manches fehlt. Man fühlt bei Durchlesung leicht, dass es hell und klar vom Verfasser empfunden. Deshalb legt sich ihm auch das Versmaß so anmutig an. Ausdruck und Empfindung stehen so nah, dass es unnötig ist, den ein oder anderen technischen Fehler anatomieren zu wollen.«

»Ich fand’s auch gut«, sagte Langelotz.

Dr. Biber kam mit einer weiteren Kanne Tee. Haxthausen dankte sämtlichen Rezensenten und beschloss für sich, dass er die Probe, der ihn Arnswaldt unterzogen hatte – nämlich, ob er die von ihm aufgestellte Forderung, auch dem schärfsten Tadel mit freundschaftlichem Gleichmut zu begegnen, denn auch selber erfüllen könnte –, mit Bravour bestanden hatte. Genau genommen hatte ihm Arnswaldt dadurch bloß die Gelegenheit gegeben zu zeigen, wie ein großer Mann so eine Anfeindung stoisch anzuhören imstande war. Dreist war es

Da alle Kritiken verlesen waren, hätte man nun zum gemütlichen Teil übergehen können, aber Arnswaldt und Christiani drängten, dass sie unbedingt auf den Ulrich müssten, um am Stammtisch ihrer Verbindung zu erfahren, wie die eigenen Leute sich geschlagen und ob es Verletzte gegeben hatte. Die anderen schlossen sich an, außer Baggesen, der mit seinem Bernhardiner lieber gleich nach Hause ging.