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Xaver schnupperte an der Luft. War das wirklich Tannenduft?
Er drückte die Tür hinter sich zu und zog seine Schuhe aus.
Aus der Küche kam Jontes Stimme. „Die Sternchen sehen gut aus“, sagte er. Dann raschelte und knisterte es.
In der nächsten Sekunde erschallte ein durchdringendes Lachen. – Okay, Sina war also auch hier.
„Mensch, Jonte, das ist doch kein Sternchen“, rief sie. „Es ist ein Engel. Sieht man doch, ne? Hier, der Kopf, und das sind die Flügel!“
„Och, ach so, hm …“
Xaver hängte seine Winterjacke an den Haken und bewegte sich durch die Diele.
Auf Sinas und Jontes Fragen hatte er ehrlich gestanden keine Lust. Ein One-Night-Stand war doch nichts, was man besonders breittrat. Also ging er möglichst leise an der Küchentür vorbei. Es brachte aber nichts.
„Na, sieh mal einer an! Auch schon zu Hause, der Herr?“, kam es lautstark von Sina.
Xaver blickte in die Küche. Auf Sinas Aussage ging er nicht ein. Vielmehr musterte er die Tanne, die eingequetscht zwischen Küchenzeile und Esstisch ein recht trauriges Dasein fristete. Einige Zweige lagen auf der Tischplatte auf, weil in dem Spalt schlichtweg zu wenig Platz war.
„Du hast also doch einen Baum geholt?“, fragte er Jonte.
„Wir wollen es doch weihnachtlich haben“, erklärte dieser und seine Hand machte eine präsentierende Geste über den Küchentisch, auf dem zahlreiche glitzernde Papierstückchen ausgebreitet waren. „Guck mal!“
Einige waren zu kleinen Kunstwerken gefaltet, Sternchen, Röllchen und andere Gebilde. Sina fertigte gerade ein weiteres an und übergab es Jonte, der ein Drahtstück daran befestigte.
„Weißt du, Weihnachtsschmuck ist total teuer“, erklärte er. „Wir haben im Internet geguckt, aber pfff … Also basteln wir die Dinger eben selbst. Sieht doch auch schick aus, hm?“
„Do-it-yourself ist ohnehin viel cooler als gekauftes Zeug“, meinte Sina und machte sich an die Produktion des nächsten Faltkunstwerks.
Xaver nickte verhalten. „Aha.“
Da traf ihn ein empörter Blick. „Warum ziehst du so ein Gesicht? Guck mal, ein Weihnachtsbaum!“ Sie machte eine feierliche Geste. „Andere Leute erfreuen sich an solchen Dingern.“
„Hübsch“, sagte er und hoffte, sich so aus der Situation zu winden.
Doch auch wenn er versuchte, eine gute Miene zu machen, gegen das mulmige Gefühl, das gerade seine Magengrube befiel, konnte er nichts unternehmen.
Er und Weihnachten – tja, das war eben so eine Sache.
Alle seine Leute würden zu ihren Familien fahren, nur er würde in Berlin bleiben. Nicht, weil er keine Familie hatte. Seine Eltern existierten. Zumindest auf dem Papier. Jedenfalls hatte er nichts Gegenteiliges gehört. Sie zu besuchen, kam jedoch nicht infrage.
Das Einfachste war also, Weihnachten zu ignorieren, genauso wie letztes Jahr. Wie sollte das aber funktionieren, wenn Sina und Jonte ihm einen Weihnachtsbaum vor die Nase stellten?
„Wir machen es doch, damit du es auch schön hast an Weihnachten“, erklärte Sina.
Er mühte sich ein Lächeln ab. „Danke, das ist nett. Aber ihr wisst doch … na ja, ich bin nicht so der Weihnachtsfan.“
Jonte, der zumindest in Grundzügen über Xavers Familiensituation Bescheid wusste, machte ein ernstes Gesicht. „Ich habe dir doch angeboten … du weißt, dass du auch mit mir mitkommen könntest.“
Xaver nickte. „Jaja, ich weiß, danke. Ist aber schon okay so.“
Weihnachten in Friesland stellte Xaver sich in der Tat romantisch vor. Keinesfalls wollte er sich aber fremden Leuten aufdrängen. Er kannte doch nur Jonte, nicht aber seine Familie.
Es war also die beste Lösung gewesen, sich für die Weihnachtsschicht im Späti zu melden – wie schon letztes Jahr.
„Irgendjemand muss doch die Schicht schieben“, erklärte er nun. „Du weißt doch, wie wichtig es Erika ist, dass wir an Weihnachten offenhalten.“
Jonte nickte. „Wohl wahr.“
Xaver machte kehrt und ging in sein Zimmer. Er zog sich die Jeans aus, fläzte sich ins Bett und gab sich seinen Gedanken hin.
Sie bewegten sich fort von seiner Familiensituation hin zu dem One-Night-Stand und ein Grinsen legte sich auf seine Lippen. Der Sex mit Simon war echt geil gewesen. Bilder aus der heißen Nacht ploppten vor seinem geistigen Auge auf. Und auf einmal fand er es ein klein bisschen schade, dass der Begriff One-Night-Stand das Wörtchen One beinhaltete.
Plötzlich sprang er auf und blickte sich um.
Wo war denn eigentlich sein Hoodie?
Hektisch schritt er in die Diele und schaute an der Garderobe nach. Nein, hier hing bloß die Jacke. Dann suchte er auch in seinem Zimmer, obwohl er genau wusste, dass er nur das Tanktop angehabt hatte, als er es vorhin betreten hatte.
Sprich: Der Hoodie war nicht da. Den hatte er wohl bei Simon vergessen.
Er ließ sich auf der Bettkante nieder und überlegte.
Es war sein Lieblingshoodie gewesen, und nun hatte er keine Ahnung, wie er je wieder an ihn kommen sollte.
Simon und er hatten keine Nummern getauscht. Er wusste nicht einmal den Nachnamen des Kerls, der ihn heute Nacht so hervorragend gut gevögelt hatte. Warum auch? Es war ja bloß ein One-Night-Stand gewesen.
Ob er noch einmal den Weg zu dem Loft finden würde? Dafür bräuchte er schon ein ordentliches Quäntchen Glück. Vorhin war er planlos durch die Straßen gelaufen – nur so hatte er irgendwie den U-Bahnhof Leopoldplatz erreicht. In die andere Richtung würde es wahrscheinlich nicht funktionieren.
Er überlegte noch weiter. Ihm fiel aber kein Weg ein, wie er mit Simon Kontakt aufnehmen könnte. Also fing er nach einer Weile an, sich mit anderen Dingen zu beschäftigen. Es vergingen ein paar Stunden. Dann musste er los – in den Späti, denn er war zur Schicht eingeteilt.
Tagsüber hatte Erika höchstpersönlich Dienst geschoben.
Als er den Laden betrat, blickte sie von irgendwelchen Unterlagen auf, die sie auf dem Tresen ausgebreitet hatte, und strahlte ihn an.
Sie war eine Frau um die sechzig mit knallrot gefärbter Kurzhaarfrisur, die Damen ihres Alters wohl als flotten Schnitt bezeichneten. Ihre Lesebrille war an einem Band befestigt und saß ganz vorne auf der Nase.
„Och, mein Weihnachtsheld“, rief sie ihm entgegen.
„Hallo Erika“, erwiderte er und kam zu ihr hinter den Tresen.
Dahinter befand sich der Durchgang ins Lager. Er marschierte hindurch, stellte seinen Rucksack ab, zog die Jacke aus und kam wieder zurück.
Erika machte ein geheimnisvolles Gesicht. „Guck mal!“, sagte sie und zauberte ein in Goldpapier eingewickeltes Päckchen unter dem Tresen hervor. Sie streckte es ihm hin. „Für dich! Frohe Weihnachten, mein Prinz!“
„Och, aber Erika … das musste doch …“
„Doch, doch“, unterbrach sie ihn. „Vor Weihnachten sehen wir uns nicht mehr – und du sollst ein schönes Weihnachten haben, auch wenn du hier im Laden Dienst schieben musst. Das ist der alten Erika total wichtig. – Aber …“ Nun hob sie mahnend den Finger. „Das Päckchen öffnest du erst an Weihnachten, hörst du!“
„Klar. Versprochen.“ Er lächelte.
Liebevoll rieb sie ihm die Schulter. „Du bist eben der beste meiner Prinzen.“
„He, das sagst du zu den anderen bestimmt auch!“
„Ertappt!“, rief sie und lachte schallend auf. „Aber ihr seid eben alle meine besten Prinzen!“
Erikas Lachen war so ansteckend, dass Xaver automatisch mitlachen musste. Seine Chefin war eine Erscheinung und von ihr ging eine Wärme aus, der man sich nicht entziehen konnte, schon gar nicht jemand wie Xaver, der diese Wärme über so viele Jahre schmerzlich vermisst hatte.
„Danke Erika“, sagte er schließlich und betrachtete das goldene Päckchen in seinen Händen von allen Seiten.
„Fröhliche Weihnachten“, sagte sie noch einmal.
Schließlich ging sie noch eine Runde durch den Laden und kontrollierte, ob alles in Ordnung war – eine Routine, die sie vor jeder Dienstübergabe vollzog.
Xaver verfolgte sie mit seinem Blick und ihn erfasste ein wohlig warmes Gefühl. Ja, es war ein Riesenglück gewesen, dass er in Erikas Späti gelandet war. Jonte hatte ihm zu dem Job verholfen. Der hatte schon für Erika gearbeitet, als er zu ihm in die WG gezogen war – und Erika hatte damals gerade einen neuen Verkäufer gesucht. So hatte das eine das andere ergeben.
Zwei Jahre lang arbeitete er nun schon hier und längst war er vom Verkäufer zum Prinzen aufgestiegen.
„Das Bier im Kühlschrank ist bald alle“, sagte sie nun. „Du solltest also bald nachlegen.“
„Klaro, mach ich!“
Er fing an, das Geld zu zählen, und Erika kam zu ihm und beaufsichtigte ihn dabei. Dann wurde der Kassenstand notiert. – Lauter Abläufe, die gut eingespielt waren.
Erika führte den Laden schon seit Jahrzehnten. Die Jungs, die für sie arbeiteten, hatten in dieser Zeit freilich oft durchgewechselt. Momentan waren sie zu viert. Neben Aaron, Jonte und Xaver gab es auch noch Torben.
Vier junge Typen. Alle schwul. Selbst in einer Stadt wie Berlin konnte es sich da um keinen Zufall handeln. Offensichtlich legte Erika bei der Einstellung darauf Wert. Warum, wusste niemand so genau.
Xaver hatte sie aber einmal darauf angesprochen.
„Ihr seid Prinzen“, hatte sie geantwortet. „Und ihr macht weniger Ärger, wenn du verstehst …“
Xaver hatte es damals nicht verstanden und er tat es bis heute nicht. Musste er aber auch nicht. Es sollte ihm doch nur recht sein, denn er war überglücklich mit dem Job und sie waren ein großartiges Team.
Nun ging Erika nach hinten und holte Mantel und Handtasche.
„Hab einen ruhigen Dienst“, sagte sie und lächelte. Mit dem Kinn deutete sie noch einmal auf das goldene Päckchen, das auf dem Tresen lag. „Das Ding packst du aber erst an Weihnachten aus, hörst du!“, sagte sie noch einmal streng.
Er schmunzelte. „Du machst mich nun echt schon neugierig, Erika. Aber klar, hatte ich doch versprochen!“
„Guter Junge.“
Sie marschierte los und wedelte mit der Hand. „Tschüssikowski!“
Die ersten Stunden des Dienstes vergingen recht flott. Jeder Zug, der oben in die Station einfuhr, brachte Leute, die ein, zwei Minuten später den Laden betraten. Vor allem Bier, Knabbereien und Schokoriegel wurden gekauft. Xaver hatte gut zu tun. Wenn sich einmal kein Kunde im Verkaufsraum befand, nutzte er den Moment, um Waren nachzufüllen. Gerade räumte er Kekspackungen ein, da strömten schon wieder Leute durch die Tür und er ging hinter den Tresen.
Bald hatte sich dort eine Schlange gebildet. Er kassierte bei einem Typen zwei Tüten Kartoffelchips ab und stieß mit der Hüfte die Kassenlade zu.
Als er aufblickte, um sich dem nächsten Kunden zu widmen, kitzelte es heiß in seinem Bauch, denn ganz hinten in der Schlange stand … Simon.
Er hatte eine braune Papiertüte bei sich. Xaver ging auf die Zehenspitzen und blickte hinein. Er konnte den dunklen Stoff seines Hoodies erkennen. Simon, der den Blick offenbar bemerkt hatte, fing schmal zu lächeln an – und aus dem Kitzeln in Xavers Bauch wurde ein Flattern.
Rasch bediente er die nächsten Kunden. Jedes Mal, wenn der Bezahlvorgang abgewickelt war, blickte er in die Schlange und zu Simon, der näher aufrückte. Gerade händigte er wieder einem Typen das Wechselgeld aus. Dieser nahm es, schritt davon und kam postwendend wieder zurück.
„Hey, Mann. Du hast mir zu viel rausgegeben.“
„Oh … wirklich.“
Klimpernd landeten zwei Ein-Euro-Stücke auf dem Tresen. „Hier bitte!“
„Ähm, danke“, stammelte Xaver.
Eilig sammelte er die Münzen ein und verstaute sie in der Kassenlade. Bei den nächsten Kunden bemühte er sich um mehr Konzentration. Ständig war da aber das Trommeln in seiner Brust. Schließlich kam die letzte Kundin an die Reihe. Hinter ihr befand sich nur noch Simon. – Auch dieser Verkaufsvorgang wurde abgewickelt.
Dann trat Simon an den Tresen und hatte wieder dieses schmale Lächeln im Gesicht, das ihn so verflucht sexy machte.
Xaver trat von einem Fuß auf den anderen, denn in ihm spielte gerade alles verrückt.
Meine Güte! Er versuchte sich zusammenzureißen, was ihm aber eher schlecht als recht gelang.
„Guck mal, du hast etwas vergessen bei mir …“ Simon hob die Papiertüte auf den Tresen.
Xaver blickte sie an. Im nächsten Augenblick musterte er aber schon wieder Simons attraktives Gesicht, an dem er sich nicht sattsehen konnte. Dem letzten Rest seiner Selbstbeherrschung war es zu verdanken, dass er nicht über den Tresen langte und ihm über das Kinn strich, so wie er es in der Nacht so oft getan hatte, um das herrliche Piksen zu genießen.
Er schluckte. „Danke“, brachte er schließlich hervor. „Ja, den hatte ich schon vermisst.“
Seine Worte klangen wie die eines verschreckten Jungen. Dabei war er doch ein cooler Typ – normalerweise. Offenbar galt es aber nicht für Momente, in denen Simon vor ihm stand.
Er atmete tief durch. Vielleicht würde es ihm ja dadurch gelingen, endlich wieder normal zu werden, hoffte er.
„Tja, ich war wohl etwas verpeilt heute Morgen“, erklärte er. „Also hab ich den Hoodie einfach liegenlassen.“
„Jetzt hast du ihn auf alle Fälle wieder.“ Mit einem Lächeln schob Simon die Tüte über den Tresen.
Xaver nahm sie und stellte sie auf den Boden. „Danke, dass du dir extra den Weg gemacht hast.“
„Ist doch selbstverständlich.“
Sie standen sich gegenüber und ihre Blicke waren fest aufeinandergerichtet. Die Luft, die dazwischenlag, lud sich mit Spannung auf, und in Xavers Kopf fingen die Gedanken zu kreisen an.
In der Regel begegnete man seinen One-Night-Stands nicht mehr, das lag in der Natur der Sache. Und falls es doch geschah, tat man so, als würde man sich nicht kennen. In Clubs hatte er solche Situationen schon mehrfach erlebt.
Jetzt war es komplett anders.
Am liebsten wäre es ihm gewesen, wenn Simon noch stundenlang vor dem Tresen stehengeblieben wäre und ihn einfach nur angeguckt hätte.
Da es recht unrealistisch war, dass dies passieren würde, sagte er plötzlich: „Ähm, darf ich dir ein Bier ausgeben? Eines von dort drüben.“ Er wies zum Bierkühlschrank.
Simon schüttelte aber den Kopf. „Nee, ich sollte nach Hause. Morgen ist Montag.“
„Ähm, ja stimmt …“
Simon wirkte recht unschlüssig. Schließlich wendete er sich aber doch vom Tresen ab und verließ den Laden.
Ein paar Augenblicke später kam ein ganzer Schwall an Leuten herein. Eine lustige Clique, die sich mit Bier eindeckte. Xaver hatte also zu tun.
Als die Gruppe hinausmarschierte, kam ein paar Momente später Simon wieder herein.
Xaver schnappte nach Luft. „Ja, äh, hallo … da bist du ja wieder …“
Verlegen rieb sich Simon das Kinn – und bei Xaver rasselte ein heißer Schauer den Rücken hinab, so aufregend war es, dies mitanzusehen.
„Doch“, sagte Simon schließlich. „Ich meine … ja, doch, ich würde gerne ein Bier mit dir trinken, aber nicht hier …“
„Okay?“
„Was hältst du davon, wenn wir uns mal auf ein Bier treffen, abends?“
„Na ja, ja … ähm, ja …“ Er kam sich dämlich vor, weil die Worte einzeln aus seinem Mund purzelten. „Ja, gerne“, sagte er schließlich und nickte entschlossen.
„Schön.“ Simon lächelte. „Wann hast du denn Zeit?“
„Ach, ähm …“
„Morgen?“
„Ja, morgen Abend ginge es.“
„Gut.“
Simon lächelte ihn an, und das Trommeln in seiner Brust, das zwischenzeitig aufgehört hatte, setzte wieder ein.
„Treffen wir uns morgen Abend am Nolli, um acht beim Ausgang aus dem U-Bahnhof …“
„Abgemacht!“
Dann verließ Simon den Laden und Xaver musste sich auf den Hocker setzen, sonst wäre er schlicht umgekippt – so aufgeregt, wie er plötzlich war.