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Weitere Wochen vergingen, ohne dass sich in Simons Fall etwas Nennenswertes getan hätte.
Justus hatte letztens lediglich zu berichten gehabt, dass das Gericht eine Verhandlung im März in Aussicht gestellt hatte. Ladungen waren aber noch keine verschickt worden. Man konnte also nur hoffen, dass der Termin halten würde.
Nun war es Anfang Februar, jene Jahreszeit, in der normalerweise eine Kältewelle die nächste jagte. Dieses Jahr bildete jedoch eine Ausnahme. Die Temperaturen lagen schon seit Tagen deutlich im Plus. Tagsüber hatte es sogar einige Sonnenstunden gegeben. Xaver hatte sie genutzt und einen Spaziergang im Park am Gleisdreieck unternommen. Er hatte sich auf eine Bank gesetzt und sich gut eine halbe Stunde lang die Sonne ins Gesicht scheinen lassen. Wie er das Gefühl liebte, wenn die Strahlen seine Haut kitzelten! Nach so vielen kalten Wintermonaten hatte er es bitter nötig gehabt.
Danach war er nach Hause gegangen und hatte sich umgezogen. Jetzt bewegte er sich die Prinzenstraße hoch. Es dämmerte und er näherte sich der Kreuzung mit der Gitschiner Straße, an der der U-Bahnhof lag. Er überquerte sie und steuerte auf den Späti zu.
Immer noch lastete die Gesamtsituation schwer auf seinen Schultern. Inzwischen war er aber recht gut darin geworden, sich Strohhalme zu suchen, an die er sich klammern konnte.
Einer dieser Strohalme: Nächste Woche würde er Simon wieder besuchen dürfen. Es gab sogar schon einen konkreten Termin. Mittwoch, 11 Uhr. Er fieberte dem Tag entgegen. Innerlich zählte er die Stunden. 137 waren es noch. Auch wenn es wieder bloß ein Gespräch in diesem kalten Raum unter dem strengen Blick eines Beamten sein würde, dass er Simon wiedersehen würde, war im Moment alles, was zählte.
In ihm hatte sich etwas gewandelt. Je mehr Tage verstrichen waren, desto leiser war der düstere Gedanke geworden. Inzwischen war er vollends verschwunden. Er hatte nicht mehr den geringsten Zweifel daran, dass Simon die Wahrheit sagte. Gleichzeitig war etwas anderes in ihm erwacht. Man konnte es Kampfgeist nennen.
War es nicht eine schreiende Ungerechtigkeit, die Simon gerade widerfuhr? Was auch immer in seiner Macht lag, um ihm zu helfen – er wollte es tun. Eine Aussage vor Gericht war da doch das Mindeste! Auch andere Leute sollten wissen, was für ein Skandal sich gerade hinter den Mauern der JVA Moabit abspielte. Simon war zu einem Opfer der Justiz geworden. Das konnte man doch nicht einfach hinnehmen!
Deshalb hatte er mittlerweile auch Erika, Torben und Aaron von Simons Situation erzählt. Auch Sina war eingeweiht worden. Denn es gab keinen Grund für Heimlichtuereien, ganz im Gegenteil!
Letzte Woche waren sie alle im Späti zusammengekommen und hatten die Köpfe zusammengesteckt, um einen Plan auszutüfteln. Man musste Simon doch irgendwie helfen können. Erika hatte die Idee gehabt, die B.Z. oder die Morgenpost einzuschalten. Ein Typ, der unschuldig im Gefängnis saß – für die Zeitungsfuzzis war dies doch eine gute Story, oder? Ein Artikel würde vielleicht Druck in der Sache aufbauen. Auf alle Fälle wollten sie nichts unversucht lassen.
Selbstverständlich würden sie aber erst handeln, wenn Simon sein Okay dazu gegeben hatte. Fragen konnte er ihn nächste Woche, genau genommen in 137 Stunden.
Nun stand aber erst einmal seine Schicht an.
Er betrat den Späti und gerade war ein ganzer Wust an Leuten da. Aaron hatte alle Hände voll zu tun. Er klimperte mit den Münzen. Schwungvoll warf er die Kassenlade zu, schon trat der nächste Kunde an den Tresen.
Xaver ging währenddessen ins Lager und legte seine Jacke ab. Als er wieder zurückkam, bediente Aaron noch zwei Leute, dann kehrte Ruhe in den Späti ein.
Auf einmal leuchtete das Display von Aarons Handy auf, das auf dem Tresen lag. Er riss das Gerät an sich, aufgeregt tippte er etwas hinein, dann legte er es grinsend wieder zur Seite.
„Hey du! Alles glatt gelaufen heute?“, begrüßte Xaver ihn.
Aaron wischte sich durch seine blonden Locken und wirkte total hibbelig. „Jaja“, sagte er.
„Wirklich alles gut?“ Xaver musste schmunzeln, weil er sich so komisch benahm.
Da machte Aaron ein geheimnisvolles Gesicht. „Weißt du, ich hab nachher ein Date“ verriet er.
„Soso?“
„Ja. Mit einem Typen, der sowas von hot ist!“ Ein Funkeln trat in seine Augen. „Er heißt Jonas – guck mal!“ Er hielt Xaver das Display hin.
Der Typ auf dem Foto war schätzungsweise Anfang zwanzig und sah tatsächlich nicht übel aus. Er hatte ein hübsch geformtes Gesicht und ein Strahlemann-Lächeln. Ein Baseballcap saß verkehrt auf dem Kopf und ein paar schwarze Strähnen lugten unterhalb frech hervor. Bekleidet war er mit einem schwarzen Tanktop, das seine muskulösen Oberarme gut ins Szene setzte.
„Wir chatten schon eine ganze Weile lang auf Grindr“, erklärte Aaron. „Heute hat er endlich mal Zeit, also fahr ich jetzt gleich zu ihm.“ Er wischte über das Display und es kamen noch weitere Fotos, die den Typen in allen möglichen coolen Posen zeigten. Als ein Schwanzfoto erschien, steckte Aaron das Handy eilig weg und grinste breit. „Ist ‘ne geile Sau, nicht?“
Xaver lachte. „Ja, ein hübscher Kerl.“
„Bin schon mächtig spitz“, gestand Aaron.
„Oha, es ist also ein Sexdate?“
Aarons Wangen nahmen eine rosarote Färbung an. „Na ja …“
„He, ist doch nichts dabei. Jeder macht mal ein Sexdate. Warum denn nicht?“
„Ähm, ja … auf alle Fälle sollte ich rasch los.“
„Klar!“
Also fingen sie an, die Dienstübergabe abzuwickeln. Als sie gemeinsam den Kassenstand überprüften, klingelte es – in Xavers Hosentasche.
Er holte das Handy hervor und las auf dem Display ab, dass es Justus war.
„Sorry, könnte wichtig sein“, meinte er. „Nur einen Moment, ja?“
Aaron nickte.
Er hob ab. „Hi Justus.“
Von dem kam keine Begrüßung, sondern bloß ein Satz: „Simon kommt raus.“
Xaver erstarrte. Nach ein, zwei Sekunden Verzögerung fing sein Herz zu trommeln an. So heftig, dass ihm beinahe die Brust zerplatzte.
„Was?“, krächzte er. „Was sagst du da, Justus?“
„Simon kommt raus“, wiederholte er. „Es gibt eine Wende in dem Fall, eine für uns höchst erfreuliche Wende.“
„Was … was ist passiert?“
Justus fing zu erklären an: „Heute Nacht wurden zwei Männer verhaftet. Zwei Männer, mit denen sich Daniel – wie es aussieht – am 3. Januar eine Schlägerei geliefert hat. Daher rühren seine Verletzungen. Die Männer sind verhaftet worden und auch Daniel wird gerade von der Polizei befragt. Sollte es wirklich so gewesen sein, blüht ihm nun so einiges … weil er Simon zu Unrecht einer Straftat bezichtigt hat. Aber viel wichtiger ist: Simon ist entlastet. Er kommt raus!“
„Wann? Wann? Wann?“, rief Xaver ins Telefon.
„Heute!“, kam es zurück. „Es liegen gegen ihn keine Haftgründe mehr vor. Simon wird daher heute noch aus der Haft entlassen. Ist das nicht super? Wann kannst du hier sein? Wir fahren gemeinsam nach Moabit und holen ihn ab, ja?“
„Ähm, ähm …“ Überfordert blickte Xaver rundherum, und dann zu Aaron. „Aber ich arbeite doch“, stieß er aus. „Meine Schicht fängt gerade an.“
„Ach so, hm.“
„Aber warte einen Moment, ja?“ Er ließ das Handy sinken. „Aaron?“
„Ja?“
„Simon kommt heute aus den Gefängnis. Ich hab Justus dran, seinen Anwalt. Endlich gibt es einen Beweis, dass er es nicht war. Sie entlassen ihn. Heute noch.“
„Oh, das ist ja super!“ Ein Strahlen erschien auf Aarons Gesicht. Er schien sich aufrichtig zu freuen.
„Natürlich würde ich ihn gerne abholen, aber ich muss arbeiten.“ Fahrig wischte er sich durchs Haar.
„Rufen wir doch die anderen an“, schlug Aaron vor. „Vielleicht springt jemand spontan ein – wer weiß?“
„Gute Idee.“ Xaver hielt sich das Handy wieder ans Ohr. „Justus, ich melde mich gleich noch einmal.“
Dann versuchte er Jonte zu erreichen, während Aaron es bei Erika probierte. Doch keiner der beiden hob ab. Also wählte er Torbens Nummer. Wieder Fehlanzeige.
„Ach, Mensch!“, stieß er aus. „Ich hätte ihn echt gerne abgeholt … aber da kann man wohl nichts machen, hm? Tausendmal wichtiger ist ohnehin, dass er überhaupt rauskommt. Meine Güte, wer hätte das gedacht!“ Dankbar blickte er zur Decke hoch, so als wären irgendwelche Götter für die plötzliche Wende verantwortlich.
Aaron trat einen Schritt an ihn heran und sein Blick wurde weich. Er rieb ihm die Schulter. „Hey, dass du Simon abholen kannst, ist viel wichtiger als mein Sexdate. Jonas hat mich schon x-mal vertröstet, also sage ich ihm heute ab.“
„Wie meinst du das?“
„Na, ich bleibe und halte hier die Stellung“, erklärte er. „Lauf du los, damit du Simon abholen kannst.“
„Was? Echt? Das würdest du tun?“
„Klar!“
„O Mann, Aaron …“ Er schloss ihn in die Arme und drückte ihn fest.
„Nun lauf schon los! Du willst Simon doch nicht warten lassen!“
„Nein, auf keinen Fall. Wow, Aaron, ich weiß gar nicht, was ich sagen soll …“ Er rannte ins Lager, riss seine Jacke an sich und lief hinaus. „Danke, danke“, rief er noch einmal in den Laden.
Er überquerte die Straße und steuerte in den Bergmannkiez hinunter. Aus dem Laufschritt wurde ein Rennen. Es war inzwischen dunkel geworden und es hatte deutlich abgekühlt. Kalte Luft schlug ihm ins Gesicht, heftig ging sein Atem.
Währenddessen fiel ihm ein, dass er Justus noch gar nicht Bescheid gegeben hatte. Im Laufen zog er also sein Handy hervor. Keuchend erklärte er, dass er gleich bei ihm sein würde.
„Ist gut“, erwiderte Justus. „Ich fahr schon mal mit dem Wagen vor.“
So geschah es dann auch. Als er das Haus erreichte, wartete Justus bereits in zweiter Spur parkend und hupte. Xaver sprang auf den Beifahrersitz und sie fuhren los.
„Was ist passiert? Wie kam es jetzt zu dieser Wende? Erzähl mir alles …“
Justus bog in die nächste Straße ein. „Am Ende wendet sich immer alles zum Guten“, sagte er und lächelte entspannt. „Ist ‘ne alte Anwaltsweisheit“, erklärte er.
„Nun erzähl schon!“
„Tja, viel mehr als das, was ich am Telefon gesagt habe, weiß ich auch nicht. Ich hab die Infos gerade erst ganz frisch vom Gericht bekommen. In Schöneberg wurden heute Nacht zwei Männer verhaftet. Ein Räuberduo, das es auf schwule Männer abgesehen hatte.“
„Aha.“
„Die beiden haben ihre Opfer über eine Datingplattform kontaktiert, Kreider oder so?“
„Grindr?“
„Ja, richtig. – Ach, du kennst die Plattform?“
„Ist ‘ne Handyapp. Jeder Schwule kennt sie. Das ist so etwas wie Tinder, nur eben für Schwule.“
„Okay.“ Justus überquerte eine Kreuzung, setzte den Blinker und nahm Kurs in Richtung Moabit. „Jedenfalls hat dieses Duo die Überfälle wohl immer nach demselben Strickmuster begangen“, fuhr er fort. „Heute Nacht war es wieder einmal soweit. Sie haben sich über diese App mit einem jungen Mann in seiner Wohnung verabredet, vereinbart war offenbar Sex zu dritt.“
„Soll vorkommen auf Grindr, ja.“
„Nur ging es ihnen nicht um Sex, sondern um Geld und Wertsachen. Während der eine mit dem Opfer, nun ja …
zur Sache gekommen ist, hat sich der andere davongestohlen und die anderen Räume durchsucht. Nur ist dies dem Opfer aufgefallen. Der junge Mann war anscheinend recht gewieft und hat es irgendwie geschafft, die Täter in ein Zimmer zu sperren. Die Polizei musste sie nur noch abholen.“
„Krasse Story … aber was hat dies alles nun mit Simon zu tun?“
Justus bedeutete ihm, dass er dazu noch kommen würde. „Jedenfalls ist es so, dass der eine Täter schweigt wie ein Grab, während der andere in der Einvernahme gesungen hat wie ein Vögelchen. Bis ins letzte Detail hat er die Coups geschildert, die die beiden in den vergangenen Wochen durchgezogen haben. Und das waren nicht wenige. Anschließend wurden die Taten mit dem Polizeicomputer abgeglichen. Besonders spannend: ein Fall, der sich kurz nach Jahreswechsel in einer Wohnung in der Lynarstraße in Wedding abgespielt hat.“
„Oha!“ Xaver schwante, wohin die Geschichte führen würde. „In der Lynarstraße wohnt doch Daniel, oder?“
„Richtig. Die Tat hat sich wie gesagt am 3. Januar abgespielt, spätabends. Das Opfer – Daniel –
hat sich mit den beiden über diese App verabredet. Als sie bei ihm waren, wollten sie an seine Sachen, doch er hat es bemerkt. Zuerst ist ein Handgemenge entstanden, dann sind die Fäuste geflogen, und Daniel dürfte dabei einiges abbekommen haben. So hat es der Beschuldigte jedenfalls in der Einvernahme geschildert. Und, nun ja, du hast Daniels Verletzungen ja selbst gesehen. – Das Duo ist schließlich ohne Beute geflüchtet. Am nächsten Tag hat Daniel bei der Polizei Anzeige erstattet, aber nicht gegen zwei Unbekannte, die ihn bestehlen wollten, sondern gegen Simon.“
Xaver konnte nur den Kopf schütteln. „Aber warum? Ich kapiere es noch immer nicht.“
„Tja, da bist du nicht allein“, erwiderte Justus. „Diese Frage wird wohl auch nur Daniel beantworten können. Gerade wird er von der Polizei einvernommen. Spannend, was er dort zu Protokoll geben wird. Fest steht, dass es alles andere als ein Kavaliersdelikt ist, wenn man jemanden anderen fälschlicherweise einer Straftat bezichtigt.“
Erneut bogen sie ab und reihten sich in eine lange Kolonne ein. Weiter vorne wurden bereits die Umrisse des Gefängnisses erkennbar. Xaver kniff sich in den Finger – und fühlte Schmerz. Das war wunderbar! Es war also wahr. Sie steuerten tatsächlich gerade auf die JVA Moabit zu, um Simon abzuholen.
Justus bog in eine Nebenstraße ab und fand dort eine freie Parkbucht. Zu Fuß setzten sie ihren Weg fort. Vor dem Gefängnistor – es war viele Meter hoch und an der Oberseite mit scharfen Zacken ausgestattet – blieben sie stehen und Justus blickte auf die Uhr.
„Ich denke, es wird höchstens noch eine halbe Stunde dauern, bis er herauskommt. Je nachdem, wie schnell sie ihm seine Sachen aushändigen. Es kommt immer auf die Laune des Beamten an, wie flott das geht. – Wir müssen jedenfalls hier warten, denn wir haben ja keinen Besuchstermin.“
Xaver nickte. „Ist klar.“
Sein Herz schlug bis zum Hals und das Blut rauschte durch seine Adern. Es war eine aufregende Mischung aus Gefühlen, die ihn gerade durchfuhr. Hätte ihm heute Morgen jemand gesagt, dass er nun hier stehen und Simon abholen würde, hätte er denjenigen schlichtweg für verrückt erklärt.
Plötzlich quietschte es und er schreckte auf. Neben dem großen Tor, das für die Fahrzeuge gedacht war, befand sich ein kleineres, das sich nun öffnete.
Er starrte es an und hielt die Luft an.
Es kam jedoch nicht Simon heraus, sondern eine Frau mit hoch zugeknöpftem Wintermantel. Eiligen Schrittes entfernte
sie sich von der Anstalt. Vielleicht war sie eine Beamtin, die sich auf den Heimweg machte, dachte er. Eigentlich spielte es aber keine Rolle.
Seine Gedanken wanderten zurück zu Simon.
Wie sie wohl aufeinander reagieren würden, wenn sie sich gleich gegenüberstehen würden? Er wusste es nicht. Aber es kitzelte in seinen Nerven. Aufgeregt wischte er sich durchs Haar und blickte Justus an.
Dieser fing an, detailreich zu erklären, wie es ablief, wenn jemand aus dem Gefängnis entlassen wurde. Er war ihm dankbar dafür, dass er so viel redete, denn seine Stimme hatte etwas Beruhigendes und sein Herzschlag normalisierte sich dadurch wieder.
Aber nur bis zu jenem Moment, an dem sich das Tor wieder öffnete.
Erneut handelte es sich um eine Fehlanzeige.
So ging es noch ein paar weitere Male.
Es verging nicht eine halbe Stunde, sondern eher eine ganze. Xaver spürte die Kälte nicht, viel zu groß war die Aufregung.
Auf einmal kam wieder das Quietschen, das er mittlerweile gut kannte, und das Tor bewegte sich nach außen.
Diesmal war es Simon, der erschien.
Bekleidet war er mit dem Wollmantel und der dunklen Hose, jenem Outfit, in dem er vor gut einem Monat aus seiner Wohnung abgeführt worden war. Über seine Schulter hing die Sporttasche, die Xaver einen Tag später für ihn gepackt hatte.
„Simon“, kam es aus seinem Mund und er blieb starr stehen.
Justus‘ Hand legte sich auf seinen Rücken und gab ihm einen sachten Schubs – wohl, um ihm zu bedeuten, dass er doch auf ihn zugehen sollte. Justus selbst trat einen Schritt zurück und hielt sich fortan im Hintergrund. Schritt für Schritt näherte Xaver sich und Simon ließ die Sporttasche zu Boden sinken.
Er breitete die Arme aus und lächelte.
Es war kein Strahlen, das sich über das ganze Gesicht spannte, sondern ein Lächeln, dem man ansah, welch harte Zeit er hinter sich hatte.
Xaver überwand den letzten Meter und sie schlossen sich in die Arme. Fest drückten sie sich. Es war eine Umarmung, die nicht enden wollte. Warum auch? Xaver hatte nicht das geringste Bedürfnis, sie je wieder zu lösen. Er vergrub seinen Kopf in Simons Schulter und schloss die Augen. So hätte er Stunden verbringen können.
„Ich hab dich wahnsinnig vermisst“, drang es schließlich an sein Ohr.
Eine Träne rollte über Xavers Wange, dann noch eine. Na gut, nun musste er sich also doch lösen, aber nur, um mit dem Handrücken sein Gesicht abzuwischen.
Doch Simon war schneller. Er küsste ihm die Träne weg.
„Hey“, sagte er rau. „Nicht weinen …“
„Und ich erst! Und ich hab dich erst vermisst“, brachte Xaver hervor. Seine Lippen bebten, gleichzeitig machte sein Herz Sprünge. Ihm wurde schwindelig, so heftig waren die Gefühle. Aber das machte nichts, denn Simon schloss ihn erneut in die Arme und hielt ihn fest.