64 Die Doppeltür des Konferenzzimmers der Internen Ermittlung war weit geöffnet.
Ich trat ein und fand mich schnell zurecht.
Ein weiß gestrichener Raum ohne Schnickschnack. Neonleuchten an der Decke. Im vorderen Teil stand ein langer Holztisch für die Mitglieder des Gremiums, flankiert von der kalifornischen Flagge und dem Sternenbanner.
Hon unterhielt sich gerade mit einem Mann, den ich nicht kannte.
In der Mitte des Raums standen zwei Tische für die beiden Beschwerdeparteien, während die Stenografin seitlich versetzt vor ihrem Pult saß. Weder Stevens noch meine Personalratsvertreterin oder Brady waren zu sehen.
An der hinteren Wand war eine Reihe mit Klappstühlen aufgestellt worden. Angesichts der allgemein bekannten Diskretion der Abteilung für Interne Ermittlungen war es nicht weiter verwunderlich, dass hier kein Platz für Medienvertreter, Naseweise oder andere Interessierte vorgesehen war.
Mein Handy summte.
Ich holte es aus der Tasche meines Blazers und warf einen Blick auf das Display. Es war Carol Hannah, meine Personalratsvertreterin. Ich hatte ihr eine E-Mail geschickt und zwei Nachrichten hinterlassen, aber bis jetzt hatte sie sich nicht zurückgemeldet. Carol war eine Kämpferin, sehr zuverlässig und immer angriffslustig. Ich war froh, sie neben mir zu haben, auch wenn sie vielleicht kein einziges Wort sagen würde.
Ich ging mit dem Handy am Ohr zum hinteren Ende des Raums und visierte die Ecke an. Dann sagte ich in der Abgeschiedenheit meiner imaginären Telefonzelle: »Carol. Wo sind Sie?«
»Auf einem Dampfer, ungefähr zehn Seemeilen vor der norwegischen Küste, wenn Sie’s genau wissen wollen.«
»Was? Nein. Im Ernst?«
»Im Ernst. Ich wollte unbedingt mal ein Rentier sehen, bevor sie ausgestorben sind. Hier ist es übrigens fast durchgehend dunkel.«
»Oh, nein. Ich meine, schön für Sie.«
Aber schlecht für mich. Meine Hoffnungen zerschellten an der eiskalten norwegischen Felsenküste.
Carols Stimme wurde von ständigem Rauschen und Knistern begleitet. »Sie haben aber niemanden umgebracht, Lindsay, oder?«
»Nein. Ich habe überhaupt nichts verbrochen. Na ja, außer, dass ich Sergeant Stevens ziemlich fest auf den Fuß getreten bin, und zwar in seinem Zuständigkeitsbereich.«
»Nach allem, was in Ihrer E-Mail stand, würde ich sagen, Sie haben alles richtig gemacht. Genau für solche Dinge haben wir die Interne Ermittlung. Vergessen Sie nicht, wer Sie sind, nämlich eine ganz hervorragende Polizistin mit einem Dutzend Belobigungen. Sagen Sie nichts als die Wahrheit. Und fangen Sie nicht an zu weinen.«
Ich lachte. »Alles klar. Keine Tränen. Grüßen Sie Rudolph und Blitzen und die anderen herzlich von mir.«
Ich war enttäuscht, dass Carol nicht mit dabei sein würde, aber die Wahrscheinlichkeit, dass ich anfangen würde zu weinen, war nicht besonders groß. Viel eher bestand die Gefahr, dass mein Frühstück den Rückweg antreten würde. Wir verabschiedeten uns voneinander, und ich legte auf. Als ich mich umdrehte, sah ich Stevens und seinen Anwalt den Raum betreten.
Der schmierige Ex-Kumpel meines ausgesprochen windigen Vaters hatte sich für freundliche, erdbraune Töne entschieden, sodass er trotz seines Mittelalterbierbauchs und der überkämmten Glatze durch und durch aufrichtig wirkte. Und, verdammt noch mal, er machte sogar ein ehrliches Gesicht.
Ich hingegen trug abgestoßene Schuhe. Ich musste dringend zum Friseur. Und mir war schlecht.
Ich setzte mich an den rechten der beiden Beschwerdetische und legte die gefalteten Hände vor mir auf die Tischplatte. Stevens und sein Anwalt nahmen auf der anderen Seite des Mittelgangs Platz. Die Entscheider der Internen Ermittlung setzten sich an ihren langen Tisch, Hon in der Mitte, flankiert von zwei Männern mit strengen Mienen, Jacketts und Krawatten.
Jetzt betrat auch Brady den Raum. Er trug seine übliche Jeanskombination, aber dazu immerhin eine Krawatte. Er nickte mir zu und setzte sich auf einen der Klappstühle in meinem Rücken. Chris Levant von der Mordkommission Mitte tat es ihm nach.
Es wurde still im Raum, und Hon begann mit seiner Einleitung. Er sagte, dass zwei Ermittler aus zwei verschiedenen Mordkommissionen jeweils Beschwerde gegeneinander eingereicht hätten. Dass beide Parteien zu Wort kommen würden, dass das Gremium anschließend, falls nötig, Fragen stellen und anschließend eine Empfehlung an Chief Jacobi aussprechen würde.
Mein Herz raste. Die spontane Besprechung mit Brady und Jacobi vor drei Tagen war zwar stürmisch, aber ohne jedes Risiko gewesen. Und Hon war während unseres Vier-Augen-Gesprächs freundlich, fast schon herablassend geblieben. Diese Einleitung jedoch war glasklar und eindeutig gewesen. Hier gab es keinen Spielraum mehr, keinen Notausgang, kein Versteck.
Ich rief mir meine einstudierte Ansprache noch einmal ins Gedächtnis und konnte mich, Gott sei Dank, auch an den ersten Satz erinnern. Ich hoffte, dass die Geschichte dieser ungeklärten Morde sich automatisch entfalten würde, sobald ich damit angefangen hatte.
Mein Mund war wie ausgedörrt. Grelle Lichtpunkte zuckten auf meiner Netzhaut auf. Ich spürte Bradys Gegenwart und seine steinerne Miene in meinem Rücken.
Er hatte gesagt, dass ich im schlimmsten Fall mit einer Verbannung an den Schreibtisch oder einer einmonatigen Suspendierung zu rechnen hatte. Aber da irrte er sich. Das Schlimmste, womit ich rechnen musste, war eine allumfassende Demütigung und Verachtung, weil ich gegen einen Kollegen eine Beschwerde eingereicht hatte – die abgewiesen wurde.