Kapitel 1

Auf das Dach!

Leo Fillmore wurde von dem Geräusch der Heckenschere geweckt. Das war Mr Phipps, der Gärtner, der die Büsche draußen vor dem kleinen Fenster in Form schnitt. Sein geisterhafter Schatten glitt über die Wände des Kellers. Jeden Montag beim ersten Hahnenschrei ging Mr Phipps vor Leos Fenster dieser Arbeit nach, und das Geräusch der Heckenschere drang wie eine Stimme herein, die zu sagen schien: Wach auf, wach auf, wach auf!

Leo setzte sich im Bett auf und dachte als Erstes an die Stimme seiner Mutter; dann dachte er an die Enten und ans Frühstück. Danach fiel ihm das ein, was er während seines Schlafs zu vergessen gehofft hatte: Merganzer D. Whippet, der Besitzer und Erfinder des Whippet Hotels, war verschwunden. Er war schon lange fort – einhundert Tage und mehr –, und Leo fragte sich allmählich, ob der Mann, der das außergewöhnlichste Hotel der Welt gebaut hatte, jemals wieder auftauchen würde. Er versuchte seine Gedanken vorerst mal abzustellen, während er zusah, wie Mr Phipps’ Schatten vorüberglitt.

Leo war ein kleiner Junge von zehn Jahren mit einem dichten Lockenschopf auf dem Kopf. Wäre seine Mutter noch am Leben gewesen, dann hätte sie ihm die Haare schon vor Monaten geschnitten. Manchmal sah Mr Phipps, der eigentlich von ruhiger Natur war, Leos Kopf an wie eine große grüne Hecke, die beschnitten werden musste.

Nach dem Tod von Leos Mutter waren er und sein Vater in den Heizungsraum im Untergeschoss gezogen. Von hier aus kümmerten die beiden sich um das Whippet Hotel. Fünf Jahre später hatte Leo das Gefühl, niemals woanders gewohnt zu haben. Sie schliefen auf schmalen Pritschen, zwischen denen sich die gurgelnde Waschmaschine befand. Es gab einen Arbeitstisch aus Betonsteinen, über denen eine alte Tür als Tischplatte lag, die über und über voll war mit Gerätschaften und Gebrauchsanweisungen und Rechnungsbelegen. Durch das Kellerfenster drangen weiches Licht und sanfte Schatten. Apparate und Kisten standen überall herum, außerdem ganze Regale voller Türklinken und sonstigem Hotelzubehör. In der feuchtesten, dunkelsten Ecke des Kellers befand sich ein riesiger, tröpfelnder Boiler – der Heizkessel.

Es könnte sich so anhören, als sei das Kellergeschoss des Whippet Hotels eine ziemlich schäbige Wohnung, aber es war gemütlich und vor allem kühl in den heißen Sommermonaten. Leo liebte die gedämpften Geräusche und Gerüche, seine leichte Bettdecke, die kleine Küchenzeile, die man aus einer der Wände klappen konnte, und den keuchenden Boiler, der niemals zu schlafen schien.

Während Mr Phipps weiterging und das Geräusch der Gartenschere vor seinem Fenster leiser wurde, schlich Leo zur Kaffeemaschine neben dem farbverspritzten Spülbecken. Schon bald erfüllte der köstliche Duft nach Morgen den Keller und Leos Vater rührte sich. Ein paar Minuten später standen Clarence und Leo Fillmore in Schlafanzügen vor der Schaltzentrale, dem elektronischen Organisationszentrum des Hotels, und prüften, was an diesem neuen Tag alles anstand. Die Schaltzentrale nahm die ganze Wandfläche über dem provisorischen Arbeitstisch ein. Sie war nur ein Beispiel für die seltsamen und ungewöhnlichen Dinge, die Mr Whippet überall im Hotel installiert hatte. Es gab an der Wand Glocken und Knöpfe und Lampen, die blinkten und sich drehten. Es gab eine Sirene mit Messingröhren, die sich über die ganze Decke zogen. Es gab Wählscheiben, Felder mit Knöpfen und Messgeräte, die den Wasserdruck und die Temperatur anzeigten. Und mitten in der Schaltzentrale war ein Haifischkopf, dessen gebogene Zähne hämisch grinsten. Darunter stand das Wort Daisy, wahrscheinlich der Name des Haifischs. Daisy sah aus, als sei sie durch die Wand gebrochen und dort stecken geblieben, für immer dazu verdammt, im Keller des Whippet Hotels Nachrichten auszuspucken.

»Wir haben ungefähr noch dreißig Sekunden, ehe sie aufwacht«, sagte Clarence Fillmore, schlürfte seinen Kaffee und kratzte sich die grauen Stoppeln an seinem Kinn. Daisys Augen waren geschlossen, als würde sie träumen und einem Schwarm erschrockener Goldfische hinterherschwimmen. »Schnell raus aus den Schlafanzügen.«

Leo war zu klug, um das Gespür seines Vaters anzuzweifeln. Clarence Fillmore hatte ein frappierendes Zeitgefühl, wenn es um das Whippet Hotel und seine unterschiedlichen Bedürfnisse ging, daher hatte Leo bereits seinen Blaumann an, als die erste Meldung eintraf.

Daisy riss die Augen auf und das Geräusch eines Fernschreibers erfüllte den Keller. Lämpchen blinkten gelb und grün, ein Zeichen, dass es sich bei der Meldung, die Daisy gleich ausspucken würde, nicht um eine Katastrophe handelte. Wenn ein Wasserrohr geplatzt wäre oder die Klimaanlage den Geist aufgegeben hätte, hätten die Sirene zu heulen und rote Lampen zu blinken angefangen – beides sehr unangenehm so früh am Morgen.

Ein schmaler weißer Papierstreifen, wie ein nicht enden wollender Fahrschein aus dem Automat, ringelte sich aus Daisys Maul.

»Mrs Sparks, wie ich schon befürchtet habe«, sagte Clarence und riss den Papierstreifen mit seiner großen Hand an den Zähnen des Haifischs ab. »Ohne sie wäre es auch kein richtiger Montagmorgen im Whippet.«

Leo nahm ein Ende des langen Papiers in die Hand und sah ihn neugierig an. »Ich hab immer gedacht, nur Mr Whippet wäre dafür zuständig, Anweisungen zu erteilen, auch wenn sie von jemand anderem kamen«, sagte er. »Da hab ich mich wohl getäuscht.«

Clarence Fillmore sah seinen Sohn mitfühlend an.

»Du weißt doch, dass Mr Whippet ohne die Enten niemals für immer verschwinden würde«, sagte er. »Bleib bei der Sache, Leo. Das lenkt dich von deinen Sorgen ab. Außerdem ist das Letzte, was wir wollen, eine Mrs Sparks, die uns den ganzen Tag im Nacken sitzt.«

Clarence Fillmore war ein großer, schwerfälliger Mann, der manchmal langsam reagierte. Wie ein Riese musste er sich im Keller ständig unter den Rohren und Lüftungsanlagen bücken. Leo wusste schon lange, dass diese Eigenart seines Vaters manch einen glauben ließ, Clarence sei ein einfacher Hausmeister ohne etwas im Kopf. Nichts traf weniger zu. Ein Hotel in Schuss zu halten, vor allem dieses Hotel, erforderte ein umfassendes Verständnis von Architektur, Maschinenanlagen, Kühlungssystemen, Heizsystemen, Installationen, vom Entenhüten und von Millionen anderer Dinge. Ohne seinen Vater, vermutete Leo, würde das Whippet Hotel innerhalb einer Woche zusammenbrechen.

»Ein Tag ohne Mrs Sparks wäre nett«, sagte Leo. »Manchmal wünschte ich, sie würde Urlaub nehmen und nie mehr zurückkommen.«

Mrs Sparks, die Tag für Tag anstrengender wurde, seit Mr Whippet fort war, war die Empfangschefin und Geschäftsführerin des Hotels. Sie hatte lange Finger, mit denen sie auf alles deutete, was Leo und sein Vater nicht erledigt hatten, und sie trug eine abscheuliche, bienenkorbartig aufgetürmte Frisur, die auszusagen schien: Hier habe ICH das Kommando. Ärgert mich nicht. Jedes Mal, wenn Mrs Sparks einem Zimmermädchen oder dem Gärtner oder sonst jemandem einen Befehl gab, beugte sie sich vor und sah die Person finster an, dabei schwebte ihr überdimensionaler Kopf über demjenigen, den sie herumkommandierte, und warf einen dunklen Schatten auf ihn.

An diesem speziellen Tag war Mrs Sparks’ Liste mit Dingen, die erledigt werden mussten, über einen Meter lang. Ehe Mr Fillmore sie ganz lesen konnte, machte Daisy schon weiter. Diesmal jedoch war das Papier rosa und die rote Sirene drehte sich und heulte durch den Keller.

Leo riss den Streifen aus dem Haifischmaul und Mr Fillmore betätigte einen Knopf an der Schaltzentrale und stellte den Alarm ab.

Leo las die rosafarbene Nachricht: Die Enten sind auf der Brüstung!!

Leo starrte seinen Vater an und hoffte, auf das Dach des Whippet Hotels geschickt zu werden.

»Steht ein Ausrufezeichen dahinter?«, fragte Clarence, nahm erneut einen Schluck Kaffee und rieb sich die Schläfe.

»Zwei sogar«, erwiderte Leo und reichte ihm den rosafarbenen Papierstreifen. Sein Vater las die Nachricht sorgfältig durch.

»Was wir überhaupt nicht wollen, ist, dass Betty im Hotel herumläuft und die Gäste beißt. Je schneller du hinaufkommst, desto besser.«

Leo schnappte sich eines der Hotel-Walkie-Talkies und ging zur Tür, ehe es sich sein Vater noch mal anders überlegen konnte.

»Einen Moment«, sagte Mr Fillmore, und Leo war sich ziemlich sicher, dass er jetzt stattdessen tatsächlich in den Wartungstunnel geschickt würde. Er konnte schon die Anordnung hören, er solle die Leitungen im dritten Stock reparieren, statt auf die Enten aufzupassen.

Aber Mr Fillmore hatte etwas anderes vor, etwas, das seinen Sohn aufheitern würde, wenn auch nur ein wenig. Er starrte auf das Feld mit bunten Knöpfen und drückte mit seiner fleischigen Handfläche auf einen roten. Dann tippte er ein paar Buchstaben auf eine Tastatur und aus der Schaltzentrale kam eine Schlüsselkarte heraus. Dabei wurden Wörter in die Karte eingeritzt, die Leo jedoch nicht lesen konnte.

»Das sollte funktionieren«, sagte Mr Fillmore und reichte Leo die Schlüsselkarte. »Pass bloß gut auf. Und schnall dich diesmal an. Wir wollen so früh in der Woche nicht schon wieder blutige Nasen. Du weißt doch, wie sich Mrs Sparks aufregt.«

Leo hatte schon viele Schlüsselkarten des Whippet Hotels in den Händen gehabt. Sie waren ungefähr so groß wie Kreditkarten. Doch jede Whippet Hotel-Schlüsselkarte hatte ihre Besonderheiten. Vor allem wusste niemand außer Merganzer D. Whippet, wie sie gemacht wurden oder was sie konnten. Es wurde gemunkelt, dass sie jeden Schritt der jeweiligen Empfänger verfolgten, entscheidende Hinweise kontrollierten, ja sogar Gedanken lesen konnten. Wer Dauergast im Whippet war, hatte eine gelbe Schlüsselkarte. Die Karte für einen Kurzaufenthalt war grün. Clarence Fillmore und Mrs Sparks hatten blaue Karten, die viele Türen öffneten. Und dann gab es noch die roten Whippet-Karten, wie diejenige, die Leo jetzt in der Hand hatte. Es waren Karten zum einmaligen Gebrauch. Sobald man sie in den Schlitz einer Wand oder einer Tür steckte, verschwanden sie.

Es gab noch eine weitere Karte – die silberne Schlüsselkarte –, die Mr Whippet an einer ebenfalls silbernen Kette in der Tasche mit sich trug. Mit dieser Karte konnte man in jeden, wirklich jeden Raum im Hotel … selbst in die geheimen Zimmer, die kaum einer jemals gesehen hatte.

Die Ränder von Leos roter Karte waren mit feinen Zeichen und Linien bedruckt und in der Mitte stand: Aufs Dach! Dalli! Keine schöneren Worte waren je an einem Montagmorgen ausgedruckt worden.

»Die Doppelhelix?«, flüsterte Leo und die Begeisterung war seiner Stimme anzuhören.

»Du weißt doch, was Dalli! heißt – verschwinde, ehe ich es mir anders überlege«, sagte Mr Fillmore.

Kurz darauf rannte Leo die Kellertreppe hinauf in die Eingangshalle des Whippet Hotels und dachte, wie toll sich der Montagmorgen doch noch entpuppte.

Kronenvignette

Wenn es an der Zeit war, mit den Enten spazieren zu gehen, benutzte Leo normalerweise den Entenaufzug für die lange Strecke zum Dach. Der Entenaufzug war eine Vorrichtung, die einem Fahrstuhl ziemlich ähnlich war, nur niedriger, schmaler, langsamer und angefüllt mit dem Geruch nach nassen Federn. Aber jetzt handelte es sich um einen Notfall – die Zeit drängte –, und das bedeutete, er musste einen anderen, geheimeren Weg aufs Dach des Whippet Hotels nehmen.

Leo stand vor Mrs Sparks und spürte den Schatten ihrer Bienenkorbfrisur, als er ihr seine Whippet-Schlüsselkarte hinstreckte.

»Eine Dalli!-Schlüsselkarte«, merkte Leo an. »Sehen Sie, es steht extra drauf, da.«

Mrs Sparks’ bleistiftstrichfeine Augenbrauen schossen hoch. Sie beugte sich ruckartig über ihren Empfangstresen und ihre Lesebrille balancierte gefährlich ganz vorne auf ihrer Nasenspitze. Dann nahm sie die Schlüsselkarte, wie es ihre Art war, fest zwischen die spitzen Finger und zog sie dem Jungen aus der Hand. Mit dem Fingernagel kratzte sie daran herum, um ihre Echtheit zu überprüfen.

Nachdem die Schlüsselkarte den Test bestanden hatte, warnte Mrs Sparks: »Wenn Betty noch mal einen Gast beißt, gebe ich dir die Schuld.«

Betty war die Leitente, eine wahre Unruhestifterin, wenn sie wollte, doch Leo wusste, wie er sie bei Laune halten konnte. Mrs Sparks hasste Enten – vor allem Betty –, und sie verabscheute das Hausmeisterteam, mit anderen Worten, Leo und Clarence Fillmore.

»Machen Sie sich keine Sorgen wegen Betty«, sagte Leo. »Ich kann mit ihr umgehen. Ich habe Leckerli dabei.«

Leo klopfte sich auf die Brusttasche seines Overalls, um sicherzugehen, dass er alles hatte, was er brauchte. Währenddessen kam der neue, für den Sommer eingestellte Hotelpage von der Eingangstür auf sie zugeschlichen. Er war der Sohn von Pilar, dem Zimmermädchen des Hotels. Sie arbeitete schon lange im Whippet, aber das war der erste Sommer, in dem ihr Sohn ebenfalls im Hotel arbeiten durfte.

Der Junge blieb hinter Leo stehen und starrte auf die Schlüsselkarte.

»Du hast ’ne Dalli!-Karte«, sagte er. »Das nenn ich Glück!«

Leo nickte und versuchte, dem kleineren, dunkelhäutigen Jungen in der schicken Uniform nicht allzu begeistert zuzugrinsen. Woher wusste der überhaupt, was eine Dalli!-Karte war?

»Remi, an die Tür, sofort!«, bellte Mrs Sparks und der neue Laufbursche flitzte an seinen Posten zurück. Dort stand er und blickte mürrisch zu Boden, sah jedoch ab und zu auf, um mitzubekommen, was nun passieren würde. Er tat Leo leid, weil er den ganzen Tag hier bei Mrs Sparks in der Hotellobby festsaß. Das glich ja einem Fluch!

Mrs Sparks wandte sich einer leuchtend grünen Froschfigur auf ihrem Tresen zu. Der Frosch hatte einen dicken Bauch wie ein Buddha und lachte. Sie steckte die Karte in einen Schlitz direkt dort, wo sich der Bauchnabel befunden hätte, wenn er einen gehabt hätte, und die Karte verschwand. Das hatte zur Folge, dass zwei orangefarbene Murmeln aus dem Kopf des Frosches zur Decke schossen und punktgenau auf zwei Metallschienen landeten, die sich da oben wild drehten und zuckten. Als Leo den Weg der Murmeln über die Schienen verfolgte, konnte er sich die gesamte Lobby genau ansehen. Der Raum wurde beherrscht von riesigen grünen Pflanzen, die zu Tierformen zurechtgestutzt waren und vor den violetten Wänden standen. Es gab einen Fahrstuhl mit glänzenden goldenen Türen – nur für Gäste – und eine breite, reich verzierte Treppe mit rotem Teppich und dunklen Holzgeländern.

Die orangefarbenen Murmeln folgten den Schienen zu einer grünen Giraffe, umliefen ihren Hals spiralförmig, kamen schließlich auf eine gerade Strecke und verschwanden in zwei Löchern über einer kleinen orangefarbenen Tür. Sie ging leise knarrend ein Stück auf und Mrs Sparks beugte sich erneut über den Tresen, um Leo wieder mit vernichtendem Blick anzusehen. Der neue Hotelpage warf einen sehnsüchtigen Blick auf die orangefarbene Tür, hatte aber nicht den Mut, näher zu kommen.

»Lass aber keine Ente dorthinein, AUF KEINEN FALL«, befahl Mrs Sparks streng. »Wenn du eine Ente mitnimmst, benutze den Entenaufzug.«

»Ja, Ma’am«, sagte Leo. »Keine Enten, wo keine Enten hingehören. Das ist doch sonnenklar.«

Hauptmann Rickenbacker, der vor zwei Jahren aufgekreuzt war und das Gebäude seitdem nicht mehr verlassen hatte, betrat die Lobby. Sein rotes Cape flatterte hinter ihm her. Er war ein vielfacher Technologie-Millionär, aber der ganze Stress und die Computer-Bildschirme waren ihm zu viel geworden. Mrs Sparks sagte gerne, er sei nicht ganz richtig im Kopf, doch da war sich Leo nicht so sicher. Hauptmann Rickenbacker hatte sich Hals über Kopf in das Hotel verguckt, seit er einen Fuß in die Lobby gesetzt hatte. Er liebte das Whippet Hotel. Es machte ihn glücklich. Es machte ihn zufrieden. Also war er geblieben – zwei Jahre am Stück – im dritten Stock in einer der ältesten Suiten des Hotels.

Leo vermied es, sich in ein Gespräch mit Hauptmann Rickenbacker verwickeln zu lassen – das konnte nämlich dauern. Daher öffnete er schnell die kleine orangefarbene Tür und trat ein. Er blickte zurück zu dem Hotelpagen, der ihm den erhobenen Daumen zeigte. Leo erwiderte die Geste und schloss die orange Tür hinter sich.

Leo wusste, was zu tun war. Er war schon ein paarmal hier drin gewesen, immer mit Mr Whippet zusammen. So allein hier drin vermisste er Merganzer Whippet mehr denn je.

Leo schob diese Gedanken beiseite und ging wenige Schritte in der Dunkelheit bis zu einem Sitz neben einem Paar sich drehender Stangen, die scheinbar endlos in die Dunkelheit über ihm stiegen. Wenn man auf dem Sitz Platz nahm, fingen die Stangen leicht zu leuchten an – eine orange, die andere rot –, und plötzlich war der Schacht, der nach oben führte, voller weißer Punkte, wie Sterne am Himmel.

Das wird gut, dachte Leo und schnallte sich erst mit dem Sicherheitsgurt an, dann klappte er noch den Schulterriegel herunter. Wie in einer Achterbahn, dachte Leo, nur besser, weil er nämlich wusste, was jetzt kam. Kaum war er angeschnallt, da katapultierte die Doppelhelix, wie Mr Whippet sie nannte, ihn durch die Mitte des Whippet Hotels wie einen aufgezogenen Blitzstrahl nach oben. Sein Gesicht fühlte sich an, als ob es schmelzen würde, während die Doppelhelix nach oben flog, dabei die leuchtenden Stangen umrundete und in genau fünf Sekunden auf dem Dach ankam. Das Anhalten machte fast genauso viel Spaß wie das Losfahren, und es war auch der Hauptgrund, warum es ratsam war, einen Sicherheitsgurt anzulegen.

Ich glaube, das wird mir niemals langweilig, nicht mal, wenn ich hundert Jahre alt werde, dachte Leo. Auf dem Dach war er direkt neben dem Teich angekommen, aus dem ihn drei Enten neugierig beäugten. Sie hatten alle die gleichen schillernd grünen Köpfe, leuchtend orangefarbene Schnäbel und ein schwarz-weißes Federkleid.

»Runter von der Brüstung, Betty«, sagte Leo, als er aus der Doppelhelix ausstieg und langsam ans andere Ufer des Teiches ging. Das Dach war nicht überdeckt, und Betty, die größte der sechs Enten und die einzige mit rein schwarzen Federn, hatte zwei weitere Enten angestiftet, mit ihr auf die Brüstung zu kommen.

»Ich hab euch was mitgebracht«, sagte Leo, kramte in seiner Brusttasche und zog drei Scheiben Pumpernickel hervor. Betty verließ die Brüstung wie der Blitz, gefolgt von den beiden anderen, und schon kamen die drei restlichen aus dem Teich angewatschelt. Jetzt war Leo von allen sechs Enten umgeben. Jede schnatterte und quakte um etwas Pumpernickel.

»Was ihr wirklich braucht, ist ein schön langer Spaziergang durch den Garten«, sagte Leo. Er riss kleine Stücke Brot ab, während er langsam zum Entenaufzug ging. Betty und die anderen Enten waren eigentlich eher wie Hunde – wenn sie jeden Tag einen schönen langen Spaziergang machten und gefüttert wurden, waren sie auf dem Dach ganz zufrieden. Aber wenn man sie zu lange allein ließ, wurden sie unruhig und unwirsch. Dann flogen sie bisweilen zur Lobby hinunter und fingen an, die Leute zu beißen.

Leo riss die Holztür zu dem Entenaufzug auf und der Gestank nach Federn quoll ihm entgegen. Er sah zu, wie alle Betty im Gänsemarsch folgten und hineindrängten, dabei fast den gesamten Raum ausfüllten, ehe sich Leo selbst noch hineinquetschte, die Tür schloss und mit sechs lauten Quakern eingesperrt war. Er stellte den Hebel auf ABWÄRTS und wusste, dass ihm eine langsame Reise nach unten bevorstand, ganz anders als die Fahrt in der Doppelhelix. Doch gleich würde er mit den Enten spazieren gehen, etwas, das er und Merganzer D. Whippet immer gemacht hatten, ehe der Erbauer des Hotels so unerwartet verschwunden war.

Leo seufzte tief auf und starrte auf seine Füße. Es gab nicht viel Licht im Entenaufzug und er kam sich noch beengter vor als sonst.

»Ihr fresst zu viel Pumpernickel. Ich passe ja kaum noch mit rein.«

Er hätte sich das Innere des kleinen Aufzugs mal besser genau angesehen, denn darin war etwas Neues versteckt.

Leos Leben sollte sich ein für alle Mal verändern.

Kronenvignette

Aus dem fünfzehnten Stock eines New Yorker Hotels starrten zwei Männer aus einem Fenster. Der eine trug einen teuer aussehenden grauen Filzhut mit einem schwarzen Band über der Krempe. Genau genommen sah alles, was Bernard Frescobaldi trug, teuer aus: der dreiteilige Anzug, die schimmernden Manschettenknöpfe, die goldseidene Krawatte – alles angemessen für einen italienischen Landbaron, der hinter einem guten Geschäft her war.

»Lass mich dein neuestes Gutachten noch einmal sehen«, forderte Bernard, der durch ein Hochleistungsfernglas spähte und verzweifelt versuchte, das Whippet Hotel besser erkennen zu können.

»Wie Sie wünschen, Sir.«

Bernard Frescobaldis Assistent Milton ließ einen silbernen Aktenkoffer aufschnappen und entnahm ihm einen braunen Umschlag mit der Aufschrift Privat: Für Unbefugte verboten!.

Darin befanden sich Gutachten, Überwachungsberichte, Dutzende Fotografien vom Whippet Hotel und eine Sammlung privater Unterlagen. Milton nahm das oberste Blatt und reichte es Bernard zur Ansicht.

Bernard betrachtete das Dokument zum hundertsten Mal.

Zustandsbericht Whippet Hotel – 21. Juni

Nach seinem vorzeitigen Tod hinterließ der Milliardär Walter E. Whippet sein gesamtes Vermögen seinem Sohn Merganzer. Jahre später erwarb Merganzer D. Whippet einen ganzen Straßenblock, ließ jedes Gebäude abreißen und brachte die folgenden sechs Jahre damit zu, das seltsamste Hotel zu errichten, das je einer gesehen hat.

Von Anfang an war das Whippet von dunklen Geheimnissen umhüllt. Es ist ein erstaunlich kleines Hotel auf einer riesigen Fläche in der Innenstadt, von der man weiß, dass sonst jeder Quadratzentimeter ausgenutzt wird. Es gibt nur neun Etagen, so sieht es von außen zumindest aus, und jedes Stockwerk hat eine unbekannte Anzahl von Zimmern. Auf dem Dach befindet sich ein Teich, denn Merganzer D. Whippet ist besessen von Enten. Man munkelt von zahllosen Gängen und geheimen Zimmern, die nur wenigen bekannt sind.

Die Konstruktion des Whippet ist erschreckend krumm – es scheint beim leisesten Windhauch zu wackeln. Manch einer sagt, ein Kind könne darauf spucken und es würde umkippen, wenn das auch höchst unwahrscheinlich klingt. Dann gibt es noch die Gartenanlagen um das Hotel, weitläufig und ungenutzt, eine kolossale Verschwendung von Baugelände. Riesige Büsche, die zu Enten in Form geschnitten sind, erheben sich über die gewundenen Gartenwege, die das Hotel umgeben und das Hotel noch kleiner erscheinen lassen, als es wirklich ist. Am Rand zum Trottoir verläuft ein hoher Eisenzaun mit einem Tor, das nur von Lieferanten und Gästen mit speziellen gelben oder grünen Schlüsselkarten geöffnet werden kann.

Wenn Fußgänger draußen vor dem Whippet das alles für merkwürdig halten, erwartet sie eine noch viel größere Überraschung, falls sie dort jemals übernachten sollten. Nicht viele tun es. Das Whippet ist haarsträubend exklusiv und in der ganzen Stadt verbreitet sich das Gerücht über den tatsächlichen Preis eines Zimmers und was einen darin erwartet. Sich einen Aufenthalt dort zu wünschen, ist schön und gut; es sich leisten zu können hat mehr damit zu tun, wie unglaublich reich man dafür sein muss. Einige sagen, Merganzer habe das so geplant, weil er eigentlich nicht wollte, dass Gäste kämen. Er beschäftigt sich damit, herumzubasteln, Dinge zu erfinden, mit den Enten zu spielen und (wie Sie inzwischen wohl wissen) ganz zu verschwinden.

Es sieht so aus, als ob Merganzer D. Whippet die Stadt verlassen hat.

Womöglich befindet er sich am Südpol und heult den Mond an.

Mit einem Funkeln in den Augen trat Bernard wieder ans Fenster und reichte Milton den Bericht zurück.

»Es ist an der Zeit, unseren Plan umzusetzen«, verkündete er. Er war ein großer Mann, schlank, aber robust, und seine scharfe Nase kräuselte sich vor Unternehmungslust.

Milton war kleiner, rundlicher und leichter erregbar. Seine Finger zappelten vor Erwartung, als er mit dem Schlüsselbund für die schwarze Limousine klimperte, die unten auf sie wartete.

»Wie Sie wünschen, Sir. Wie Sie wünschen!«