Kapitel 2

Die violette Kiste

Betty starrte Leo an. Ihr Schnabel war nur ein paar Zentimeter von ihm entfernt und sie quakte ihn leise an. Ihr Atem roch nach Narzissen.

»Du hast wieder die Blumen da oben gefressen, stimmt’s?«, fragte Leo. »Mr Phipps fällt in Ohnmacht, wenn er das rausfindet. Ich habe es bisher immer auf die Krähen geschoben, aber jetzt musst du Farbe bekennen.«

Betty schien fast zu verstehen, was Leo sagte. Sie ließ den Kopf hängen und stieß einen Laut aus, den man nur als Stoßseufzer einer sterbenden Ente beschreiben konnte.

»Ich hab doch nur Spaß gemacht. Ich sag schon nichts.«

Betty sah erleichtert aus, kam etwas näher und bohrte ihren orangefarbenen Schnabel in die Brusttasche von Leos Overall.

»Ihr werdet auf Diät gesetzt. Sieh nur, wie ich mich in diese kleine Ecke drücken muss!«

Betty sah Leo wieder an, und wenn es der Junge nicht besser gewusst hätte, hätte er gesagt, dass sie ein finsteres Gesicht machte. Keine Ente möchte auf Diät gesetzt werden.

Doch es stimmte, dass der Entenaufzug ungewöhnlich beengt wirkte. Die lange Fahrt nach unten schien gar nicht aufhören zu wollen. Die Enten waren unruhig, watschelten auf ihren Entenfüßen mit den Schwimmhäuten hin und her und trampelten auf der Suche nach Pumpernickel auf Leo herum.

Als der Entenaufzug endlich unten in der Lobby aufging, befahl Leo Betty, zu warten, was sie auch tat. Wenn Betty wartete, blieben alle Enten stehen, was Leo ermöglichte, herauszukriechen und Merganzers Spazierstock zu holen. Er war aus einem langen, knotigen Ast und hatte einen glatten, runden Griff. Ohne ihn kamen die Enten nicht mit. Es schien eine Art Zauberstab zu sein. Leo nahm ihn aus einem Wandschrank, kehrte zu den Enten zurück, stellte sich vor sie hin und zog den Stock über den Boden. Die sechs Enten marschierten heraus, allen voran Betty.

Erst als sie alle aus dem Aufzug waren, sah Leo die violette Kiste.

»Was ist das denn?«, flüsterte er so leise, dass er es selbst kaum hören konnte. Die Enten waren wohl doch nicht dicker geworden; sie hatten einfach nur weniger Fläche zum Stehen gehabt. Leo beugte sich in den Aufzug, um einen besseren Blick auf die Kiste werfen zu können, und sah, dass sie ungefähr zwanzig Zentimeter hoch und dreißig breit war. Auf dem Deckel war ein Siegel, ein eindeutiges Siegel.

»Merganzer!«, sagte Leo und kroch zurück in den engen Raum, um die geheimnisvolle Kiste zu berühren.

»Bring diese Enten aus der Lobby, und zwar sofort!«, kreischte Mrs Sparks. »Los, los, los!«

Die Enten erschraken bei ihrer Stimme und die Situation schien Leo allmählich zu entgleiten. Der neue Hotelpage hatte anscheinend Mut gefasst und kam langsam auf den Entenaufzug zu. Leo konnte keinen sehen lassen, was er gefunden hatte, aber Betty sah aus, als würde sie gleich sagen: Ich bin kurz davor, jemand in den Knöchel zu beißen.

Leo schlug die Tür vom Entenaufzug mit lautem Knall zu, ehe jemand die violette Kiste sehen konnte. Dann zog er an dem AUFWÄRTS-Hebel und schickte das Ding wieder auf seine fünfminütige Fahrt nach oben. Das gab Betty und ihren Freundinnen den Rest. Sie flatterte hinauf auf Mrs Sparks’ Tresen und stieß fast mit ihrer Bienenkorbfrisur zusammen. Die anderen Enten drehten durch und flatterten wie Sturzbomber durch den gesamten Raum.

»Mach die Tür auf!«, kreischte Mrs Sparks und wedelte mit den Armen, als würden sich tausend wild gewordene Fledermäuse auf sie stürzen. Der Hotelpage schoss zum Eingang zurück und stemmte sich gegen die riesige Glastür.

Die Lobby war in Aufruhr, als Leos Vater aus dem Keller kam. Er sah Leo an, dann griff er nach dem Spazierstock.

Clarence Fillmore war eine aufragende Gestalt und hatte eine beruhigende Ausstrahlung. Er pfiff dreimal kurz, stieß dann mit dem Spazierstock auf den Marmorboden und ging zur Tür hinaus. Die Enten flatterten hinterher und landeten in einem Vogelbad, das viel zu klein war für so viele große Vögel. Dort kauerten sie sich zusammen, um auf den versprochenen Spaziergang durch die Gartenanlagen zu warten.

»Remi, die Federn, sofort!«, sagte Mrs Sparks. Auf der Stelle fing der Hotelpage an, durch die Lobby zu rennen und alle Federn aufzusammeln, die ausgefallen waren. Es blieb keine Zeit für eine förmliche Vorstellung, der Neue rannte nur an ihm vorbei und die Stufen hinunter.

Mr Fillmore musste sich einiges anhören von Mrs Sparks, was die unzulänglichen Fähigkeiten seines Sohnes beim Entenaufpassen betraf, aber das war Leo egal. Er konnte an nichts anderes als an die violette Kiste denken, die in Sicherheit war, zumindest vorerst.

Was hatte sie zu bedeuten? Woher war sie gekommen? Und warum war der Kopf von Merganzer D. Whippet auf dem Deckel abgebildet?

Kronenvignette

Leo konnte an nichts anderes mehr denken, als er über den langen, gewundenen Weg durch den Hotelpark ging. Betty und die anderen Enten watschelten zufrieden im Gänsemarsch hinter ihm her, immer dem Spazierstock von Merganzer nach, bis in die letzte Ecke des Grundstücks. Am entferntesten Ende gab es einen kleinen Teich, auf dem die Enten herumschwammen und nach wer weiß was den Kopf ins Wasser tauchten. Währenddessen saß Leo auf einer Steinbank und verwünschte seine ganze Arbeit, die ihm noch im Hotel bevorstand.

»Warum so niedergeschlagen?«

Leo erschrak beim Klang des trägen texanischen Akzents hinter sich. Das war LillyAnn Pompadore, die seit fast drei Monaten im Hotel wohnte. Sie war sagenhaft reich, so hieß es zumindest, und versteckte sich vor dem texanischen Gesellschaftsleben, dessen sie überdrüssig geworden war.

»Ach, ich bin nicht niedergeschlagen«, sagte Leo, »ich geh nur mit den Enten spazieren.«

LillyAnn Pompadore hatte einen undefinierbaren Tierpelz um den Hals gewickelt, trug eine dicke Schicht Make-up und hatte einen winzigen Hund unter dem Arm. Leo konnte nicht umhin, sich zu fragen, was der Hund wohl von dem Fell hielt, das sich sein Frauchen umgewickelt hatte, aber er hielt den Mund und starrte auf den Teich, in der Hoffnung, dass er einer Unterhaltung mit der ständig gelangweilten Mrs Pompadore entgehen konnte. Der Hund hieß Hainy, und eher biss er einen in die Hand, als auch nur ein kurzes Streicheln zuzulassen. Er hatte außerdem die ärgerliche Angewohnheit, in die Hotelflure zu kacken, was Mrs Pompadore nicht das Geringste auszumachen schien. Es löste jedoch im Keller Alarm aus mit einem Telexstreifen von Pilar, auf dem immer so etwas stand wie: Hainy-Alarm. Aufwischen in Stockwerk 7.

Hainy fing zu bellen an. Er war kein Fan von Betty und ihresgleichen, aber sie waren ja im Wasser und in Sicherheit, daher störte es Leo nicht, dass Mrs Pompadore den kleinen Kerl auf den Boden setzte und er um den Teich lief, als sei er nicht ganz bei sich.

»Ich hoffe wirklich, dass Mr Whippet bald zurückkommt«, näselte Mrs Pompadore und fächelte sich in der Morgensonne mit einer Modezeitschrift Luft zu. »Wohin glaubst du, ist er entschwunden?«

Leo zuckte die Schultern, immer noch in der Hoffnung, eine längere Unterhaltung mit der gelangweilten Gesellschaftsdame vermeiden zu können.

»Ach, vergiss es«, sagte sie. »Trotzdem, es ist ja sehr eigenartig, dass er so einfach verschwunden ist. Glaubst du, dass ihm was passiert ist?«

»Nein, bestimmt nicht«, antwortete Leo ganz ohne nachzudenken. Doch ihm war auch schon durch den Kopf gegangen, dass Merganzer das Hotelgelände fast niemals verlassen hatte. Wie würde es ihm draußen in der richtigen Welt ergehen?

»Er hat dieses Hotel gebaut«, sagte Mrs Pompadore mit einem Blick zu dem windschiefen Gebäude, »wie der Schiefe Turm von Pisa … und der steht ja schon fast tausend Jahre. Vielleicht weiß Mr Whippet etwas, das wir nicht wissen.«

»Da bin ich mir sicher«, sagte Leo, der Mr Whippet immer sofort verteidigte.

Mrs Pompadore rief nach Hainy und nahm ihn auf den Arm.

»Hainy und die Enten passen nicht zueinander. Ich gehe lieber mal weiter. Viel Glück mit Betty.«

Leo sah Mrs Pompadore nach, die den gewundenen Weg auf das Hotel zuging. Da fiel sein Blick auf Mr Phipps, der beim Einfahrtstor stand. Eine schwarze Limousine entfernte sich und verschwand in einer der belebten New Yorker Straßen.

»Was für ein komischer Tag«, sagte Leo zu niemand im Besonderen, auch wenn Betty vom Teich herüberquakte, als würde sie zustimmen.

Leo sah, wie nun auch Mrs Sparks am Tor erschien. Er konnte nicht hören, was sie sagte, aber ihre Gesten machten deutlich, dass sie Mr Phipps von dort weghaben wollte, damit er sich wieder seiner Gartenarbeit widmete.

Mit rasendem Puls sammelte Leo seine Enten ein und ging zurück zur Hotellobby. Er musste an sich halten, um sie nicht in ihre wackelnden Pürzel zu treten, denn Enten gingen ihren Geschäften eher gemächlich nach. Es konnte ganz schön dauern, bis er sie wieder in ihrem Entenaufzug hatte.

Dummerweise verließ Mrs Sparks das Tor im selben Moment, als Leo vom Teich losging, und strebte dem Hotel zu. Sie nahm zwar einen anderen Weg, trat aber hinter einem der zugeschnittenen Tierbüsche hervor, als Leo beim Hotel ankam.

»Ich hoffe, diesmal hast du sie unter Kontrolle«, sagte sie. »Heute Nachmittag kommt ein neuer Gast – dank meiner Anstrengungen werden doch tatsächlich ein paar von den unverschämt teuren Suiten gebucht.«

Es stimmte, dass das Whippet außer den drei Dauerbewohnern gewöhnlich wenig Gäste aufzuweisen hatte, aber seit Merganzer fort war, lief es wirklich etwas besser. Mrs Sparks konnte nicht aufhören, sich selbst zu loben, während sie säuerlich auf Betty hinunterstarrte.

»Mr Whippet hatte ja keine Ahnung von Internet-Vermarktung. Das ist das neueste Schlachtfeld. Halte du nur Betty in Zaum, dann läuft es gut. Was wir gar nicht gebrauchen können, ist, dass die Tochter eines Ölmoguls von einer Ente gebissen wird.«

Ohne ein Wort rauschte Mrs Sparks an Remi vorbei, nachdem sie ihm eine winzige Feder von der Schulter seiner roten Jacke geschnipst hatte.

Leo blieb abrupt stehen und streckte die Hand aus.

»Ich heiße Leo. Und du bist also Remi.«

»Ha, ich weiß doch, wer du bist«, erwiderte Remi. »Meine Mom hat mir alles über das Hotel hier erzählt. Du und dein Vater, ihr haltet es in Betrieb.«

Remi schüttelte Leo so begeistert die Hand, als habe er zu lange an der Tür gestanden und ziemlich viel Energie aufgestaut.

»Remi – das ist ein komischer Name«, sagte Leo. »Die Abkürzung von Remington?«

Remi schüttelte den Kopf und sagte etwas zu laut: »Die Abkürzung von Remilio. Das war der Vater von meiner Mom, aber so nennt mich jetzt nur noch meine Mom. Mir gefällt Remi.«

»Okay, Remi, äh, ich muss gehen.« Leo wollte unbedingt zu der Kiste zurück. »Viel Spaß mit Mrs Sparks.«

Remi sah Leo mit einem Blick an, der so viel sagte wie: Ja, mit der hat man unheimlich viel Spaß, dann beugte er sich nahe an seinen neuen Freund heran und flüsterte: »Was es auch ist, es steht dein Name drauf.«

»Wo?«, fragte Leo, aber Remi wollte nicht antworten, denn Mrs Sparks sah herüber und schaute so finster, als wolle sie ihnen die Münder zukleben.

Leo wollte nicht dasselbe Theater noch mal erleben wie vor einer Stunde in der Lobby, daher marschierte er mit Merganzers Spazierstock weiter, bis er am Entenaufzug war, und tat so, als habe er Remis seltsame Bemerkung nicht gehört.

Der Miniaufzug war nicht oben am Dach, wie er erwartet hatte. Jemand hatte ihn wieder nach unten in die Lobby gerufen. Er blickte zu Remi zurück, der ihn vielsagend anlächelte.

O-oh.

Remi wusste nicht viel über das Hotel. Er war neu und saß in der Lobby fest. Aber es war ihm doch gelungen, etwas Geheimes in dem Entenaufzug zu entdecken, solange Mrs Sparks draußen am Tor und im Garten gewesen war.

Leo öffnete den Entenaufzug und kroch hinein. Dort entdeckte er, dass Remi Recht hatte.

Auf der violetten Kiste war nicht nur der Kopf von Merganzer. Es standen auch zwei Wörter auf der Kiste, die vorher von einer Feder verdeckt gewesen waren, aber jetzt deutlich zu sehen waren.

Für Leo.

Kronenvignette

Bernard saß hinten in der schwarzen Limousine, während Milton durch die Stadt raste, vorbei an gelben Taxis, die in Aufträgen von höchster Bedeutung unterwegs waren.

»Ich glaube, das klappt doch bestens«, sagte Bernard, während er die Welt an sich vorbeisausen sah. »Würdest du mir da zustimmen?«

»Allerdings«, sagte Milton, hielt an einer roten Ampel und starrte in den Rückspiegel. »Ich glaube, wir haben die richtige Person für die Aufgabe.«

»Wollen wir es mal hoffen.«

Milton kramte in dem silbernen Aktenkoffer und zog einen Ordner heraus.

»Die Unterlagen, nach denen Sie gefragt haben. Das ist der erste Ordner. War nicht leicht zu finden, kann ich Ihnen sagen.«

»Danke, Milton. Ich glaube wirklich, dass sich das als sehr gut erweist.«

Bernard Frescobaldi nahm den Ordner und das Auto schoss los. Sie würden eine Weile fahren, so dass genug Zeit war, um mehr über Merganzer D. Whippet nachzulesen. Bernard wusste, dass er den Hintergrund des Mannes verstehen musste, um seinen Plan durchzuführen. Hier gab es bestimmt Hinweise, da war er überzeugt. Er wusste, wie selten diese Dokumente waren und wie schwierig es gewesen sein musste, sie zu finden. Sie konnten sich letzten Endes als nutzlos herausstellen, diese alten Papiere, aber sie konnten auch einen Hinweis enthalten, der ihm dabei half, zu bekommen, was er wollte.

Merganzer D. Whippet

Zum Tode meines Vaters

Ich will diese Einträge nicht datieren, denn Daten haben sich immer auf schlimme Dinge in meinem Leben bezogen. Ich gelobe, nie wieder an Daten und Tage und Zeiten zu denken. Hier sind einige Gründe dafür:

Meine Mutter starb, als ich vier war, das war ein sehr schlimmer Tag. Ich habe noch Erinnerungen an sie, obwohl ich nie etwas darüber niedergeschrieben habe. Das muss sich ändern.

Mein Vater steckte mich in ein Internat, als ich etwas größer war, ebenfalls ein schlimmer Tag.

Dann all die Tage dazwischen, wenn ich mir wünschte, dass mich mein Vater beachten würde, was er jedoch nie tat. An einem jener Tage machte ich Stelzen, die auf Sprungfedern hüpften, meine erste Erfindung, die mein Vater jedoch nicht wahrnahm. Sie bohrten Löcher in die Decke meines Zimmers, aber was machte das schon? Mein Vater hatte Tausende von Decken überall in der Stadt in all seinen schicken Hotels. Konnte er nicht eine Decke mit Löchern ertragen?

Und dann schließlich heute, der Tag, an dem mein Vater gestorben ist.

Er hinterlässt mir zwei Dinge: ein Milliardenvermögen und eine letzte Prophezeiung.

Ich werde verrückte Erfindungen machen und gut darin sein.

Verheißung und Fluch zugleich, nehme ich an. Aber ich habe noch ein Vermächtnis, etwas, das mein Vater mir nicht hinterlassen wollte, soviel ich weiß.

Ich habe das Gefühl, dass es am bedeutendsten ist.

M.D.W.

Notiz zu meiner Mutter: Sie liebte Ringe. Ich muss mich bemühen, so viele Ringe wie möglich zu finden.

Bernard sah suchend in den Himmel, nickte überzeugt und klappte den Ordner zu. Er hatte Großes mit dem Hotel und seinem riesigen Grundstück vor und mehr Information als jeder andere, der versuchen mochte, diese Dinge unter seine Kontrolle zu bringen.

»Was verbergen Sie, Mr Whippet?«, fragte er.