Mr Powell erklärt die Regeln
Der Aufzug war auf dem Weg zum Dach so beengt gewesen wegen der Enten, dass Leo die violette Kiste nicht richtig hatte untersuchen können. Er hatte die Minuten gezählt, während der Aufzug elend langsam emporschwebte. Betty hatte Leo mit einem Seitenblick angestarrt, als sei sie sicher, er würde noch Pumpernickel vor ihr verstecken. Jetzt war er froh, wieder nach unten zu fahren, endlich allein mit der Kiste, auf der sein Name stand.
Es gab viele Wege in die Wartungstunnels des Whippet Hotels. Einer davon erforderte, mit dem Entenaufzug zwischen den Stockwerken anzuhalten. Das tat Leo, indem er den Hebel nach genau zwei Minuten Fahrt auf Mittelposition zog. Der Entenaufzug hielt an und Leo legte einen Riegel an der Decke um, so dass diese nach oben in den Schacht geöffnet werden konnte. Die Öffnung war gerade groß genug, dass Leo die Holzkiste hindurchschieben und vorsichtig seitlich unterbringen konnte. Leo kletterte nun selbst durch die Öffnung und stellte fest, dass er zu spät angehalten hatte. Das runde Loch, das in den Wartungstunnel führte, war fast außer Reichweite. Leo streckte sich und schob die Kiste in den dunklen Tunnel.
Sein Walkie-Talkie fing zu quaken an.
»Leo, kommen. Bist du da?«
Es war sein Vater. Ernüchtert zog Leo das Walkie-Talkie aus seiner Halterung und knipste den roten Knopf an.
»Ja, ich bin da. Ich komme gerade vom Dach.«
Er starrte hinauf zu dem großen Loch und wünschte, die Kiste nicht wieder aus den Augen lassen zu müssen.
»Neue Kurzzeitgäste im Sechsten sagen, die KA geht nicht«, meldete sein Vater. »Kannst du noch mal zurück?«
Leo verdrehte die Augen. Die Klimaanlage im sechsten Stock lief gut; sie war nur auf eine etwas ungewöhnliche Weise einzustellen, die Mrs Sparks den Gästen nie erklären wollte.
»Bin schon unterwegs. Gib mir fünf Minuten.«
»Bestens. Mach dich danach zu dem Wasserleck in Tunnel Nummer acht auf. Ich arbeite dort an den Rohren.«
»Dann bis gleich«, sagte Leo. Er befand sich zwischen den Stockwerken vier und fünf, aber es gab Leitern im Tunnelsystem, die er benutzen konnte, um dahin zu kommen, wo er gebraucht wurde. Er blieb am besten bei der Kiste, wenn es möglich war, damit er sie nicht verlor.
Leo griff in den Aufzug, zog den Hebel hoch und merkte, wie er langsam nach oben getragen wurde. Als die Öffnung des Wartungstunnels noch einen halben Meter entfernt war, sprang er hinein. Er drehte sich um, schlug die Dachklappe des Aufzugs zu und hörte, wie sie einrastete, dann sah er ihn nach oben zum Dach schweben.
Endlich hatte er Zeit, sich zu setzen und im Licht der verschlungenen Tunnel in die Kiste zu sehen. Leo brauchte nur einen Moment, um zu begreifen, dass sich der Deckel aufschieben ließ. Was er dann sah, ließ ihn begeistert die Luft einziehen.
»Wo um alles in der Welt ist denn das?«, flüsterte er vor sich hin. Der Blick in die Kiste war, als ob man in ein Haus ohne Dach schaute. Es gab Wände und Zimmer und Ecken und er konnte hineinspähen und alles sehen. Von oben nach unten bildeten die Wände ein Labyrinth aus fünf Ringen, von denen jeder etwas kleiner als der vorige war. Innerhalb dieser Ringe waren runde Kammern, die immer kleiner wurden, je näher sie der Mitte kamen. Sie wurden zur Mitte hin immer dichter, aber das war nicht alles. Alle Verbindungswege waren mit leuchtend bunten und unterschiedlich geformten Ringen in verschiedenen Größen gefüllt. Es war ein Wunder an Genialität – kompliziert und perfekt – und dennoch vollkommen verrückt.
Ist das ein Ringzimmer oder ein Raum voller Ringe?, überlegte Leo. Ich glaube, beides gleichzeitig. Wie seltsam!
Leo beugte sich tiefer, um besser sehen zu können, und leuchtete gerade mit seiner Stablampe in die violette Kiste, als sein Walkie-Talkie wieder anging. Diesmal war es Mrs Sparks.
Sie war ungehalten.
»Leo Fillmore, wenn du im Gebäude bist, melde dich. SOFORT.«
Am liebsten hätte er das Walkie-Talkie ausgeschaltet, um zu ergründen, was dieses Ringzimmer oder der Raum voller Ringe wohl bedeuten sollte. Warum um alles in der Welt war er in einer Kiste mit seinem Namen aufgetaucht?
Leo knipste sein Walkie-Talkie an.
»Ich bin unterwegs zum Sechsten. Brauche nur noch ein paar Minuten.«
»Du hast das KA-Problem noch nicht behoben?«, schrie Mrs Sparks. Ihre Stimme hallte von den Tunnelwänden wider. »Ist dir klar, wer darin wohnt? Er ist ungefähr eine Milliarde Dollar wert und seine Tochter wird in der Hitze sehr unleidlich. Und wenn sie unleidlich wird, wird ER unleidlich. Mach dich auf die Socken, Fillmore!«
»Bin gleich da«, sagte Leo.
»Und komm in die Lobby zurück, sobald du fertig bist. Remi muss mal auf Klo und DU musst solange an der Tür stehen. Hier ist in letzter Zeit zu viel Unheil passiert.«
Was meinte sie mit Unheil? Die schwarze Limousine oder die Enten in der Lobby oder noch etwas anderes? Was auch immer, Mrs Sparks war in Alarmbereitschaft, was Leo als schlimmes Zeichen ansah.
Er konnte nicht glauben, wie hektisch sich sein Tag entwickelte. Klimaanlagen, Wasserrohre, Türdienst, Entenspaziergang – in seinem Kopf drehte sich alles. Er griff nach dem violetten Deckel und sah etwas, das ihm bisher entgangen war. Auf der Unterseite klebte ein vornehmer Briefumschlag. Eine Nachricht war über dem Umschlag auf das Holz des Deckels selbst geschrieben, in der großen, gerundeten Schrift von Merganzer, die Leo sofort erkannte.
Stockwerk und drei und ein halb!
Drücke die violette Kugel in der Küche neben dem Flur.
Dreimal hintereinander ganz schnell. Ducken!
Und nimm die Kugel mit. Du kannst sie brauchen.
Leo verspürte sofort eine Welle der Erleichterung. Merganzer D. Whippet drückte sich nur so seltsam verschlungen aus, wenn er vollkommen glücklich war, zum Beispiel, wenn sie in der Doppelhelix nach oben sausten und er losbrüllte: »Tanzhaie, die Bob hüpfen!« Mr Whippet war sowieso der klügste Mann, den er jemals kennengelernt hatte, aber wenn er glücklich war, dann stürzte seine ungestüme Freude aus ihm heraus wie lauter bunte Bonbons.
Stockwerk und drei und ein halb war typisch Whippet.
»LEOOOOOOO!« Mrs Sparks kreischte in das Walkie-Talkie.
Leo drehte den Ton herunter, und ihre Stimme wurde leiser, als ob sie einen Fahrstuhlschacht hinunterfiel.
Er wandte sich dem bunten Briefumschlag zu und löste ihn vorsichtig von dem Deckel der violetten Kiste. Die Zeit blieb für ihn stehen, als er die Nachricht öffnete und las. Den Milliardär und seine unleidliche Tochter hatte er vergessen. Genauso wie Mrs Sparks und leckende Rohre.
Es gab nur noch den Brief und die Kiste.
Junger Herr Fillmore,
wenn du den Brief erhältst, dann ist Mr Whippet genau hundert Tage fort. Als sein langjähriger persönlicher Freund und Anwalt bin ich beauftragt, die Dinge in Gang zu bringen.
Ich bin nur bevollmächtigt, dir vier Dinge zu sagen:
- Es gibt vier Kisten, die alle gefunden werden müssen.
- Du hast zwei Tage, einschließlich diesem. Mehr Zeit bleibt dir nicht.
- Du darfst nur eine weitere Person zu Hilfe nehmen, vorzugsweise ein Kind.
- Nimm immer eine Ente mit, wenn du kannst. Sie sind nützlicher, als du denkst. Wenn du keine Ente finden kannst, nimm einen Freund mit. Geh es niemals alleine an.
Versage nicht, junger Herr Fillmore, denn wenn du das tust, wird es mit dem Whippet Hotel und mit allem, wofür es steht, zu Ende gehen.
Nur du kannst das Whippet jetzt noch retten. Merganzer baut darauf, dass du die Sache wieder ins Lot bringst.
Fürsorglich dein
George Powell
Rechtsanwalt
1 Park Avenue West, 44. Stock, Zimmer Nummer vier
New York, NY
Leo spürte das ganze Gewicht des Hotels auf seinen Schultern lasten. War es tatsächlich ihm, einem zehnjährigen Jungen, überlassen, das Hotel zu retten? Und was hatten bloß vier merkwürdige Kisten mit der Rettung eines Hotels zu tun?
Er sah auf sein Walkie-Talkie, dessen rotes Licht ständig blinkte: zweifellos Mrs Sparks oder sein Vater. Er war zu lange geblieben, um die violette Kiste mit den Ringen zu untersuchen. Leo stopfte den Umschlag und den Brief in die Brusttasche seines Overalls und schob den Deckel wieder über die Kiste zurück. Da hörte er die Stimme seines Vaters durch den Wartungstunnel hallen.
»Leo? Bist du da drin?«
Leise schob Leo den Deckel der Kiste ganz zu, bis er wieder fest saß. Dann nahm er sie und sah sich nach einem Versteck um, ehe sein Vater gleich angestapft kommen würde. Der Tunnel war schmal, aber hoch, angefüllt mit allen möglichen Rohren und Zählern, und er zog sich in einem geschlossenen Kreis um das gesamte Gebäude. Das war eine der Eigenarten des Whippet Hotels: Es war zwar richtig, dass es neun Stockwerke gab, aber zwischen den einzelnen Etagen war viel Platz. Alle Tunnel führten durch diese Zwischenräume und zwischen den Gäste-Etagen gab es hier und da Rohrleitern. Leo hatte sich schon vor Urzeiten alle Ecken und Winkel des Tunnelsystems gemerkt und eines war sonnenklar: Es gab keinen Ort, wo er eine violette Kiste verstecken konnte, ohne dass sein Vater sie bemerkte.
Leo sah sich nach allen Seiten um, und ihm wurde klar, dass er nur eine Chance hatte, wenn er sein Geheimnis bewahren wollte.
Als Clarence Fillmore bei der kleinen runden Öffnung auftauchte, die zu dem Entenaufzug führte, war sein Sohn verschwunden. Und die Kiste ebenfalls.
Mit einer Kiste eine Leiter hinunterzuklettern ist leichter gesagt als getan, und Leo ließ sie mehr als einmal fallen, als er vom fünften zum vierten Stock kletterte. Er schlängelte sich durch den Tunnel im vierten Stock, der wiederum mit Rohren ausgekleidet war, von denen einige mit lautem Zischen Dampf abließen, als er vorbeikam. Ein weiteres Loch mit einer Leiter tauchte auf und er kletterte wieder abwärts und erreichte den Wartungstunnel im dritten Stock. Fünf Minuten später war er wieder im Heizraum im Untergeschoss. Dort schob er die violette Kiste unter seine Pritsche, um sie zu verstecken. Er war schon ganz außer Atem, kletterte jedoch durch bis zur sechsten Etage, um die Klimaanlage einzuschalten, die Mrs Sparks nicht verstand.
»Behaupte jetzt nicht, dass du kein Signal hattest«, schrie Mrs Sparks, als er schließlich in die Lobby zurückkehrte. Ihr turmhoher Bienenkorb tanzte über seinem Kopf vor und zurück. »Remi hat fast in die Hose gemacht!«
Leo verstand nicht, warum sie Remi nicht für einen kurzen Augenblick, der nicht mehr als zwei Minuten dauern konnte, hatte gehen lassen, aber bei ihrer Laune wollte er sie nicht fragen.
»Und du hast ewig gebraucht, um die Klimaanlage auf Sechs einzustellen«, keifte Mrs Sparks weiter, während Remi in Richtung Toiletten davonrannte. »Was, wenn sich die Yanceys entscheiden, doch nicht hierzubleiben? Was ist dann? Was meinst du, was Mr Whippet davon hält, wenn er zurückkommt? Antworte!«
Leo räusperte sich. Er hatte den Namen des Mädchens und seiner Eltern nicht mitbekommen, als er den Schalter der KA an-, aus- und wieder anknipste und das Temperaturrädchen erst auf null und dann zurück auf 19 Grad drehte. Als sie angesprungen war, hatte sich das Mädchen vor den kühlen Luftstrom gesetzt und Leo angestarrt, als sei er nichts als ein Haufen stinkender Dreck.
»Wissen Sie, Mrs Sparks, die KA in dem Zimmer ist gar nicht so kompliziert. Soll ich sie Ihnen noch einmal erklären?«
Mrs Sparks’ Gesicht sah aus, als wolle sie Feuerwerkskörper aus ihren Ohren abschießen. Sie konnte es nicht ertragen, nicht zu wissen, wie das Hotel funktionierte, was praktisch die ganze Zeit vorkam.
»Das gibt einen Eintrag, Leo Fillmore. Behaupte nicht, dass ich dich nicht gewarnt hätte.«
Es war nicht ganz klar, was so ein Eintrag von Mrs Sparks bedeutete. Leo hatte schon Dutzende Einträge bekommen, aber was damit passierte, war ein Rätsel. Er hatte das Gefühl, die Einträge lagen in ihrem Schreibtisch als Beweisstücke für eine zukünftige Beurteilung seiner Fähigkeiten und Charaktereigenschaften, deren Zeitpunkt sie bestimmte.
Als Remi mit erleichterter Miene wieder durch die Lobby gesaust kam, unterhielt sich Mrs Sparks am Telefon mit Mrs Pompadore darüber, wo man in Manhattan die schönsten Hüte kaufen konnte.
»Danke, Leo, das war dringend.« Remi seufzte. »Hast du die Tochter von dem Milliardär kennengelernt? Die ist doch echt süß.«
»Ich hab ihr die Klimaanlage eingestellt, was sie anscheinend gefreut hat.« Leo flüsterte leise und bedeutete Remi, ebenfalls zu flüstern. Der kleinere Junge strich sich seine rote Hose und die Fliege seiner Uniform glatt und versuchte cool zu wirken. »Aber ich glaube, die Kleine wird uns noch Ärger bereiten. Sie ist eine launische Sechsjährige und sie langweilt sich. Schlechte Kombi.«
»Verstehe, Mann.« Die Milliardärstochter hieß Jane Yancey und Remi zählte ihre Eigenschaften an den Fingern auf. »Jane Yancey: sechs Jahre alt, gelangweilt, verwöhnt. Oberschlechte Kombi.«
»Hör mal, Remi, ich muss dich diese Woche bei ein paar Sachen vielleicht um Hilfe bitten. Kann ich mit dir rechnen?«
Remi strahlte. Er brannte darauf, der Gesellschaft von Mrs Sparks zu entkommen und das Whippet Hotel zu erkunden.
»Hat es was mit der Kiste zu tun? Mit der violetten?«
Remi war neugierig, aber er war auch neu im Hotel. Das konnte Leo zu seinem Vorteil nutzen.
»Nee, die ist nur etwas, das ich für die Enten brauche.«
»Aaah, okay. Entenfutter und dergleichen.«
»Genau, Entenfutter.«
Remi strahlte.
»Egal was, ich bin dabei, Hauptsache, ich komme von dieser Tür weg. Lass es mich einfach wissen.«
Leo hatte den Eindruck, dass das ganz gut laufen würde. Einen Helfer zu haben, der ihn, wenn’s brenzlig wurde, deckte, konnte wirklich von Nutzen sein. Er hatte seine Werkzeugtasche mit Hotelgerätschaften mitgebracht und öffnete sie gerade, als Mrs Sparks den Hörer abdeckte und durch die Lobby schrie:
»Musst du nicht irgendwelche Rohre reparieren?«
»Doch, Ma’am. Bin schon unterwegs.«
»Gut. Mach unterwegs im dritten Stock Halt. Hainy hat gehackt.«
»Wer sagt denn statt kacken hacken?«, flüsterte Remi und schüttelte den Kopf.
»Nimm das hier«, sagte Leo und reichte Remi eines von zwei kleinen Funkgeräten, die er vor Wochen bei einem Straßenhändler gekauft hatte. »Ich hab auch eines und beide sind auf Frequenz vier geschaltet. Wenn du es piepsen hörst, bin ich es.«
Remi machte große Augen und lächelte Leo an.
»Partner?«, wagte er zu fragen.
»Partner«, sagte Leo.