Der Zug durch den Central Park
»Ich liebe dieses Hotel«, sagte Remi. Er und Leo standen vor Balto, der Statue eines Hundes, der in die Gegend blickte. Der Central Park in Manhattan war über drei Quadratkilometer groß, doch Merganzer hatte jede einzelne Sehenswürdigkeit daraus in ein Stockwerk des Whippet Hotels gepfercht. Aus diesem Grund war Balto nur ungefähr fünf Zentimeter groß. Während sie sich näher beugten und genauer hinsahen, erfreute sie Blop mit der Geschichte dieses außergewöhnlichen Schlittenhundes.
»Wenn du mir heute Morgen, als ich aufgewacht bin, erzählt hättest, dass ich in einem geschrumpften Central Park stehe und von einem Roboter die Geschichte eines fünf Zentimeter großen Hundes erzählt bekomme«, sagte Remi, »dann hätte ich dich für verrückt erklärt. Wie ist denn das alles nur gebaut worden?«
»Du hast ja noch gar nichts gesehen«, sagte Leo und dachte an den Raum der Ringe, die Flippersuite, die Kuchensuite und so viel anderes, was Remi noch nicht kannte.
»Ich glaub dir aufs Wort«, sagte Remi. »Meine Mutter hat behauptet, dass die Zimmer immer verrückter werden, je höher man kommt.«
Leo wollte ihm den Spaß nicht verderben und zu viel verraten, aber Remi hatte ja Recht. Die Stockwerke sieben, acht und neun waren bizarr, um es mal vorsichtig auszudrücken.
»Los, lass uns nach dem Pfeil suchen.«
Der gewundene Weg, auf dem die beiden Jungen standen, lag vertieft im Boden, so dass die Modelllandschaft um sie herum auf Bauchnabelhöhe war. Wenn sie die Arme ausstreckten, konnten sie berühren, was sie wollten, und Leo stellte sich vor, wie Merganzer genau das getan hatte. Er konnte gewissermaßen sehen, wie sein alter Freund hier einen Baum, dort eine Statue aufstellte.
Unter Brückenbogen plätscherte richtiges Wasser hindurch und der See war mit kleinen Booten und schwankenden Entchen übersät. Es gab Springbrunnen, den Großen Rasen, den Central Park-Zoo, Schlittschuhbahnen, ein Karussell, Baseballfelder und Tennisplätze. Leo blieb vor der Statue von Alice im Wunderland stehen, weil er glaubte, einen Pfeil gesehen zu haben, aber er hatte sich geirrt.
»Bilde ich mir das nur ein oder wird es dunkler hier drin?«, fragte Remi.
»Meine Sensoren sagen ja, unverkennbar«, gab Blop zum Besten. »Umschalten auf Reserveleistung.«
Als ob ein rascher Sonnenuntergang eingesetzt hätte, wurde es immer düsterer in der Suite. Sie näherten sich dem Schloss Belvedere.
»Sieh mal, da, ein Junge und seine Mutter«, sagte Remi. »Die einzigen beiden Menschen im Park, stimmt’s?«
»Das ist Merganzer«, sagte Leo. »Und das andere muss seine Mutter sein.« Er konnte es an der strubbeligen Frisur erkennen, die beide hatten. Die Haare standen hinten ab wie die Kopffedern bei einer Mandarinente.
An der Decke erschienen Sterne und in dem Schloss gingen die Lichter an, während es im Raum ganz dunkel wurde. Ein Mond ging auf, hell und rund, und Schatten machten sich im Raum breit. Die Scheinwerfer auf den Baseballfeldern gingen an, Hunderte von kleinen Straßenlaternen leuchteten auf und das Geräusch einer Eisenbahn ertönte aus der Ferne.
»Wo kommt es her?«, fragte Remi. Das Geräusch war überall und nirgends zugleich. Doch Leo hatte Remi an den Schultern gepackt und starrte angstvoll in die Dunkelheit.
»Es ist noch jemand im Zimmer«, sagte er. In der dunkelsten Ecke des Raumes war ein Umriss zu sehen, der die Bedienung steuerte, die Lichter an- und ausschaltete und den Mond aufgehen ließ.
»Wer bist du?«, fragte Leo. Er hatte zu viel Angst, um sich zu bewegen, doch er fragte sich, ob sie wohl Merganzers Versteck hier in der Central Park-Suite gefunden hatten.
Die Lokomotive stieß einen Pfiff aus und Leo fuhr zusammen. Auf dem Großen Rasen tanzten Lichter umher und kreisten und drehten sich wie Glühwürmchen.
»Was geht da ab, Leo?«, fragte Remi. Er war ein abenteuerlustiger Kerl, aber das war jetzt doch beängstigend.
»Er versucht uns zu helfen«, sagte Leo.
»Wer versucht uns zu helfen?«
»Ich weiß nicht, aber schau mal.«
Die Lichter auf dem Großen Rasen kamen zur Ruhe und fügten sich so zusammen, dass sie Wörter bildeten. Leo und Remi lasen sie stumm, und dabei loderten die Wörter in kleinen Flämmchen auf und es wurde erneut hell im Raum.
Das Geräusch der Eisenbahn war verstummt und der Umriss war verschwunden.
Leo sprach die Worte laut nach: »›Jeder Pfeil braucht einen Bogen.‹«
Beide Jungen waren häufig genug im Central Park gewesen, um sofort zu verstehen, was das bedeutete. Es musste ein Hinweis auf die Bogenbrücke sein, Bow Bridge, die berühmteste Brücke im Park, die sich über den See spannte.
Blop ratterte mit Vollgas alles über die Brücken im Central Park herunter, von denen es viele gab, und ausnahmsweise wünschte sich Remi, der Roboter würde den Mund halten. Sie hatten keine Zeit für spezielle Informationen – warum zum Bau der Brücken im Park Gusseisen verwendet wurde und dass die Bow Bridge, die 1862 gebaut worden war, bisher ungefähr eine Milliarde Mal fotografiert worden war.
»Wenn du ihn mit dem Gesicht nach unten in die Tasche steckst, kann man ihn nicht so gut hören«, sagte Leo. Remi nahm Blop aus der Jackentasche, drehte ihn um und stopfte ihn wieder hinein. Blops Räder ratterten mit einem Sirr hin und her, doch seine gedämpfte Stimme war nur noch halb so laut.
Als sie zu der Bogenbrücke kamen, konnte Leo den versteckten Pfeil als Erster entdecken. Dort, wo der Bogen ins Wasser reichte, hatte sich eine Schar Enten versammelt. Alle starrten in eine Richtung.
»Da ist er!«, sagte Leo.
»Ob unter der echten Brücke wohl auch ein Pfeil ist?«, überlegte Remi. »Wenn ich das nächste Mal dort bin, muss ich ein Boot mieten und nachschauen.«
Leo musste über den Einfall grinsen, denn er hatte das Gleiche gedacht. Vielleicht konnten sie ja zusammen hin, wenn die ganzen Rätsel um das Hotel erst mal gelöst waren.
Leo griff über den Rasen und die Bäume und legte die Hand um den vergoldeten Pfeil, der ungefähr so groß war wie ein Zahnstocher. Er zog daran, doch nichts passierte.
»Versuch es mal mit drücken«, sagte Remi, der von Natur aus ungeduldig war.
Leo versuchte es und wieder passierte nichts.
»Lass mich mal«, sagte Remi und griff an Leo vorbei nach dem kleinen Pfeil.
»Nein, ich schaff das schon«, sagte Leo. Er hatte sich das Öffnen der blauen Kiste entgehen lassen und wollte nun nicht auch noch, dass Remi ein geheimes Zimmer in seinem Hotel öffnete.
Leo und Remi griffen gleichzeitig nach dem Pfeil, aber Remi war schneller. Wütend versuchte Leo, Remis Hand wegzuschubsen. Dabei brach der Pfeil ab und Remi hielt ihn in der Hand.
»Da siehst du, was du angerichtet hast!«, sagte Leo.
Remi war immer ein waghalsiger und zupackender Junge gewesen, aber er war gleichzeitig empfindlich und verlor schnell das Selbstbewusstsein.
»Das tut mir leid, Leo. Ich wollte das nicht. Es ist mit mir durchgegangen.«
Leo wandte sich wieder dem Brückenbogen zu. Es machte ihn noch wütender, dass Remi sich nicht wehrte. Remi suchte bei Blop Trost. Er zog ihn aus der Tasche und bat ihn um Hilfe.
»Blop, wie finden wir die Eisenbahn?«
Blop suchte mit kreiselndem Kopf den Park, den See und die Brücke ab. Er schien nachzudenken.
»Die Enten haben sich umgedreht, was in der Tat sehr merkwürdig ist. Könnte das von Bedeutung sein?«
Leo schöpfte wieder etwas Hoffnung und beugte sich näher über die Enten. Es stimmte; sie hatten sich alle umgedreht und ihre winzigen Köpfe jetzt der anderen Seite der Brücke zugewandt.
»Remi«, sagte Leo, »gib mir den Pfeil.«
Remi reichte Leo den zahnstochergroßen Pfeil, dessen Spitze abgebrochen war. Auch er beugte sich näher heran und sah, was Leo entdeckt hatte.
»Eine Zielscheibe! Das gibt’s ja nicht!«, rief er aus. Er war ganz aufgeregt, teils, weil ihm klar wurde, dass die Pfeilspitze abgebrochen sein sollte, aber mehr noch, weil es zwischen ihm und Leo wieder stimmte. Noch war also nicht alles verloren!
Leo steckte den Pfeil mitten ins Schwarze der Zielscheibe und trat zurück. Über ihren Köpfen tat sich ein Loch in der Decke auf.
»Geh lieber etwas zurück – so was hab ich schon mal erlebt«, warnte Leo.
Remi war ein aufmerksamer Zuhörer, und als die Leiter aus der Decke schoss, glaubte er, am anderen Ende des Raumes ein Geräusch zu hören.
»Das ist ja cool!«, sagte er – und so war es auch –, dann fügte er hinzu: »Ich glaube, jemand versucht, ins Zimmer zu kommen.«
Leo hielt inne und lauschte. Jemand fummelte im Flur mit einer Schlüsselkarte herum und versuchte, die Tür zu öffnen. Leo sah Remi an und legte einen Finger auf die Lippen, dann stieg er blitzschnell die Leiter hoch.
Als Jane Yancey endlich mit der Schlüsselkarte zu Rande kam, öffnete sie die Tür zu der Suite erst mal nur einen Spalt, in der Hoffnung, Leo bei etwas Unerlaubtem zu erwischen und ihn verpetzen zu können. Sie glaubte ein Zischen zu hören, war sich aber nicht ganz sicher. Der Raum war völlig dunkel geworden und sie stieß die Tür weit auf. Sie war stolz darauf, dass sie nach unten geschlichen war und sich die Schlüsselkarte geklaut hatte, während die Lobby verlassen dalag. Ich bin ganz schön ausgeschlafen, dachte sie. Sie ließ die Tür los, um nach einem Lichtschalter zu suchen, wusste jedoch nicht, dass die Tür eine automatische Feder hatte und hinter ihr wieder zuschlug.
Sie spürte, dass sie nicht allein war.
»He, Wartungsjunge! Komm auf der Stelle raus! Hör auf, mir Angst einjagen zu wollen!«, schrie sie, doch auf einmal war sie nicht mehr so sicher. Vielleicht war der Wartungsjunge doch nicht in diese Suite gegangen? Vielleicht sollte sie lieber schnurstracks verschwinden und lieber die Finger davon lassen.
Jane Yancey ergriff die Klinke und riss die Tür auf. Sie traute sich nicht, über die Schulter zu blicken und womöglich jemanden zu entdecken, der hinter ihr her war.
Ganz sicher war sie sich nicht, aber als sie den Flur entlanglief, hatte sie den Eindruck, in der Ferne eine Eisenbahn zu hören.
»Oje«, sagte Remi. »Schon wieder ist es mir passiert.«
»Was ist dir passiert?«, fragte Leo. Keiner von ihnen hatte es ganz die Leiter hinaufgeschafft, da schnappte sie schon wieder in das Loch zurück und riss sie mit sich. Dann hatte sich das Loch geschlossen und sie waren in Merganzer D. Whippets geheimer Eisenbahnsuite.
Remi wollte nicht damit herausrücken, und Leo hatte das Gefühl, dass er einen Fehler gemacht hatte, als er sich wegen des Pfeils so aufgeregt hatte.
»Es ist nicht schlimm, Remi. Du hast Recht gehabt. Ich hätte wegen dem Pfeil nicht so ausrasten sollen. Tut mir leid.«
Remi schien erleichtert und nahm alles ganz genau in Augenschein. Sie standen auf einem Bahnsteig, die Bahn hatte die Nummer 5, und unter den Rädern quoll Dampf hervor, als ob sie zur Abfahrt bereit war und nur auf sie wartete.
»Ich hab die blaue Kiste unten gelassen«, sagte Remi und wand sich verlegen.
»Oje«, sagte Leo. »Das ist allerdings schlimm.«
»Ich weiß, ich weiß – ich hab’s vermasselt. Ich hätte sie gar nicht abstellen sollen. Womöglich findet jemand anders die Kiste und was machen wir dann?«
Aber Leo machte etwas ganz anderes Sorgen. Ohne die Kiste hatten sie das Modell nicht, was bedeutete, dass sie selbst aus der Suite herausfinden mussten.
»Ich hab nicht so gründlich reinschauen können«, sagte Leo und versuchte, gute Miene zum bösen Spiel zu machen. »Erinnerst du dich an etwas, das uns weiterhelfen könnte?«
»Eigentlich nicht. Also, es war eben eine Modellbahn. Mit vielen Gleisen und Tunneln.«
Hilft uns nicht weiter, dachte Leo. War es ein Fehler gewesen, Remi in die Sache einzuweihen? Doch dann hatte Remi einen sehr guten Einfall. Er zog Blop aus der Tasche.
»Blop, das ist jetzt ganz wichtig, verstanden?«
»Wichtig, ja. Was ist wichtig?«
»Hast du dir das Innere der blauen Kiste gut angesehen?«
Leo und Remi hielten den Atem an, während sich der Kopf des kleinen Kerls von einem zum anderen drehte. Der Roboter wollte es eindeutig beiden recht machen. Er wollte sie nicht im Stich lassen, was die beiden sehr erfreute.
»Ihr braucht die Donuts, das ist der Trick«, sagte Blop.
»Was meinst du? Welche Donuts?«, fragte Leo.
Blops Kopf fuhr zu dem Zug herum.
»Steigt ein, dann zeig ich es euch.«
Leo kratzte sich am Kopf und nahm den Zug in Augenschein. Er war klein, eher wie die Wagen einer Achterbahn. Als sich Leo im Raum umsah, bemerkte er, dass die Strecke aus vielen Böschungen und scharfen Kurven, Bergen und Tälern, Tunneln und Brücken bestand.
»Wow, danke, Blop! Du hast uns gerettet!«, sagte Remi. Er wandte sich Leo zu. »Welchen Wagen willst du?«
Leo war zwar nicht so sicher, ob sie sich auf Blop verlassen konnten, aber er wollte es gerne glauben, und er war froh, dass Remi so entschlossen war. Nur äußerst ungern hätte er einen sich sträubenden Kumpel in einen Zug gezerrt, der wer-weiß-wohin fuhr.
»Ich nehme den hinteren Wagen, du den vorderen«, sagte Leo.
»Alles klar.« Remi steckte Blop in seine Tasche zurück und stieg über die Schienen in den Waggon. Leo sprang in den hinteren Waggon und hatte das Gefühl, dass er ihm bekannt vorkam. Etwas an dem Inneren des kistenartigen Wagens, in dem er nun saß, wirkte vertraut, doch er wusste nicht, woher. Es blieb keine Zeit, darüber nachzudenken, denn die Lokomotive fuhr ruckartig auf den Schienen an. Da entdeckte Leo den Sicherheitsgurt in seinem Waggon und das Licht ging aus. Er kannte diesen Wagen, daher wusste er, dass er irgendeine Bedeutung hatte.
»Leg den Sicherheitsgurt an, Remi! Den brauchst du gleich!«
Die Lokomotive war größer als die beiden Waggons dahinter und hatte ein kleines rundes Fenster an der Rückseite. Leo und Remi saßen im Freien, und es war Remi, dem es zuerst auffiel.
»Leo?«, sagte er, als der Zug aus dem Bahnhof fuhr.
»Was ist?«
»Jemand sitzt in der Lokomotive.«
Leos Herz begann wild zu schlagen, als er an Remi vorbeischaute und das runde Fenster in der Lokomotive entdeckte. Es war beschlagen, wie die beschlagenen Scheiben im Raum der Ringe, und jemand schrieb eine Botschaft mit dem Finger darauf:
Festhalten!
Leos Knöchel wurden weiß, so fest hielt er sich an den Seiten seines Wagens, und auf einmal schoss der Zug so schnell aus dem Bahnhof, dass Leo das Gefühl hatte, sein Gesicht würde fortgeblasen.
Remi juchzte auf vor Freude. Sein pechschwarzes Haar flatterte im Wind, während der Zug die erste enge Kurve nahm und über eine Brücke raste. Es war eine wilde Fahrt. Beide Jungen wurden in ihren Waggons hin- und hergeworfen und sie fuhren in den ersten von drei Tunnels ein. Ehe sie es so recht merkten, kamen sie wieder im Bahnhof an. Leo freute sich, denn er dachte, sie würden anhalten und könnten aussteigen.
Dem war aber nicht so.
Nach der dritten Runde dämmerte es Leo und Remi, dass sie nicht aussteigen konnten, es sei denn, sie fanden heraus, was sie als Nächstes machen mussten. Womöglich kamen sie hier nie mehr heraus, dachte Leo.
»Ich halte Blop in die Luft hoch!«, schrie Remi. Er drehte sich nach Leo um und grinste übers ganze Gesicht.
»Was? Warum?«, schrie Leo zurück.
Remi antwortete nicht, drehte sich zurück, zog Blop aus der Tasche und hielt den kleinen Roboter über den Kopf.
»Lass ihn bloß nicht fallen!«, rief Leo, der schon fürchtete, Blop könnte vom Wind ergriffen werden und ihm an die Stirn knallen, wenn er angeflogen kam.
Sie drehten eine Runde nach der anderen, keiner sagte etwas, alle drei passten nur auf. Es war eine überraschend leise und glatte Fahrt, wie eine Achterbahn auf Gummischienen, und beide Jungen merkten sich die Strecke: zwei Brücken, drei scharfe Kurven, viermal rauf und runter, drei dunkle Tunnel.
»Seid ihr schon einmal Karussell gefahren?«, fragte Blop, als sie um eine Kurve sausten.
Leo und Remi bejahten beide.
»Dann habt ihr auch schon nach den Drachenringen geschnappt?«, fragte Blop. Remi wusste nicht, was er damit meinte, und sah Leo an, der auch nur die Schultern zuckte.
Rauf und runter, über eine Brücke und durch einen Tunnel ging es weiter und sie kamen zum vierten Mal durch den Bahnhof.
»Viele Karusselle haben so eine Einrichtung mit den Drachenringen«, fuhr Blop fort, »die folgendermaßen läuft: Wenn ihr an dem Drachen vorbeikommt, zieht ihr den Ring aus seinem Maul, indem ihr den Finger hineinhakt. Jedes Mal, wenn ein Ring herausgezogen worden ist, taucht ein neuer auf. Wenn man den goldenen Ring erwischt, bekommt man eine Freifahrt.«
»Klingt lustig, aber was hat es mit der Bahn zu tun, in der wir sitzen?«, fragte Leo.
»Die Drachen sind in den Tunneln, das behauptet zumindest die blaue Kiste«, sagte Blop.
Remi jubelte vor Freude. Er war froh, dass er Blop so lange in die blaue Kiste hatte blicken lassen. Er selbst hatte die kleinen Drachenköpfe in den Tunneln gar nicht gesehen.
»Hier kommt ein Tunnel!«, rief Remi, ließ Blop wieder in seine Tasche fallen und beugte sich aus dem Wagen, während es um sie herum dunkel wurde.
Aber es war nutzlos. Die Tunnel waren so schwach erleuchtet, dass die beiden nichts sehen konnten – bis Leo seine Taschenlampe herauszog.
»Ich leuchte«, rief er, »pack du die Ringe!«
Als sie in den zweiten Tunnel kamen, strahlte Leo die Wände an, und da war er – ein prachtvoller Drachenkopf mit aufgesperrtem Maul. An seinen Zähnen hing ein Ring. Remi löste seinen Sicherheitsgurt und beugte sich weit aus dem Wagen, so weit, dass er fast auf die Schienen fiel. Sein Finger erwischte den Ring und er flutschte heraus. Der Zug verzögerte seine Fahrt kurz, und der Drache blies einen Feuerstoß aus, der den Tunnel in ein orangefarbenes Licht tauchte. Leo musste sich unter der Flamme wegducken, damit sein Haar nicht angesengt wurde.
»Er ist weiß!«, sagte Remi.
»Wenn Blop Recht hat, brauchen wir einen goldenen Ring«, antwortete Leo.
Immer weiter ging es in die Runden, während sie Ringe aus den Mäulern der Feuer speienden Drachen fischten, einen in jedem Tunnel. Jedes Mal, wenn ein Ring herausgeholt wurde, tauchte ein neuer auf, bis Remi neun Ringe in der Tasche hatte. Durch den Bahnhof, rauf und runter, über die Brücke und wieder in den ersten Tunnel – diesmal war der Ring golden, wie sie beide gehofft hatten.
»Das ist der, den ihr braucht«, sagte Blop, der aus seinem Nest in der Tasche lugte. »Der goldene Ring ist immer der Siegesring.«
»Pass auf, dass du ihn erwischst!«, sagte Leo. Er hatte Angst, dass sonst das ganze System wieder auf Anfang schaltete und sie noch mal starten müssten. Ihm wurde allmählich übel von den vielen Runden und er wollte die Fahrt endlich zu Ende bringen.
Remi beugte sich hinaus, als sie in die Dunkelheit eintauchten. Leos Taschenlampe wies ihm den Weg und der goldene Ring war in greifbarer Nähe. Aber diesmal lehnte sich Remi zu weit hinaus.
»Remi!«, schrie Leo.
Er richtete die Taschenlampe auf Remis Wagen und sah seinen Freund über den Gleisen baumeln, während sie dahinflogen. Das Einzige, was Remi und Blop im Wagen festhielt, war Remis Tennisschuh, der sich in der Tür verfangen hatte. Sie verließen den ersten Tunnel. Remis rote Jacke flatterte im Fahrtwind und er versuchte – ohne Erfolg –, sich an der Wagentür festzuhalten. Alle neun Ringe flogen aus seiner Tasche und hüpften hinter ihnen über die Gleise.
»Nimm meine Hand!«, schrie Leo, öffnete seinen Sicherheitsgurt und streckte den Arm aus. Nur Sekunden vor ihnen kam eine scharfe Rechtskurve, und Leo wusste, wenn er Remi nicht rechtzeitig erwischte, würde sich sein Schuh lösen und Remi und Blop würden über die Bäume sausen.
»Los! Pack meine Hand! Schnell, Remi!«
Remi streckte die Hand beim Beginn der Kurve in die Luft und sein Schuh löste sich aus der Verhakung in der Wagentür. Leo hatte ihn zu fassen bekommen. Als sie um die scharfe Ecke sausten, wurde er fast selbst aus seinem Wagen gezogen. Remi flog weit durch die Luft wie ein Trapezkünstler, der sich an seinem Partner festhält. Als die Schienen wieder gerade wurden, zog Leo scharf an und Remi purzelte in den zweiten Waggon und schubste Leo zu Boden.
»Ich hab ihn verloren!«, schrie Remi und zog Leo an seinem Overall auf die Sitzbank. »Ich hab den goldenen Ring fallen lassen!«
Doch Remi hätte sich nicht so aufregen müssen, denn der goldene Ring lag sicher in Leos Hand.
»Ich hab ihn«, sagte er. Es war ein großer Ring, ungefähr mit dem Umfang einer Billardkugel. Ein Ring für einen Riesen, fand Remi. An dem Ring war eine Schnur und an der Schnur war ein Umschlag befestigt, der nicht größer war als eine Briefmarke.
Der Zug näherte sich dem zweiten Tunnel und die Jungen konnten Flammen erkennen.
»Das darf doch nicht wahr sein«, sagte Leo. Der Drache im zweiten Tunnel spie einen steten Strom von Flammen aus, die die Dunkelheit erleuchteten. Ohne Vorwarnung neigten sich die beiden Waggons nach hinten, dann kippten sie wieder auf die Schienen und Leo und Remi lagen flach auf dem Rücken und starrten an die Decke des Eisenbahnzimmers.
»Was ist denn jetzt los?«, fragte Remi und sah Leo Hilfe suchend an.
»Keine Zeit mehr für Sicherheitsgurte. Halt dich einfach so gut wie möglich fest!«
Als sich die Lokomotive dem Tunnel näherte, hängte sie die Wagen ab und raste ganz allein durch das Feuer. Im Boden tat sich ein Loch auf, das Leo und Remi jedoch nicht sehen konnten.
»Jetzt kommt bestimmt die Doppelhelix!«, rief Leo.
»Wie meinst du das, jetzt kommt die Doppelhelix?«, schrie Remi zurück.
Die beiden Waggons stürzten in das Loch, kurz bevor sie in die Drachenflammen gefahren wären, und trudelten durch den Mittelschacht des Hotels.
»Saaaaaagenhaft!«, jubelte Remi, denn er war noch nie in der Doppelhelix gewesen.
»Ich wusste doch, dass mir diese Waggons bekannt vorkamen«, sagte Leo und hielt sich so gut es ging fest, während die Doppelhelix sie fünf Stockwerke nach unten wirbelte. Oder waren es sechs? Mit einem Ruck kam die Doppelhelix zum Stehen und Remi stieß sich den Kopf an der gepolsterten Sicherheitsschiene an.
»Alles in Ordnung?«, fragte Leo besorgt.
»Machst du Witze? Die beste Stunde meines Lebens!«, sagte Remi. Er sah sich in dem dunklen Raum um und setzte mit besorgter Stimme hinzu: »Aber wo ist Blop?«
Die Jungen suchten die Tasche und den Boden ab, doch von Blop war nichts zu sehen.
»Er muss dir im Eisenbahnzimmer aus der Tasche geflogen sein«, sagte Leo.
Remi sah aus, als sei ihm sein Hund entlaufen, seine Katze vor ein Auto gelaufen und seine Mutter hätte ihm eine Woche Hausarrest verpasst.
»Was, wenn es ihn zerrissen hat? Wenn wir ihn nie wiederfinden?«
Leo war auch besorgt, aber gleichzeitig war er auch ein bisschen erleichtert, dass Blop in der Eisenbahnsuite zurückgeblieben war. Merganzer D. Whippets Konstruktionen waren solide, und Leo war sicher, dass Blop herumrollte und auf die Bäume und Büsche und das Gras einredete.
»Lass mal. Blop ist ein ganz robuster Roboter. Den finden wir wieder.«
Remi war etwas erleichtert. »Meinst du wirklich?«
Leo legte seinem Kumpel eine Hand auf die Schulter. »Glaub mir, wir finden ihn.«
Remi holte tief Luft, nickte ein paarmal und schien seine Begeisterung wiederzufinden.
»Ich hab noch nie erlebt, dass die Doppelhelix unter dem Erdgeschoss anhält«, sagte Leo und sah sich um. »Ich glaube, wir sind unter dem Whippet.«
Beide Jungen stiegen aus und standen neben dem Wagen. Sie sahen den Schacht hinauf, durch den sie gerade gefallen waren und auf dessen Boden sie standen. Eine Leiter führte zu einem Gitterpodest.
»Da oben ist die Lobby«, sagte Leo und deutete hinauf. »Aber wir sind drei Meter darunter.«
Er kratzte sich den Kopf und sah den Goldring an. Da entdeckte er den briefmarkengroßen Umschlag an der Schnur und wollte ihn gerade genauer in Augenschein nehmen, als Remi flüsterte:
»Da ist sie.«
»Da ist was?«
Leo folgte Remis Blick in eine Ecke des Schachtes. Sie hatte die gleiche Größe wie die anderen, war jedoch leuchtend grün.
Sie hatten den Roboter verloren, dafür aber die dritte versteckte Kiste gefunden.