Das Feld der verrückten Erfindungen
Egal, wie fest sie an dem Holzdeckel zogen, Leo und Remi gelang es nicht, die grüne Kiste zu öffnen. Aus Angst, den Inhalt zu zerbrechen, trauten sie sich nicht, die Kiste zu zerschlagen. Stattdessen trugen sie sie die Eisenleiter hinauf. Leo ging voraus, die Kiste unter dem Arm, und Remi folgte ihm. Daher entdeckte er die Botschaft als Erster.
»Etwas ist unten draufgeschrieben.«
Als sie das Podest erreichten, hob Leo die Kiste hoch und las, was da stand.
Man kann sie nicht allein öffnen.
»Was meinst du, was das bedeuten soll?«, fragte Remi und steckte die Hand in die Tasche. Wenn Blop doch nur noch da gewesen wäre!
»Vielleicht kriegen wir sie auf, wenn wir alle drei Kisten zusammenfügen«, überlegte Leo.
»Eine tolle Idee!«
Sie öffneten die orangefarbene Tür, die in die Lobby führte, aber nur einen Spalt, und sahen Remis Mutter am Empfangstresen sitzen. Leo ließ die grüne Kiste stehen, und zerschunden und durchgerüttelt, wie sie waren, schlichen sie hinaus und ließen die orangefarbene Tür etwas zu laut ins Schloss fallen.
Remis Mutter drehte sich nach ihnen um. Mit zur Seite geneigtem Kopf sah sie die beiden Jungen forschend an.
»Mrs Sparks ist noch nicht zurück?«, fragte Remi und versuchte, seine Mutter gleichzeitig abzulenken und so zu tun, als sei während der letzten Stunde nichts Aufregendes vorgefallen.
Pilar sah ihren zerzausten Sohn an und fragte sich, warum sein Haar wohl so wild zu Berge stand.
»Leo, passt du auch gut auf meinen Jungen auf? Ich hoffe, ihr stellt nichts an.«
»Klar doch, Ma’am. Sehr gut«, sagte Leo, dachte jedoch daran, wie er Remi fast aus einem fahrenden Zug hatte fallen lassen.
»Mit dem Ding würde ich gerne mal fahren«, sagte Pilar und starrte die orangefarbene Tür an. Leo und Remi hatten also nicht verheimlichen können, dass sie gerade mit der Doppelhelix gefahren waren, aber sie hatte anscheinend nichts dagegen und wechselte das Thema. »Jane Yancey hat gesagt, dass ihr versucht habt, ihr Angst zu machen. Stimmt das?«
Remi sprang in die Bresche. »Sie will uns nur immer nachlaufen und uns zu Tode nerven«, sagte er. »Du weißt doch, wie verzogen sie ist.«
Pilar legte den Finger auf die Lippen und schaute hinüber zum Puzzle-Zimmer. »Mr Phipps ist da drin, mit Hauptmann Rickenbacker. Ihr wisst doch, wie der sein kann.«
Leo wusste nur zu gut, dass Hauptmann Rickenbacker ein schreckliches Klatschmaul war und sich gern die Zeit damit vertrieb, Ärger anzuzetteln. Wenn er sie gehört hatte, würde er Mr Yancey bestimmt erzählen, was sie von seiner Tochter hielten, nur damit die Funken flogen.
»Husch«, sagte Pilar. »Mrs Sparks kommt um Punkt fünf zurück. Ich will, dass du wieder an der Tür stehst, ehe sie da ist.«
Remi nickte zustimmend und rannte mit Leo davon. Dabei warf er noch mal einen Blick auf die Tür zu der Doppelhelix. Zu dumm, dass sie die grüne Kiste hatten zurücklassen müssen, dachte er.
»Das ist so ein winziger Brief«, sagte Remi. »Dazu brauchen wir ja eine Lupe.«
Sie waren im verlassenen Keller angekommen und öffneten den winzigen Umschlag, der an den Goldring gebunden war.
»Ich hab genau das Richtige«, sagte Leo. Er ging zu einer von den vielen Werkzeugkisten und suchte nach einer Linse, die einmal zu einer Lesebrille gehört hatte. Mr Phipps hatte die Brille beim Trödler gekauft, in der Annahme, dass sie ihm das Lesen erleichterte, aber er hatte nur Kopfweh davon bekommen und sie an Leo weitergegeben.
Als Leo an der Schaltzentrale vorbeikam, sah er, dass ihm sein Vater eine Nachricht mit einer Liste von dringenden Aufgaben dagelassen hatte.
Leo,
alles geht ständig schneller zu Bruch, als ich es reparieren kann! Kann dich auf dem Walkie- Talkie nicht erreichen (das muss ich wohl auch noch heil machen, erinnere mich daran). Komm zu mir in den Wartungstunnel auf vier, falls du mich brauchst, ansonsten geh rauf nach sieben zu Mrs Pompadore, so schnell du kannst. Ärger mit den Fischen.
Dad
PS: Sieh mal nach Betty. Sie benimmt sich so komisch.
»Was steht drin?«, fragte Remi, der auf der Liege saß. Leo hatte die Nachricht mitgebracht.
»Ich muss ein paar Arbeiten erledigen, und es klingt, als ob Betty mal wieder Gassi geführt werden muss.«
Dagegen hatte Remi anscheinend nichts einzuwenden.
»Ich kann die Enten spazieren führen, wenn du Hilfe brauchst. Wenn wir nur die Kisten endlich in Sicherheit bringen könnten!«
Das stimmte; die Kisten kamen ihnen so schnell wieder abhanden, wie sie auftauchten. Die violette Kiste stand sicher unter Leos Pritsche, doch die blaue war in der Central Park-Suite und die grüne, die sie noch nicht mal geöffnet hatten, stand im ersten Wagen der Doppelhelix. Das brachte Leo auf eine Idee.
»Ich sag dir, was wir machen«, entschied er. »Ich muss Dad treffen und das Problem im Siebten beheben. Das sollte nicht länger als eine Stunde dauern. Wir sagen deiner Mutter, dass wir aufs Dach müssen, und zwar schnell, sonst gibt es einen Aufstand bei Betty und den anderen Enten –«
»Ich verstehe, was du vorhast«, fiel ihm Remi ins Wort. »Wir holen die grüne Kiste auf dem Weg nach oben, dann trennen wir uns auf dem Weg nach unten im Entenaufzug.«
»Du gehst mit den Enten spazieren, ich erledige meine Arbeit, dann treffen wir uns in der Central Park-Suite –«
»– wo wir die blaue Kiste finden und Blop aus der Eisenbahnsuite retten!«
An die Rettung von dem Roboter hatte Leo gar nicht gedacht, das Problem konnten sie erledigen, wenn es so weit war. Remi gab ihm die Botschaft, die im Umschlag an dem goldenen Drachenring gehangen hatte, und die beiden Jungen beugten sich dicht über ihre provisorische Lupe.
»Wer kann denn so winzig schreiben?«, fragte Remi, aber er begriff allmählich, dass das Whippet Hotel viele seltsame Überraschungen bereithielt.
»Das ist merkwürdig«, sagte Leo. »In dem Zimmer hat seit Jahren keiner mehr gewohnt.«
»Was ist merkwürdig? Was steht denn drin?«
Leo ging ganz nah an die Linse und las laut vor.
»›Herzliche Einladung zu einem festlichen Essen im Achten. Um Punkt acht. Nicht zu spät kommen! MR M.‹«
»Das muss Merganzer sein! Er ist hier«, sagte Remi. »Er ist zurück.«
Leo war sich noch nicht so sicher. Es gab zwar gewisse Anzeichen, aber konnte es wirklich Merganzer sein, der im Hotel herumlief und heimlich alles in Bewegung setzte? Stumm zählte er alles noch einmal auf:
- Jemand war im Raum der Ringe gewesen.
- Hauptmann Rickenbacker war überzeugt, seinen eingebildeten Erzfeind MR M. gesehen zu haben.
- Eine düstere Gestalt war in der Central Park-Suite aufgetaucht.
- Jemand hatte die Eisenbahn gefahren.
Und nun das: eine winzige Einladung zu einem festlichen Abendessen im einzigen Stockwerk des Hotels, in dem es spukte. Es war alles wirklich ganz verrückt, aber dennoch hatte die ganze Geschichte etwas an sich, das gar nicht zu Merganzer D. Whippet passte.
»Ich glaube, dass hier noch was anderes vor sich geht«, sagte Leo und trat an die Schaltzentrale, um eine rote Karte für die Doppelhelix zu machen. »Und ich glaube, dass wir beide der Sache auf den Grund kommen werden.«
»Ich bin dabei«, sagte Remi, stand auf und steckte den goldenen Drachenring in die Tasche. »Aber sag doch mal: Was ist denn im achten Stock?«
Leo reichte Remi die rote Schlüsselkarte und ging zur Tür.
»Das ist die Spuksuite. Wusstest du das nicht?«
Remi wurde blass. Er hasste Gespenster und Erscheinungen jeglicher Art.
»Seit ich mit meinem Vater vor fünf Jahren hergekommen bin, hat noch keiner im achten Stock gewohnt.«
»Na super«, sagte Remi, aber es ging ihm schon wieder besser. Als sie aus dem Untergeschoss traten, schaute er zu der orangefarbenen Tür, die in die Doppelhelix führte. Gleich würde er durch die Mitte des Hotels nach oben fliegen!
So einen Spuk mochte er gerne.
Wenn man Hotelzimmer mit Teichen baut, ergibt sich das Problem, dass man sie ständig warten muss. Merganzer D. Whippet hatte die Teiche lange Zeit täglich aufgesucht, um sie in Ordnung zu halten, aber nun war er seit hundertundeinem Tag verschwunden, was eine lange Zeit war, wenn es um Teiche in Hotelzimmern ging. Leo hatte nicht nur die Verantwortung übernommen, während Merganzers Abwesenheit täglich mit den Enten spazieren zu gehen. Er hatte auch die Aufgabe, die Teiche zu überprüfen. Während der vergangenen Tage hatte er diese Aufgabe sehr vernachlässigt.
Aus diesem Grund war Leo nicht sonderlich überrascht gewesen, auf der Nachricht von seinem Vater zu lesen: Ärger mit den Fischen. Mrs Pompadore wohnte seit ihrer Ankunft in der Teich- und Höhlensuite. Lange Zeit war es eine der beliebtesten und teuersten Suiten gewesen, und Leo musste zugeben, dass er gerne mal einen Nachmittag an diesem grandiosen Ort verbrachte.
»Du siehst, warum ich euch gerufen habe«, sagte Mrs Pompadore. Auf dem einen Arm hielt sie Hainy, in der anderen Hand einen Drink mit einem Papierschirmchen. Es gab sieben Teiche in der Suite, und aus allen schoss Wasser, entweder aus defekten Ventilen oder aus Rohren.
»Ja, Ma’am«, sagte Leo. »Ich kann sehen, warum Sie uns gerufen haben.«
Leo hatte seine Teichwerkzeuge dabei: einen Kescher, einen Schlauch mit Ventildüse, mit dem man frisches Wasser aus dem Wartungstunnel nachfüllen konnte, und eine Weste, an der alle möglichen Schraubenschlüssel, Pickel und Hämmer hingen.
»Ich gehe ins Theater«, sagte Mrs Pompadore. »Komm zu mir, wenn du fertig bist, dann kriegst du ein Trinkgeld.«
Leo musste an sich halten, um nicht die Augen zu verdrehen, denn Mrs Pompadores Vorstellung eines Trinkgeldes belief sich meistens auf ein Fünf-Cent-Stück und ein angestaubtes Gummibärchen.
Mrs Pompadore setzte Hainy ab, der anfing zu bellen und um den größten der Teiche herumzurasen. Leo sah sich gründlich um und atmete die frische Luft ein. Eine blaue Libelle flog an ihm vorbei. Wege schlängelten sich um alle sieben Teiche und über jedes der Becken führte eine Holzbrücke. Von dort konnten die Gäste die Seerosen, die hüpfenden Frösche und die bunten Fische beobachten. Die Wände des Raumes waren aus zerklüftetem schwarzen Gestein und hatten drei große Öffnungen. Eine führte ins Schlafzimmer, eine in ein Schwimmbecken und einen Wellness-Bereich und die dritte in eine Theaterhöhle, wo man Reality-Shows oder Spielfilme ansehen konnte.
»Aus dem Weg, Leroy, aber schnell«, sagte Leo. Alle Teiche waren voll mit riesigen Fischen namens Koi, und Leroy war der dickste von ihnen. Seit Merganzers Verschwinden war Leroy geradezu Furcht einflößend geworden – über einen Meter lang und dicker als eine große Wassermelone. Leroy ließ einen nur vorbei, wenn man ihn mit Bonbons fütterte, sonst spuckte er einen voll. Leo hatte darum eine Handvoll Bonbons im hohen Bogen ins Wasser geworfen und Leroy schwamm träge darauf zu.
Als Leo die Pumpe vor sich hatte, stellte er fest, dass sie verstopft war. Einer der mittelgroßen Fische war ihr zu nahe gekommen und hineingesaugt worden. Seine Schwanzflosse schlug noch hin und her, ein gutes Zeichen, doch ohne den Schlauch würde Leo ihn niemals herausbekommen.
Er rückte einen großen Stein am Rand des Teichbeckens beiseite und steckte den Schlauch in ein Plastikrohr, das dahinter zu Tage kam. Dann drehte er den Hahn voll auf. Der Fisch schoss aus der Pumpe und flog in die Luft. Wenn es so etwas wie schreiend komische Fische gab, dann gehörte dieser dazu. Hainy sah zu, wie der Fisch durch die Luft trudelte und mit einem Platschen im Teich landete, und er fing wieder zu bellen an. Leo warf Leroy noch eine Handvoll Bonbons hin und inspizierte eines der grünen Plastikrohre, das Wasser über einen der Wege spritzte wie ein defekter Sprinkler. Er musste es abdrehen und das Rohr mit einem Spezialband umwickeln, das Merganzer ihm gegeben hatte.
Es dauerte fast eine ganze Stunde, um alle sieben Teiche instand zu setzen. Irgendwann machte sich Leo doch Gedanken über die vielen Probleme. Rohre rissen schon mal, aber das hier war lächerlich. Alle sieben Teiche auf einmal?
»Ich bin fertig«, sagte Leo mit einem Blick in die Theaterhöhle, als er endlich jedes Rohr repariert hatte. Mrs Pompadore saß auf einem riesigen Sofa und sah sich ein Programm an, in dem es anscheinend um Hundetraining ging. Das war ja wohl ein Witz, denn Hainy war der ungezogenste Hund, den Leo jemals im Leben gesehen hatte.
»Sei ein Schatz und komm morgen wieder«, sagte Mrs Pompadore, ohne den Blick von dem großen Bildschirm zu nehmen. »Die Rohre gehen ja doch wieder kaputt.«
»Sie sollten aufhören, Leroy zu füttern«, sagte Leo. Er hatte ein schlechtes Gewissen, weil er dem riesigen Fisch selbst etwas zu fressen gegeben hatte. »Er wird zu dick.«
Zuerst überhörte Mrs Pompadore Leos Bemerkung, doch dann riss sie sich von dem Bildschirm los.
»Hast du was gesagt?«
Leo schüttelte den Kopf. Er wollte sich gar nicht erst in ein Gespräch mit der gelangweilten Schickimicki-Dame aus Texas verwickeln lassen.
»Ich habe für Leroy eine Packung Pumpernickel auf dem Tisch gelassen«, sagte sie und wandte sich wieder dem Fernsehprogramm zu. »Sei so lieb und füttere ihn auf dem Weg hinaus. Aber gib Hainy nichts – er ist auf Diät.«
Leo zog die Augenbrauen hoch, als er sich umdrehte und zur Tür ging. Kein Wunder, dass Leroy so fett wurde; Mrs Pompadore verfütterte ganze Packungen Brot an ihn.
Als er über die Holzbrücke ging und auf die orange-weißen Fische hinunterblickte, die träge in den Teichen herumschwammen, hatte er das sichere Gefühl, dass vor ihm jemand in der Suite gewesen war und den ganzen Unfug mit den Rohren ausgelöst hatte.
Aber wer?
Es war halb acht und zum ersten Mal an diesem Tag war alles im Whippet Hotel ruhig. Leo und sein Vater hatten bis jetzt gebraucht, um zu erledigen, was Mrs Sparks nach ihrer Rückkehr von ihren Besorgungen verlangt hatte: »Alles tun, bis die Gäste ruhn.«
Keine schlechte Redewendung für so eine humorlose Frau. Leo hatte das deutliche Gefühl, dass Mrs Sparks ungewöhnlich gute Laune hatte. Vielleicht lag das daran, dass das Abendessen auf dem Rasen abgesagt worden war, aus Mangel an interessierten Gästen. Das kam häufig vor, weil es ja sechstausend Restaurants in Manhattan gab, die man aufsuchen konnte, und weil reiche Leute bekannt dafür waren, dass sie gerne zum Essen ausgingen und immer auf der Suche nach dem neuesten Superrestaurant waren. Essen auf dem Rasen des Whippet war ja ganz nett, aber mehr als ein paarmal in der Woche war einfach undenkbar, selbst für Hauptmann Rickenbacker und Theodor Bump, die ihr Essen gerne bei den feinsten Restaurants orderten, die Essen lieferten.
Und so kam es, dass das Whippet um die Abendessensstunde ruhig war. Leo hatte den Eindruck, dass fast alle zum Essen ausgegangen waren oder sich in ihre Zimmer zurückgezogen hatten, um Flipper zu spielen oder Liebesromane zu schreiben.
»Mein Vater ist im Keller, aber ich habe die violette Kiste mitgebracht«, flüsterte Leo in sein Funkgerät. »Kannst du dich wegschleichen?«
Remi stand noch immer an der Tür und musste auch noch bis acht dortbleiben. Erst dann entließ ihn Mrs Sparks aus seiner Pflicht.
»Mrs Sparks macht ihr komisches Nicken, weißt du, was ich meine?«
»Tausendmal gesehen«, antwortete Leo. Mrs Sparks wurde abends gegen sieben Uhr gewöhnlich müde. Ihr Kopf sank vornüber, bis der gigantische Bienenkorb zur Tür zeigte, dann hob sie ihn ruckartig hoch. Dieses Hin und Her dauerte meistens ungefähr eine halbe Stunde.
»Bin schon unterwegs«, sagte Remi und das Funkgerät ging aus.
Leo wartete mit der grünen und der violetten Kiste auf dem Entenaufzug. Als er hörte, wie Remi unten in den Entenaufzug einstieg, ging ihm nur eines durch den Kopf: »Hast du die blaue Kiste geholt?«
»Leo?«, flüsterte Remi. »Wo bist du?«
»Hier oben.« Leo starrte durch die Deckenluke im Entenaufzug. »Mach die Tür zu und komm rauf – wir haben nur ein paar Minuten, bis Mrs Sparks nach dir sucht.«
Leo konnte die blaue Kiste nicht sehen, bis Remi sich nochmals aus dem engen Ding beugte und sie hereinholte. Er reichte sie Leo durch die Deckenluke.
»Gut gemacht, Remi! Einen Moment lang hab ich gezweifelt.«
»Immer noch kein Blop, aber wenigstens haben wir die Kiste zurück.«
Remi schloss den Aufzug und kletterte durch die Deckenluke. Er setzte sich und ließ die Füße in den Aufzug baumeln.
»Mach die Luke lieber zu, nur für alle Fälle«, sagte Leo. Was sie gar nicht brauchen konnten, war, dass Mrs Sparks die Geheimtür in der Decke des Aufzugs entdeckte. Je weniger sie wusste, desto besser.
Leo schob die blaue Kiste auf die violette und Remi durfte die grüne Kiste in zwei Rillen auf die beiden anderen Kisten schieben.
»Sie passen genau zusammen, wie wir gehofft haben«, sagte Remi mit einem Blick auf den Stapel aus ungleichen Kisten. »Sieht ja schon fast wie das Whippet aus, oder?«
Leo hatte das auch gedacht und nickte zustimmend. Dann standen die beiden Jungen auf und starrten auf den Deckel der grünen Kiste.
»Also los«, sagte Leo und versuchte wieder, ihn aufzuschieben. Diesmal klappte es und er leuchtete mit seiner Stablampe hinein.
»Wow«, flüsterte Remi, als sich Licht und Schatten in die Kiste ergossen. »Das sieht ja so echt aus!«
Leo sagte gar nichts, aber er war genauso gebannt wie Remi. Sie hatten eine Kiste geöffnet, die in eine andere Welt führte, und Leo konnte nur eines denken: Ich hoffe, dass wir da mal hinkommen.
Im Inneren waren vor allem drei Dinge, die sie fesselten: ein Schrottplatz, eine Blumenwiese und viele fliegende Objekte. Der Schrottplatz bestand aus winzigen Autowracks, kaputten Kühlschränken, Motoren und tausend anderen Dingen, die zu Hügeln aufgetürmt waren. Leo beugte sich ganz nahe heran und steckte praktisch den Kopf in die Kiste. Da sah er winzige Türme, die ihn an die wackeligen Zeitungsstapel erinnerten, die neben der Pritsche seines Vaters standen, so schief, als würden sie jeden Moment umkippen. Remi griff hinein und berührte einen der Stapel. Er merkte, dass sie nicht wirklich aus Papier, sondern kleine angemalte Plastikfiguren waren. Prähistorische Wesen aus Metall schienen in der Kiste herumzufliegen, aufgehängt an Drähten, und die Blumenwiese bedeckte den halben Boden mit überwältigenden Farben.
»Das ist aber eine seltsame Kiste«, sagte Remi. »Was sie wohl bedeutet?«
Leo war auch nicht sicher. Er richtete die Taschenlampe auf die Unterseite des Deckels und hoffte, dort Hinweise zu finden. Er wurde nicht enttäuscht.
»Wieder eine Botschaft von Merganzer D. Whippet«:
›Ein dunkler gefährlicher Weg liegt vor dir.
Achte auf Löcher, den Berg, das Getier!
Eine fliegende Ziege gibt dir Kraft.
Kippende Kühe, ein Geist und Apfelsaft.
Die Zeit drängt, es dauert bis heut Abend bloß.
Wenn alle da sind, fliege los!
M.D.W.
PS: Um eine Schlüsselkarte für die Fliegende Farm zu bekommen, die Schneckenhöhle aufsuchen, die Ziege zweimal herumdrehen und drücken.‹
Remi wirkte unglücklich. Das ganze Gerede von Spukzimmern und Gespenstern und gefährlichen Wegen machte ihn allmählich nervös. »Wie gut hast du Mr Whippet eigentlich wirklich gekannt?«, fragte er.
»Ziemlich gut«, sagte Leo. Er und Merganzer hatten sich sehr nahe gestanden, was die Tatsache, dass er so plötzlich und ganz ohne Ankündigung verschwunden war, noch viel verwirrender machte.
»›Ein dunkler gefährlicher Weg‹«, wiederholte Remi. »›Achte auf Löcher, den Berg, das Getier‹? Ein Geist und eine fliegende Ziege? Du musst zugeben, dass er nicht gerade wie die normalste Ente im Teich klingt.«
»Und die Schlüsselkarte für die Fliegende Farm hast du gar nicht erwähnt. Die ist nämlich äußerst selten. Und weißt du, was noch?«
»Was?«
»Ich war schon in der Schneckenhöhle. Sie ist in dem Spukzimmer.«
»Na bestens.«
Genau in dem Moment wurde die Tür zum Entenaufzug unter ihnen aufgerissen und Mrs Sparks’ Stimme dröhnte in den winzigen Raum. »Remi! Tür! Auf der Stelle!«
Die zwei Jungen oben auf dem Entenaufzug gaben keinen Mucks von sich. Was, wenn Mrs Sparks die Kisten in die Finger bekam? Und herausfand, was da los war? Das wäre das Ende ihres Abenteuers, das Ende von Remis Türdienst, das Ende von Clarence Fillmores Stelle im Whippet Hotel.
Dann wäre alles zu Ende.
Unten war es still, doch Remi war sich sicher, Mrs Sparks herumschnüffeln zu hören.
»Ich kann Maisfladen riechen«, sagte sie. »Wo steckst du?«
Mrs Sparks zwängte sich in den Entenaufzug und fing an, an die Wände zu hämmern. Ihre Frisur passte kaum hinein und sie musste sich beim Abklopfen der Wände sehr vorsichtig umwenden.
»Ich weiß, dass du da drin bist! Remi!«
Mit ihrem Poltern und Schreien machte sie viel Lärm, doch dann stieß sie an die Decke und spürte, dass die etwas nachgab, und sie wurde still wie ein Standbild.
»Das ist also euer Spielchen«, flüsterte sie, packte den Rand der Klappe und riss sie mit heftigem Ruck auf. Ihre Frisur schob sich langsam durch die Öffnung wie eines jener Fernrohre mit Knick. Ihr Kopf folgte, und sie sah sich wild um, während sie mit den Füßen wie ein Hund auf dem Boden des Entenaufzugs herumscharrte. Sie ließ den Blick hin und her wandern und rümpfte die Nase bei dem Geruch nach Entenfedern und Maisfladen.
In dem Schacht war jedoch niemand zu sehen.
Leo und Remi waren mit den Kisten in den Wartungstunnel entwischt.
Milton wusste, wie besorgt Bernard Frescobaldi werden konnte, wenn etwas Großes bevorstand. Das Hotel würde bald den Besitzer wechseln und der entscheidende Moment war gekommen.
»Gemäß unserem Zeitplan müssen wir morgen zuschlagen«, sagte Milton. »Ist das korrekt?«
Bernard war müde. Der Tag war anstrengend gewesen und er war nicht mehr der Jüngste. Es blieb so wenig Zeit und so viel war noch zu tun.
»Wenn mit Sie-wissen-schon-wem alles nach Plan läuft, dann findet es morgen statt«, sagte Bernard. »Ich habe aber meine Zweifel. Sie sagten, er habe sich noch mal gemeldet?«
»Ja, ja, ganz begeistert«, sagte Milton. »Die Teiche waren eine Katastrophe und die Büroklammern haben beste Dienste geleistet. Dem Vernehmen nach bricht das Whippet zusammen.«
Milton sah, dass diese Nachricht Bernard Frescobaldi nicht tröstete, und er setzte hinzu: »Was bedeutet, dass man das Hotel zu einem Schnäppchenpreis haben kann, wie Sie geplant hatten.«
»Und trotzdem sieht da drüben alles so friedlich aus«, sagte Bernard. Sie hatten auf der anderen Straßenseite geparkt und starrten zu dem schmiedeeisernen Tor hinüber.
»Der Junge und sein Vater sind tüchtig, das muss man ihnen lassen«, sagte Milton. »Aber heute Nacht kommt es besonders dick für sie. Unser Doppelschlag, der sie vielleicht für immer erledigt.«
»Wir werden sehen«, sagte Bernard. Er sah Milton an, der ihm etwas zu optimistisch vorkam. »Dann ist also alles vorbereitet. Morgen machen wir unser Angebot. Ehe uns jemand zuvorkommt.«
Das Whippet schien irgendetwas Ansteckendes zu haben, eine Art Hotelversion der Grippe, so schien es zumindest. Bestimmt lagen noch andere auf der Lauer und warteten auf den perfekten Moment, um ein niedriges Angebot zu machen, es abzureißen und einen Wolkenkratzer auf das unglaubliche Grundstück zu stellen. Das lag ja immerhin in Manhattan. So ein großes Grundstück mit einem so kleinen exklusiven Hotel war für jeden Bauunternehmer, der daran vorbeifuhr, eine Provokation.
Nein, dachte Bernard, es würde nicht mehr lange dauern. Sein Plan war in die Wege geleitet und die Zeit war gekommen. Schon am morgigen Tag würde er sein Angebot machen und damit basta.
Er zog die Akte über Merganzer D. Whippet ein letztes Mal hervor und überflog die vielen Unterlagen auf der Suche nach einem besonders beunruhigenden Eintrag. Er verspürte einen Hauch von Bedauern, als er die privaten Niederschriften eines Mannes las, den er manchmal verstand, manchmal jedoch auch nicht. Ein Verrückter, ein genialer Architekt, ein Wirrkopf mit gebrochenem Herzen. Merganzer D. Whippet war alles Mögliche, aber vor allem – zu dem Schluss war Bernard gekommen – ein guter Mensch, der nur wenig zu bereuen hatte. Ein bisschen traurig manchmal, aber in erster Linie ein glücklicher Mensch.
Milton sah Bernard mit gemischten Gefühlen an. Er kannte Bernard Frescobaldi schon sehr lange. Der Mann war immer gut zu ihm gewesen, wenn auch manchmal anstrengend. Wenn es das war, was Bernard wollte, würde er alles tun, um ihn zu unterstützen und es wahr werden zu lassen.
Milton sah zu, wie Bernard den letzten Brief erneut las, ein Brief, der vor einhundertundzwei Tagen geschrieben worden war, wonach Merganzer D. Whippet aus dem Hotel verschwunden war.
Merganzer D. Whippet: Das Feld
Ich brauchte lange, bis ich verstand, was mein Vater gemeint hatte. Wie sehr hatte ich mich von diesen verhängnisvollen Worten täuschen lassen.
»Du wirst auf dem Feld der verrückten Erfindungen wachsen und gedeihen.«
Ich hatte all seine Gebäude und alle Grundstücke verkauft bis auf eines, ein vergessenes Anwesen auf dem Land. Ich hatte es noch nie gesehen und niemals davon gehört. Ich hatte viele Jahre damit zugebracht, ein Hotel zu bauen, mit einer Menge genialer Erfindungen. Und als mein Werk vollendet war, saß ich auf dem Dach bei den Enten und sah mir die Stadt an, die sich rings um mich erhob.
»Ich muss mir dieses letzte Grundstück ansehen, ehe ich es verkaufe.«
Also machte ich mich auf.
Ich nahm meinen lieben Freund George Powell mit, der sich inzwischen um fast alle meine Angelegenheiten kümmerte. Wir fuhren aus der Stadt und hinaus in die nördlichen Ausläufer des Staates New York, ausgestattet mit nichts als einer Landkarte und einer Ente. (Man sollte immer eine Ente dabeihaben, wenn es möglich ist. Es sind sehr nützliche Wesen.)
Wir erreichten eine entfernte Landstraße, an der Kühe und Ziegen grasten, bis wir über eine Anhöhe kamen und beide das Grundstück in der Ferne liegen sahen. Wir wussten einfach … Bescheid. Es war das Anwesen meines Vaters. Das musste es sein! Eine hohe, geschwungene Steinmauer, die viele Hektar Land umschloss. Und als wir uns dem Tor näherten, wurde mir schwer ums Herz.
Die Mauer war alt und bröckelte an einigen Stellen, sie war überwuchert von Unkraut und Dornen und grünem Efeu. Ich hatte einen Schlüssel, der bei dem Kaufvertrag gelegen hatte, und mit diesem Schlüssel konnte man das hohe, bogenförmige Eisentor aufschließen, das verrostete Angeln hatte.
Wir schritten durch das Tor und mir wurde noch schwerer ums Herz.
Es sah aus wie ein Ort, aus dem einmal etwas hätte werden sollen, was aber nie stattgefunden hatte, ein Ort mit einem besonderen Zweck, an den man oft dachte, den man aber nie in Angriff genommen hatte.
Es gab keine Gebäude, nicht eines. Weder ein Haus noch eine Scheune, noch eine Garage, in der ein reicher Mann an einem ausländischen Sportauto herumbasteln konnte, ohne jemals damit fertig werden zu wollen. Aber überall waren Steinmale aus Marmor, die wie Grabsteine schief und krumm herumstanden.
Auf dem ersten, zu dem wir kamen, stand Folgendes:
»Hier will ich ein Landhaus hinsetzen, in dem meine Frau und mein Sohn spielen können. Und ich spiele mit ihnen – wenn ich mit der Arbeit fertig bin.«
Ein Stück weiter stand der nächste Stein; eine Ecke davon war abgebröckelt.
»Hier kommt das Gewächshaus hin, in dem meine Frau seltene Orchideen züchten kann. Und ich helfe ihr – wenn ich mit der Arbeit fertig bin.«
Und noch andere:
»Hier kommt die Scheune hin, mit Pferden, auf denen mein Sohn reiten kann. Und ich auch – wenn ich mit der Arbeit fertig bin.«
»Der Teich soll an diese Stelle, mit Enten für Merganzer, denn er liebt Enten. Und ich mag sie auch, am liebsten, wenn ich mit der Arbeit fertig bin.«
Und schließlich kamen wir zu dem traurigsten Marmorstein, zu demjenigen, der die Worte meines Vaters durch die Jahre hallen ließ. Hier war das weiteste Gelände vorgesehen:
»Und hier kommt das Feld hin, ein Feld mit Geräten und Schuppen und Tischen aller Art, ein Feld, auf dem wir uns in der Sommersonne die verrücktesten Dinge ausdenken, mein Junge und ich. Auf dem Feld der verrückten Erfindungen wird mein Junge wachsen und gedeihen. Und ich auch. Wenn ich mit der Arbeit fertig bin.«
Ich stand auf dem freien Feld und sah den Wind durch das hohe Unkraut wehen und mein guter Freund George legte den Arm um mich. Wir weinten um das, aus dem nie etwas geworden war und aus dem auch nichts mehr werden sollte.
»Er hatte sein Herz also doch auf dem rechten Fleck«, sagte George.
Es war genau das, was einem der beste Freund sagen würde.
Ich glaube, er hatte Recht.
M.D.W.