Das Geistermahl
Leo zeigte Remi, wie man durch eine Falltür in den Gartenschuppen gelangte. Als Remi die Geheimtür öffnete, war zu seinem Pech Mr Phipps in dem Schuppen und wetzte seine Heckenschere.
»Verirrt?«, fragte der alte Gärtner und strich die Klinge über einen großen Stein auf einer Bank, ohne Remi auch nur anzusehen.
Remi überlegte, ob er abhauen sollte, doch was er eigentlich brauchte, war ein Alibi.
»Ich habe Leo bei etwas geholfen. Er hat mir diesen Weg hinaus gezeigt.«
»Aha«, sagte Mr Phipps. Er hielt die Schere ins Licht und fuhr mit dem Finger an der Schneide entlang. Remi schluckte.
»Sie wissen doch, wie Mrs Sparks sein kann. Sie kann Leo nicht ausstehen. Könnten Sie nicht sagen, dass Sie hier draußen meine Hilfe benötigt haben?«
Jetzt sah Mr Phipps Remi an. Er hatte eine seiner dunklen Augenbrauen hochgezogen. Remi ließ die Schultern hängen.
»Das ist doch erst mein zweiter Tag bei der Arbeit, Mr Phipps. Meine Mutter bringt mich um, wenn ich gefeuert werde.«
Mr Phipps grinste, lachte leise und tief auf und winkte mit der Hand zur Tür.
»Dann mal schnell an deinen Platz – sag Mrs Sparks, dass du mir beim Tragen von Erdsäcken hast helfen müssen.«
»Wow, danke, Mr Phipps! Ich bin Ihnen was schuldig!«
Remi kramte in seiner Tasche und zog den Rest Maisfladen heraus, der zwar schon etwas zerdrückt war, über den sich Mr Phipps aber sehr freute. Remi rannte so schnell er konnte und seine rote Jacke flatterte hinter ihm im Wind. Vor der Hoteltür blieb er stehen, bis er wieder zu Atem gekommen war, dann ging er hinein. Mrs Sparks stand bereits am Empfangstresen.
»Mr Phipps hat Hilfe gebraucht«, stieß Remi hervor. Er war ein schlechter Lügner. »Sie waren eingenickt, ich wollte Sie nicht wecken.«
Mrs Sparks kochte vor Wut, aber was sollte sie sagen? Man hatte sie beim Dösen erwischt.
»Du und der Wartungsjunge, ihr führt doch was im Schilde. Bildet euch bloß nicht ein, dass ich das nicht merke.«
»Er heißt Leo«, sagte Remi.
Mrs Sparks sah mit einem Blick auf Remi herab, der besagte: Natürlich weiß ich, dass er Leo heißt! Aber das ist mir völlig egal!
Zehn Minuten später ließ sie Remi für diesen Abend gehen, nicht ohne ihn zu ermahnen, dass er nicht herumschleichen dürfe. Und kurz darauf stand Remi mit Leo im achten Stock, eine Viertelstunde zu spät für das festliche Abendessen, zu dem man sie eingeladen hatte.
»Bist du so weit?«, fragte Leo, der seinen einzigen Anzug mit Krawatte angezogen hatte und darin einen traurigen Anblick bot, so dass Remi lachen musste.
»Glaub mir, deiner sieht auch nicht viel besser aus«, sagte Leo und machte sich über Remis rot-weißen Zirkusaffen-Anzug lustig.
»Gut gekontert«, sagte Remi, dann setzte er hinzu: »Glaubst du, dass er da drin ist?«
»Du meinst Merganzer?«
»Genau, den Obergeheimniskrämer.«
Leo zuckte die Schultern. Er hoffte, dass es Merganzer war, den sie dort drin antreffen würden. Er hatte sich das festliche Abendessen schon vorgestellt. Die Anwesenden würden Merganzer D. Whippet, Leo, Remi und Betty sein. Zu viert würden sie über alles reden (Betty würde viel quaken): über die geheimen Stockwerke und über alle Rätsel, die das Hotel umgaben.
»Dann mal los«, sagte Leo, nahm den Türklopfer, der aus einem Totenkopf bestand, in die Hand und klopfte dreimal damit an die Tür.
Sie öffnete sich langsam und Remi sah die Düsternis und die Schatten dahinter. Er wollte schon rückwärts Reißaus nehmen, stieß jedoch mit etwas zusammen, so dass er aufschrie. LillyAnn Pompadore war die Treppe heraufgekommen, ziemlich außer Atem. Sie hielt Hainy in einem Arm und fuhr sich mit der anderen Hand über das Haar.
»Oh, wie gut«, sagte sie und ging an Remi vorbei, als würde er gar nicht existieren. »Ich kann es nicht leiden, als Letzte auf eine Party zu kommen, und ich bin schon schrecklich spät dran.«
Ehe Leo und Remi ein Wort sagen konnten, war Mrs Pompadore durch die Tür und schlug sie zu.
»Was macht die denn hier?«, fragte Leo. »Glaubst du, dass man sie tatsächlich eingeladen hat?!«
Remi zuckte die Schultern, trat vor und klopfte erneut.
»Also, wenn sie das schafft, dann schaff ich das auch! Lass uns reingehen und nachsehen, was da los ist.«
Leo war sehr geknickt. Er hatte den Fehler gemacht, sich in die Vorstellung hineinzusteigern, dass er Merganzer treffen würde, aber nun sah es doch aus, als sei die Gästeliste für das Essen alles andere als exklusiv.
Die Tür ging wieder auf und diesmal traten die beiden Jungen in das Spukzimmer ein. Es war das am wenigsten bewohnte Stockwerk des Hotels; um genau zu sein, ging das Gerücht, dass es noch nie vermietet worden sei. Kein einziges Mal. Als die Tür hinter ihnen zuschlug, verstand Remi, warum.
»Es ist so dunkel hier«, flüsterte er. »Und unheimlich.«
Ein Schwarm Fledermäuse – waren sie echt oder mechanisch? – flog zischend über ihre Köpfe hinweg. Die Jungen rannten tiefer in den Raum hinein. Ein dunkelblauer Mond hing in einem wolkigen Himmel und der Schatten eines Werwolfs huschte durch die moosbewachsenen Bäume. Der Schatten (oder das, was ihn auslöste,) knurrte und entblößte die riesigen, dunklen Zähne.
»Ich verstehe, warum diese Suite nicht so beliebt ist«, sagte Remi. Es fehlte nicht viel und er hätte sich an Leo geklammert.
»Denk einfach immer daran, dass alles unecht ist, dann macht es dir nichts aus«, sagte Leo. »Es ist wie so ein Geisterhaus auf dem Rummel. Lass dich drauf ein.«
»Es ist alles unecht, nichts ist echt«, wiederholte Remi immer wieder.
Sie hörten Stimmen, folgten dem Klang und kamen in eine düstere Lichtung mit einem langen Steintisch.
»Das kann doch nicht wahr sein«, flüsterte Leo, denn der Tisch war dicht besetzt mit Menschen. Alle Dauergäste waren da, sogar Theodor Bump und die Yanceys.
»Mom?«, sagte Remi ungläubig.
»Remilio!« Sie strahlte vor Freude beim Anblick ihres Sohnes. Nervös stand sie auf. Sie hatte immer noch ihre Zimmermädchentracht an.
Clarence Fillmore war ebenfalls da. Er saß Remis Mutter gegenüber.
»Was geht denn hier ab?«, fragten Leo und Remi wie aus einem Mund.
»Alle Einladungen waren gleich«, sagte Mr Fillmore und hielt einen Umschlag hoch. Er war nicht winzig wie der, den Leo und Remi bekommen hatten. Er war normal groß. Viele der anderen Gäste hielten ihre Einladung ebenfalls hoch und Leos Vater las seine vor.
»›Party im achten Stock, streng geheim! Kommen Sie um Punkt acht.‹«
»Ehrlich, ich wollte nur mal kurz reinschauen«, sagte Pilar. Sie hatte ein schlechtes Gewissen, dass sie ihrem Sohn nichts gesagt hatte. »Nur so aus Neugier.«
Clarence Fillmore nickte zustimmend, doch die kleine Jane war ganz anderer Ansicht. »Ich weiß überhaupt nicht, warum das Personal kommen darf, vor allem diese beiden.« Sie deutete in die Richtung von Leo und Remi. »Das ist doch ein Hotel, Daddy. Das ist für Gäste.«
Der Kronleuchter über dem Tisch sauste einen halben Meter tiefer und blieb ruckartig stehen, so dass alle Gäste zu schreien und zu lachen anfingen.
Jane Yancey warf Leo einen finsteren Blick zu. »Hallo, Wartungsjunge, die Lampe ist runtergefallen. Mach sie gefälligst wieder heil!«
Eine Eigenart von Jane Yancey wurde Leo und Remi jetzt allmählich klar: Es brauchte viel, um ihr einen Schrecken einzujagen.
Eine vereinzelte Fledermaus flog über den Tisch und zerbarst als Flammenball. Als sich der Rauch verzogen hatte, stand Graf Dracula am Kopf des Tisches. Jane Yancey verdrehte die Augen, als er zu reden anfing.
»Es ist angerichtet.«
Die Angestellten des Restaurants waren schwarz gekleidet – finster dreinblickende Kellner und Serviermädchen – und sie brachten den ersten Gang.
Remi und Leo bemerkten sehr wohl, dass sich Pilar und Mr Fillmore gegenübersaßen und keinen anderen am Tisch beachteten.
»Ich glaube, ich führe Remi mal durch das Spukzimmer«, sagte Leo. »Wir haben keinen Hunger.«
»Aber …«, wandte Remi ein, dem plötzlich eingefallen war, wie wenig er den ganzen Tag gegessen hatte. Er sah Leo an und merkte, dass der keine Lust hatte, an einem langen Steintisch zu sitzen und mit einem Haufen Erwachsener zu reden. Außerdem waren sie ja im Gegensatz zu den anderen aus einem bestimmten Grund da: Sie mussten die Schlüsselkarte für eine Fliegende Farm finden.
Die beiden verzogen sich durch einen dunklen Gang, in dem Glühwürmchen flimmerten, und als sie außer Hörweite waren, erinnerte Leo Remi an Merganzers Worte.
»Du weißt doch, aus der Kiste!«, flüsterte er. »›Wenn alle da sind, fliege los.‹ Das Ganze ist ein Trick, damit wir uns ungesehen im Hotel bewegen können.«
»Er hilft uns!«, sagte Remi etwas zu laut, was das Gegacker einer Hexe tief im Wald auslöste.
»Es sind nicht alle hier«, sagte Leo, der nicht ganz so angetan war wie Remi. »Ich habe weder Mrs Sparks noch Mr Phipps gesehen.«
Remi stieß Leo freundschaftlich an. »Nicht mal Merganzer würde die alte Hexe zu ’ner Party einladen und Mr Phipps geht ungefähr um halb acht ins Bett. Der Kerl schläft wahrscheinlich.«
»Wie auch immer, wir müssen hier raus«, sagte Leo. »Das steht auf der Kiste.«
»Also gut, konzentrieren«, sagte Remi. »Wir haben das hier…«
In dem Moment wurden sie allerdings schon von einer Zombie-Gruppe verfolgt. Zwei weitere tauchten direkt vor ihnen auf.
»Wir sitzen in der Falle!«, schrie Remi.
»Remi, bitte, denk doch dran: Es ist alles unecht.«
Leo ging auf einen der näher kommenden Zombies zu und schubste ihn beiseite, so dass dem Kerl der Arm abfiel. Remi schauderte, doch Leo hob den Arm einfach auf und warf ihn in den Schatten der Bäume. Alle Zombies liefen hinterher.
»Das ist die abartigste Hotelsuite überhaupt«, sagte Remi.
»Das hast du über die letzte auch schon gesagt.«
»Ja, aber diesmal meine ich es wirklich.«
Sie kamen zu einem engen Tunnel, in den sie nur auf Knien hineinkriechen konnten. Schaurige Schmatzgeräusche drangen aus dem Inneren.
»Auf keinen Fall«, sagte Remi. »Kommt nicht in Frage. Was da drin ist, frisst mir sonst noch die Nase ab.«
»Verdammt noch mal, Remi«, sagte Leo, kauerte sich vor die Öffnung und klopfte auf den Boden. »Komm her, hock dich hin. Wir machen mal kurz Pause, dann bist du wieder ganz dabei.«
Remi setzte sich etwas entfernt von der Öffnung neben Leo, und vor seinem Gesicht ließ sich eine Spinne herab, die so groß war wie ein Tennisball. Remi schnappte nach Luft, bis Leo die Spinne wegschlug und sie im Dunkel verschwand.
»Du bist mutiger als ich«, sagte Remi. »Ich weiß nicht, wie du das hinkriegst.«
»Ich war ungefähr hundertmal hier mit Merganzer«, sagte Leo zur Erklärung. »Du kannst mir glauben, es ist alles mechanisch.«
Er warf Remi einen Blick zu. Sein Freund tat ihm leid.
»Als ich das erste Mal hier war, hab ich mir fast in die Hose gemacht.«
»Du willst doch nur, dass es mir besser geht«, sagte Remi.
»Nein, ehrlich. Es war ganz schlimm.«
Remi fing zu lachen an, als die mechanische Spinne bei seinem Bein angekrabbelt kam.
»Hallo, du kleiner Kerl«, sagte er und nahm sie hoch. Die Spinne strampelte mit den Beinen. Jetzt, wo er sie fest im Griff hatte, war die Spinne gar nicht so schlecht. Dass sie eine Art Roboter war, machte ruck, zuck etwas Cooles aus dem ekligen Ding.
»Wo gehst du außer dem Whippet Hotel am liebsten hin?«, fragte Remi. Er berührte die Spinnenbeine. Sie waren kalt.
»In die Stadtbücherei«, sagte Leo ohne das geringste Zögern. Es fiel ihm spontan ein, aber er wurde bei den Worten etwas traurig.
»Du magst Bücher, was?«
Leo seufzte tief und lauschte dem künstlichen Wind, der in den künstlichen Bäumen raschelte.
»Ja, ich mag Bücher. Wir hatten nicht – also, wir haben ja nicht viel Geld. Meine Mutter ist jeden Samstag mit mir in die Bücherei gegangen. Ich glaube, mir haben die Bücher mehr gefallen als ihr.«
Remi wusste, dass Leos Mutter vor einigen Jahren gestorben war; das hatte ihm seine eigene Mutter erzählt. »Heikles Thema«, sagte sie. »Pass auf, was du sagst.«
»Dein Dad geht nicht mit dir hin? Ich meine, du weißt schon, seit …«
Remi hatte das Gefühl, dass er jetzt tief in ein Fettnäpfchen getreten war, aber Leo schien es nichts auszumachen.
»Es fällt ihm schwer, irgendwo hinzugehen, wo wir früher zusammen hingegangen sind. Aber ich glaube, dass er allmählich ein bisschen Abstand bekommt.« Leo sah hinüber in die Richtung des Tisches. Sein Vater unterhielt sich mit Pilar. Leo musste an den Ring denken, den er ihm gegeben hatte. Vielleicht war sein Vater kurz davor, wieder mit dem Leben anzufangen.
»Du hast Glück«, sagte Remi und setzte die große Spinne ab, die sich an sein Bein klammerte. »Du kannst ständig hier im Hotel wohnen.«
Remi traute sich nicht, mehr zu sagen. Er hatte immer befürchtet, dass ihn seine Freunde abfällig ansehen würden, wenn er die Wahrheit sagte.
»Es ist ziemlich gut, das muss ich zugeben«, sagte Leo. »Wo wohnst du? Was macht dein Dad?«
Remi schwieg, und Leo dachte schon daran, in die Höhle zu kriechen und die Sache auf sich beruhen zu lassen.
»Staten Island. Da wohnen wir«, verriet Remi. »Nach der Arbeit nehmen wir die Metro nach Battery Park, dann die Fähre, dann zu Fuß zu einem miesen alten Wohnblock, dann rauf zu einem miesen kleinen Apartment. Einen Dad gibt es nicht.« So, jetzt war es raus.
»Da braucht ihr ganz schön lang bis nach Hause«, sagte Leo, der sich die Strecke vorstellte.
»Anderthalb Stunden hierher, anderthalb Stunden zurück, aber der Job hier ist gut und Mom braucht ihn.«
Leo wollte gerade sagen, dass er mit seinem Vater reden wolle, ob man da vielleicht etwas machen könnte, aber ehe er loslegen konnte, sah er Jane Yancey auf sie zukommen.
»Mutig ist sie ja, das muss man sagen«, flüsterte er. »Die hat vor nichts Angst.«
»Wetten, dass doch?«, fragte Remi und hob die Spinne hoch.
»Das traust du dich nicht.«
Jane Yancey kam an und blieb mit eingestemmten Händen vor ihnen stehen.
»Ich wette, ihr beiden habt zu viel Schiss, um da reinzukriechen«, sagte sie, starrte in die Öffnung und hörte das Geräusch.
»Da hast du Recht«, sagte Remi. »Wir gehen da um keinen Preis rein.«
Jane sah Remi an, als wäre er der jämmerlichste Wicht auf dem Planet Erde, und kauerte sich vor die Öffnung. Sobald sie hineinzukriechen begann, setzte ihr Remi die Spinne auf den Rücken.
Jane kam rücklings zurückgekrochen und stand auf. Sie machte ein ganz komisches Gesicht. Die Spinne krabbelte ihr auf den Kopf und dann vorne hinunter über ihr Gesicht.
Da fing Jane zu schreien an und rannte davon.
»Es gibt wohl doch was, vor dem sie Angst hat«, sagte Leo.
»Los! Nichts wie weg, solange die Luft rein ist.«
Remi ging als Erster los, dann folgte Leo, und ehe es ihnen bewusst wurde, hatten sie die langen, schmatzenden Höhlenschnecken hinter sich und kamen in einen kleinen Raum mit leuchtendem Boden.
»Da«, sagte Leo. »An der Wand.«
»Bist du sicher, dass das klappt?«
»Ich bin mir hier im Whippet niemals über irgendwas sicher, aber auf der Kiste stand klar und deutlich: Schneckenhöhle, Ziege zweimal herumdrehen und drücken.«
An der Wand waren Bildsymbole von fliegenden Tieren, unter anderem eine Ziege mit Flügeln, die viel zu klein waren, um sie abheben zu lassen. Leo bedeckte die Ziege mit der Handfläche, drehte die Hand zweimal und drückte. Die fliegende Ziege wirbelte erst ein Mal, dann ein zweites Mal herum, dann folgte ein määääh von der Decke herab.
»Ist sie das?«, fragte Remi und starrte in die hohe Deckenwölbung der Höhle. »Die Schlüsselkarte für die Fliegende Farm?«
Leo nickte. »Ganz seltenes Exemplar. Und sehr hoch oben.«
Die Schlüsselkarte war aus einem Mauerspalt gekommen und herausgefallen, hatte sich jedoch in einem Spinnennetz hoch über ihnen verfangen. Sie war verziert mit einer schwarz-weiß gefleckten Kuh.
»Lass mich raten«, sagte Remi, »– unechtes Spinnennetz von der unechten Spinne, die Jane Yancey übers Gesicht gekrabbelt ist.«
»Richtig geraten.«
Remi sprang hoch, war aber immer noch fast einen halben Meter weit weg.
»Steig auf meinen Rücken«, sagte er. »Von da kommst du dran.«
Er beugte sich vor und Leo kletterte auf seinen Rücken und stellte sich auf Remis Schultern. Er kam immer noch nicht dran, deshalb sprang er hoch, so dass Remi zu Boden stürzte und einen Purzelbaum machte. Nachdem beide auf dem Boden gelandet waren, setzten sie sich auf und sahen Jane Yancey am Ausgang stehen, die Arme über der sechsjährigen Brust verschränkt.
»Ihr habt mir die Spinne auf den Rücken gesetzt. Ich weiß es! Ich hoffe, ihr habt euch totgelacht, weil ich es nämlich meinem Vater sage, und dann werden eure Eltern alle beide gefeuert. Was haltet ihr davon, Spiderjunge und Dusselkopf?«
Leo musste an sich halten, um Jane Yancey nicht zu fesseln und bei den Schnecken zu lassen, doch er blieb ruhig, sah Remi an und zuckte die Schultern.
»Welcher von uns ist Spiderjunge?«, fragte Remi.
»Vergesst ihn. Ihr seid BEIDE Dusselköpfe!«
Remi kniete sich vor Jane Yancey hin und sah ihr ins Gesicht. »Ich glaube, jemand mit deinen Fähigkeiten könnte nützlich für uns sein. Hast du schon mal rumspioniert?«
Leo traute seinen Ohren nicht. »Du bist ja wirklich ein Dusselkopf.«
Jane, die von Remis Frage fasziniert war, sah Leo an. »Dein Dad ist ein Dusselkopf.«
Leo merkte, dass die ganze Situation allmählich ins Lächerliche abrutschte. Er wollte sich nicht auf das Niveau von Jane Yancey begeben. Statt es ihr heimzuzahlen, sagte er: »Wir sind ziemlich sicher, dass Mrs Sparks eine Doppelagentin ist, die das Hotel an sich bringen, es mit der Abrissbirne einreißen lassen will und stattdessen eine Pelzmantelfabrik baut.«
Das war, mit einem Wort gesagt, genial. In ganz Manhattan gab es keine Sechsjährige, die Pelzmäntel nicht verabscheute, weil sie ja aus kuscheligen Tieren gemacht wurden.
Jane Yancey musterte die beiden Jungen argwöhnisch. Da sie nichts entdecken konnte, was vermuten ließ, dass man sie täuschen wollte, streckte sie die Hand aus.
»Partner.«
Remi schüttelte Jane Yanceys klebrige kleine Hand, dann betraute er sie mit einer Aufgabe.
»Behalte Mrs Sparks im Auge«, sagte er. »Wenn sie uns zu folgen versucht, dann weißt du, dass wir in Gefahr sind, weil wir ja die Guten sind.«
»Klar wie Kloßbrühe«, sagte Leo, »dass wir die Guten sind.«
Jane sah ihn finster an, dann wandte sie sich wieder Remi zu. »Ich bin gut darin, Leuten nachzuschleichen und ihnen ans Schienbein zu treten.«
»Kann ich mir denken«, sagte Leo.
Jane holte aus und trat ihm gegen das Schienbein, was sich so anfühlte, als hätte ihn jemand mit einem Baseballschläger geschlagen.
»Siehste, hab’s doch gesagt.«
Sie lachte Leo aus, der in der Höhle herumsprang, dann kroch sie davon, um Mrs Sparks zu suchen.
Remi lachte Leo auch aus, aber nur ein bisschen.
»Die hast du ab jetzt ständig an der Backe«, sagte Leo und rieb sich das schmerzende Schienbein. »Dagegen war der Tritt gar nichts.«
Remi musste zugeben, dass Leo wahrscheinlich Recht hatte, dann blickte er zur Decke hoch. Da musste doch noch die Schlüsselkarte für die Fliegende Farm hängen.
»Ich hab sie schon«, sagte Leo und hielt Remi die Karte mit dem Kuh-Muster hin. »Lass uns hier abhauen, ehe sie mit einer Waffe zurückkommt. Ich hab das Gefühl, wir haben ein Monster geschaffen.«