Die Fliegende Farm
Leo hatte das Gefühl, eine Ente zu brauchen. Er konnte nicht sagen, warum, abgesehen davon, dass Merganzer immer der Ansicht gewesen war, dass eine Reise mit einer Ente sicherer war als eine Reise ohne. Aber es war doch noch mehr als das. Sie begaben sich in die höheren Ebenen des Whippet Hotels, in denen immer viel überraschendere Dinge geschahen als weiter unten. Und der Raum mit der Fliegenden Farm verunsicherte ihn. Es war ein absolut verwirrender Ort. Er benötigte so viel Unterstützung wie möglich.
Leo führte Remi daher durch den Wartungstunnel in den Entenaufzug und aufs Dach und nahm eine halbe Stunde Verzögerung in Kauf, um Betty zu holen. Sie war nicht glücklich darüber, gestört zu werden, und Leo fand mal wieder, dass diese Ente in letzter Zeit ziemlich schlecht gelaunt war.
Ohne die silberne Schlüsselkarte von Merganzer konnte man die Fliegende Farm nur mit den speziellen Schlüsselkarten mit dem Kuh-Muster betreten. Diese Schlüsselkarten wurden nicht auf die übliche Weise gemacht, deshalb war es schwer, an sie heranzukommen. Mrs Sparks hielt sie in ihrem Zimmer unter Verschluss und sie wurden nur bei besonderen Anlässen ausgegeben. Wenn jemand in der Vergangenheit diese Suite bezogen hatte (äußerst selten), hatte sich Merganzer D. Whippet höchstpersönlich um die Suite gekümmert und dafür gesorgt, dass jedes Detail stimmte. Seit Mr Whippets Verschwinden hatte niemand mehr dort gewohnt, was Leo große Sorgen bereitete.
»Ich war erst ein Mal in dem Zimmer«, sagte er, als er mit seinem Freund und der Ente vor der Tür stand. »Es ist ein bisschen … wild zugegangen. Ich wage kaum, mir vorzustellen, in welchem Zustand es jetzt ist. Es war schon lange niemand mehr drin.«
»Schlimmer als das Spukzimmer kann es doch nicht sein«, sagte Remi. »Da hab ich ’ne Gänsehaut gekriegt.«
Leo trat einen Augenblick zurück und sah sich gut um. So weit waren sie gekommen! Sie befanden sich im neunten Stock. Darüber lag das Dach, und zwischen dem neunten Stock und dem Dach gab es möglicherweise einen zehnten Stock, den niemand außer Merganzer je gesehen hatte, nicht einmal die Wartungsleute.
»Wir haben uns jetzt bis ganz nach oben durchgearbeitet«, stellte Leo fest.
»Ich habe gerade das Gleiche gedacht«, sagte Remi. »Neun Stockwerke. Dazu die geheimen Stockwerke – wie viele gibt es davon?«
Leo zählte im Kopf nach: der Raum der Ringe, die Eisenbahnsuite und der geheime Raum, den sie noch nicht gefunden hatten. »Ich komm auf dreizehn, wenn man das Untergeschoss mitrechnet.«
»Nicht gerade eine Glückszahl«, sagte Remi. »Vielleicht gibt es ja noch ein weiteres geheimes Stockwerk.«
»Oder noch hundert weitere.«
Leo hatte das im Scherz gesagt, aber als er es aussprach, schien es ihm sogar möglich. Vielleicht gab es mehr Räume, als sie sich beide vorstellen konnten.
Betty quakte und schnappte nach Leos Hosenbein.
»Mit deiner Ente stimmt was nicht«, bemerkte Remi. »Bist du sicher, dass wir sie mitnehmen sollen?«
»Ganz sicher«, sagte Leo. »Lass uns reingehen, ehe uns jemand findet.«
Er schob die Schlüsselkarte in den Schlitz. Sie verschwand, die Tür machte määääh und eine neue Schlüsselkarte kam heraus. Sie war grau und mit einem Ziegenkopf und einem Text bedruckt:
Kommt nur herein, wir haben schon auf euch gewartet.
Leo fand, dass die Botschaft etwas unheimlich klang.
»Das ist seltsam«, sagte Remi, aber er machte sich bereit, der Aufforderung zu folgen. Leo nahm die graue Karte und steckte sie in die Tasche seiner Anzugjacke, die er immer noch anhatte. Ihm wäre es lieber gewesen, er hätte im Keller Halt machen und seinen Overall wieder anziehen können. Der Anzug zwickte und war unbequem, außerdem waren natürlich seine Werkzeuge nicht darin, die er so gerne dabeihatte. Werkzeuge waren in unvorhersehbaren Situationen irgendwie tröstlich, fand er.
Die Tür sprang auf, und sie schlüpften hinein, überwältigt von dem, was vor ihnen lag. Es wäre allerdings klug gewesen, wenn sie besser aufgepasst hätten, als die Tür langsam zuging, denn sie fiel nicht ganz ins Schloss. Jemand war im Flur und hielt die Tür mit der Stiefelspitze einen Spalt offen.
Kaum hatten sie die Fliegende Farm betreten, da warf sich Remi auf den Boden, der leuchtend grün und weich wie Gras war.
»Wow! Aufgepasst!«, rief er, aber da Leo schon einmal in den Räumen gewesen war, wusste er schon über einiges Bescheid. Betty watschelte ohne die beiden los. Offensichtlich suchte sie nach einem Teich oder einer Packung Pumpernickel.
»War das ein fliegendes Schwein oder bin ich jetzt ganz verrückt?«, fragte Remi.
»Denk dran, auch hier ist nichts echt.«
»Hat für mich aber ziemlich echt ausgesehen. Das Schwein hat mich fast umgeworfen.«
Remi stand wieder auf und beide Jungen sahen durch den langen Raum. Die Decke war nur drei Meter hoch, aber sie sah einem blauen Himmel mit weißen Wölkchen täuschend ähnlich.
Doch schon warf sich Remi wieder auf den Rasen und wich einer Herde herbeistürmender Schafe aus, die plötzlich aus dem Himmel stoben. Es waren elf Tiere, die in V-Formation daherkamen, noch schneller als das Schwein. Remi war sich ziemlich sicher, sie lachen gehört zu haben, als sie wie elf Kampfflieger im Schafspelz vorbeisausten.
»Diese fliegenden Haustiere treiben es ja wild!«, schrie er. Doch Leo stand immer noch da und sah zu einer umzäunten Stelle am Ende des Raumes. Er schien die fliegenden Schweine und Schafe nicht zu beachten, ja, nicht mal den Stier, der direkt auf sie zukam und aus dessen Maul Funken sprühten.
»Äh, Leo? Bitte sag mir, dass du mehr weißt als ich. Andernfalls rammt uns gleich ein tonnenschwerer, Feuer speiender Bulle in den Boden!«
Remi duckte sich, und der Bulle landete einen Meter neben ihm und war tatsächlich kurz davor, sie beide niederzurennen.
»War nett, dich kennengelernt zu haben, Leo, sag meiner Mom, dass ich sie liebe, und gib Jane Yancey an meiner Stelle einen Tritt vors Schienbein.«
Leo war versucht, den Spuk noch ein bisschen andauern zu lassen, aber sie hatten ja etwas zu tun. Mit den Tieren zu spielen musste warten.
»Alles da oben – der Himmel, die fliegenden Tiere – das ist alles unecht, denk dran!«, sagte er.
»Selbst wenn es ein mechanischer und ferngesteuerter Roboter ist, ist er doch immer noch ein unechter Roboter-BULLE!«, sagte Remi, schlug die Augen wieder auf und drehte sich nach dem riesigen Tier um, das nur Zentimeter von seinem Gesicht entfernt war.
»Du kannst ihn streicheln, wenn du willst«, sagte Leo. »Er tut dir nichts.«
Doch der Stier sah so echt aus – wie alles andere –, dass Remi sich nicht überwinden konnte, sondern zusammengekrümmt liegen blieb.
»Verdammt noch mal«, sagte Leo, trat auf den Stier zu und griff nach seinem Feuer speienden Maul.
»Nein! Mach’s nicht, Leo! Er versengt dir den Arm!«
»Schau her«, sagte Leo, und Remi linste zwischen den Fingern durch, die er über die Augen gelegt hatte. Als Leo die Hand ausstreckte, griff sie durch den Kopf des Stiers ins Leere. Er ging um das Tier herum und schwenkte den Arm durch seinen Körper, dann schlug er ihm aufs Hinterteil. Der Stier bäumte sich auf und krachte auf Remi herunter.
»Das ist ein Hologramm«, sagte Leo. »Alles, was am Himmel ist – und der Himmel selbst –, sind Hologramme.«
Remi streckte die Hand durch die Flammen, die aus der Nase des Bullen schossen.
»Ich bin der glücklichste Junge in New York«, sagte Remi und fuhr mit der Hand durch die Beine des Stiers. Er stand auf und fing an, das Tier zu necken, nur so, zum Vergnügen.
»Wir haben eigentlich keine Zeit, um jetzt mit den Tieren zu spielen«, sagte Leo. »Wir müssen das Geheimzimmer finden. Und ich glaube, ich weiß auch, wie.«
Leo und Remi durchschritten die Fliegende Farm mit ihren sanften Hügeln aus Kunstrasen, den Lattenzäunen und den Tausenden von Tieren, die herumflogen oder in der Gegend standen. Betty quakte eine Schar von sechs Ziegen an. Sie flogen um eine Scheune (die das Schlafzimmer der Suite war) und Leo rief nach ihr. Er machte sich Gedanken über den Zaun und die Kuhherde und warum sich die geflügelten Kühe wohl nicht bewegten.
»Lass mich mal die neue Schlüsselkarte sehen«, sagte Remi, während er zusah, wie die Ziegen auf der Scheune landeten und die Schindel auf dem Dach anknabberten. Leo gab ihm die Karte und bat ihn, jetzt möglichst ganz leise zu sein. Sie näherten sich der Herde schlafender Kühe, deren Flügel sanft schlugen.
»Aber Kühe schlafen doch bei Tag nicht«, sagte Remi. Er war zwar noch nie im Leben auf einer echten Farm gewesen, doch selbst er wusste, dass Kühe nur nachts schliefen und ziemlich schreckhaft waren.
Leo zuckte die Schultern. »Vielleicht schlafen fliegende Kühe tags und fliegen nachts herum. Woher soll ich das wissen?«
Remi untersuchte die Schlüsselkarte mit dem Ziegenkopf etwas genauer und bemerkte, dass am Rand ein Knopf war, ähnlich wie bei einem Handy. Er drückte auf den Knopf und aus der Schlüsselkarte wurde ein Touchscreen.
»Leo, das musst du sehen«, sagte er. Beide Jungen beugten sich über den kleinen Bildschirm, auf dem der Grundriss der Suite erschien. Außerdem war da eine einzelne Ziege, die auf dem Dach der Scheune saß.
»Glaubst du …?«, fragte Remi, legte den Finger auf den Bildschirm und schob die Ziege vom Dach weg auf das grüne Gras. Die beiden Jungen sahen hinüber zu der richtigen Scheune und sahen, dass eine Ziege herumflog, je nachdem, wohin Remi sie mit dem Finger auf dem Bildschirm schob.
»Das muss die gesuchte Ziege sein«, sagte Leo und dachte an die Worte auf dem Deckel der letzten Kiste:
Eine fliegende Ziege gibt dir Kraft.
»Sie heißt Merle«, sagte Remi, der die Ziege herangezoomt hatte und sah, dass sie ein Namensschild um den Hals trug.
»Willkommen bei unserem Abenteuer, Merle«, flüsterte Leo. »Sei mucksmäuschenstill.«
Merle machte leise määääh.
»Pschschscht«, sagte Leo, als sie sich dem Gatter der Weide näherten. »Wir müssen sie umkippen.«
Remi wusste, dass es nicht recht war, echte, lebendige Kühe umzukippen – sie hatten große Mühe, wieder aufzustehen, was das Umkippen zu einem bösen Scherz machte. Aber virtuelle Kühe umzukippen, das klang doch lustig, und Remi hoffte, dass eine holografische Kuh genauso schön umkippen würde wie eine richtige. Sie ließen Betty und Merle hinter sich, hofften, dass die beiden nicht zu viel quaken und meckern würden, und schlichen sich auf die Weide. Die Kühe standen alle mit gesenkten Köpfen und geschlossenen Augen da und atmeten langsam.
»Bereit?«, flüsterte Leo.
Remi steckte die Ziegenkarte in seine rote Jacke und nickte.
Mit den Fingern gab Leo das Zeichen: Eins … zwei … drei!
Sie schubsten die größte Kuh um, und obwohl ihre Hände direkt durch sie hindurchgingen, fiel die Kuh dennoch mit einem lauten Plumps auf die Seite. Sofort fingen ihre Flügel wild zu schlagen an und weckten die anderen fünf Kühe. Völlig verwirrt flogen sie durcheinander und stießen sich gegenseitig immer wieder an, bis die Kuh, die von den Jungen umgeworfen worden war, an die Decke stieß. Ein vertrautes Bild erschien. »Ich hätte niemals geglaubt, dass der Himmel ein Loch kriegen kann«, sagte Remi, aber genau so sah es aus. Eine Leiter schoss herab bis auf den Kunstrasen der Weide und das Loch im Himmel stand erwartungsvoll offen.
Die Kühe flogen lärmend in Richtung Eingangstür und Leo rannte zum Gatter zurück.
»Ich hole Betty. Bring du Merle so schnell durch das Loch, wie du kannst.«
Remi hatte Merle im Nu durch die Öffnung außer Sicht geschoben, aber Betty machte Leo Schwierigkeiten. Es sah ihr gar nicht ähnlich, vor ihm davonzulaufen, aber er musste ihr doch tatsächlich um die Scheune hinterherjagen, da hörte er plötzlich ein erschreckendes Geräusch.
Jemand schob eine Schlüsselkarte in den Schlitz der Tür.
»Remi, komm runter!«, schrie Leo. Er schnappte sich Betty und suchte Deckung in der Scheune. Als er um die Ecke linste, sah er, wie sich die Bienenkorbfrisur ins Zimmer beugte.
Mrs Sparks hatte sie gefunden.
»Ich weiß, dass ihr hier seid«, sagte sie höhnisch. »Es riecht nämlich nach Maisfladen.«
Remi, der sich auf der Kuhweide versteckte, schnupperte umher und fragte sich, ob das sein konnte. Er hatte seinen Maisfladen doch Mr Phipps geschenkt. Allerdings hatte er ihn ziemlich lang mit sich herumgetragen.
Leo hielt Betty den Schnabel zu, und sie zuckte mit dem Hals, der ziemlich kräftig war, hin und her.
»Ich zähle auf drei«, sagte Mrs Sparks und verscheuchte ein lästiges Schwein, das versuchte, in ihrem Haar zu landen. Genau wie Leo wusste auch sie, dass die Tiere der Fliegenden Farm nicht echt waren. »Ich kann die Fliegende Farm nicht ausstehen«, murmelte sie vor sich hin, dann fing sie zu zählen an.
»EINS!« Sie kam einige Schritte ins Zimmer.
»ZWEI!« Mit ein paar weiteren Schritten näherte sie sich der Scheune.
Gerade wollte sie »DREI!« sagen, da konnte Betty ihren Schnabel endlich aus Leos Hand ziehen und quakte ihm ins Gesicht, und zwar laut.
»Abhauen!«, schrie Leo und Remi stand auf und rannte wie der Blitz auf die Leiter zu.
»BLEIBT AUF DER STELLE STEHEN!«, kreischte Mrs Sparks und trat auf einen holografischen Kuhfladen, der so groß war wie eine Frisbee-Scheibe.
Leo rannte aus der Scheune. Betty hatte er wie einen Fußball unter den Arm geklemmt. Mrs Sparks wollte gerade die Verfolgung aufnehmen, aber dazu kam es nicht.
Plötzlich tauchte nämlich Jane Yancey vor ihr auf, eine Hand in die Hüfte gestemmt, die andere hinter dem Rücken versteckt.
»Auf frischer Tat ertappt!«, stellte das kleine reiche Mädchen fest. Mrs Sparks wusste nicht so recht, wie sie reagieren sollte. Der Vater des Mädchens war schließlich ein Milliardär.
»Sie halten sich diese ganzen exotischen Tiere hier oben, damit Sie an Ihren Pelz kommen!«, schrie Jane Yancey. Sie trat Mrs Sparks ans Schienbein, dann zog sie die Riesenspinne hinter dem Rücken hervor und warf sie in die Bienenkorbfrisur. Mrs Sparks, die von dem vorausgegangenen Abendessen nichts wusste und sich tödlich vor Spinnen fürchtete, warf den Kopf wie wild hin und her. Die Herde der fliegenden Schafe umkreiste den Bienenkorb. Der Bulle stürmte los.
Das Zimmer der Fliegenden Farm war ein einziges Durcheinander.
»Das wird Ihnen eine Lehre sein!«, sagte Jane Yancey. »Ich sag meinem Dad, dass Sie hier in diesem Hotel heimlich eine Pelzzucht betreiben!« Sie marschierte aus dem Zimmer und schlug die Tür hinter sich zu.
Mrs Sparks rannte ihr nach, verfolgt von einer Menagerie fliegender Tiere und einer künstlichen Spinne, die in ihrem aufgetürmten Haar festsaß.
Als sie sich ein letztes Mal umdrehte, waren Leo und Remi verschwunden.
Es war, als seien sie nie da gewesen.