Gefeuert!
Leo ließ Remi im oberen Teil des Hotels zurück und schlich sich mit der Kiste nach unten in den Keller. Sie hatten verabredet, dass Remi den Lockvogel spielen sollte, um Mrs Sparks abzulenken, falls sie auftauchte. Die alte Bienenkorbschachtel war die letzte Person, die so eine wertvolle Kiste in die Finger kriegen sollte.
Auf Leos Weg nach unten erlosch das Leuchten der Kiste langsam und sie wurde dunkel. Die Nacht war gekommen für die Geisterorchidee. Als Leo die Kellertür öffnete, sah er auf der Kellerwand den Widerschein von blinkenden Lichtern.
»O nein, schon wieder Ärger«, sagte er vor sich hin. »Wenigstens ist die Sirene nicht losgegangen.«
Als er die Treppe hinunterschlich und um die Ecke linste, sah er zu seiner Erleichterung, dass sein Vater nicht da war. Nicht so gut war allerdings, in welchem Zustand sich die Schaltzentrale befand. Daisy hatte eine verschlungene Papierrolle ausgespuckt, die kilometerlang aussah … und sie spuckte immer weiter. Das Band aus dem Ticker, auf dem die kaputten Sachen im Hotel aufgelistet waren, wurde immer länger und alle Lämpchen der Schaltzentrale blinkten. So wild in Betrieb hatte Leo die Schaltzentrale noch nie erlebt, ja, hinter der Schaltwand dampfte es sogar. Es sah aus, als könnte das ganze Ding jederzeit explodieren.
Aber warum war die Sirene nicht an? Leo untersuchte die Schaltzentrale etwas genauer und sah, dass jemand – wahrscheinlich sein Vater – alle Leitungen der Sirene gekappt hatte. Sie hingen aus der Wand und sprühten Funken.
»Der ständige Lärm ist ihm wohl auf die Nerven gegangen«, murmelte Leo, diesmal an die Orchidee gewandt, die in der Kiste versteckt war. »Nur gut. Ich weiß, dass dir Lärm nicht bekommt.«
Die Orchidee war empfindlich. Sie blühte den ganzen Sommer lang, aber nur, wenn die Bedingungen stimmten. Zu viel Geklapper oder ein Sturm – all so was und die Blüte schloss sich und blühte womöglich nie mehr auf.
»Ich sollte dich lieber in Sicherheit bringen«, sagte Leo und stieg auf dem Weg zu seiner Pritsche über Berge von Tickerrollen.
Er schob die Kiste unter sein Bett und betrachtete die drei anderen Kisten, die sich dort angesammelt hatten: erst die violette Kiste, dann die blaue, dann die grüne und jetzt noch die weiße. Vier Kisten.
Er rückte sie gerade zurecht, da ging die Kellertür auf. Leo stand auf und lehnte sich so beiläufig wie möglich an die Waschmaschine. Er erwartete, seinen Vater zu sehen, der zurückgehetzt kam, um Werkzeug für diese und jene Reparatur zu holen, doch als er aufsah, war es Mrs Sparks. Sie hatte Remi am Ohr gepackt, der hinter ihr die Treppe hinuntersprang und Leo zurief, er solle abhauen.
»Halt den Mund, Maisfladen!«
Leo warf einen Blick auf das kleine Fenster über seiner Pritsche und überlegte, ob er wohl da durchklettern und zum Tor rennen könnte. So sehr erschreckte ihn der Blick von Mrs Sparks.
»Wenn du weißt, was gut für dich ist, dann kommst du ins Puzzle-Zimmer«, sagte sie. Leo konnte ihren eiskalten Atemhauch fast spüren. »UND ZWAR SOFORT!«
Leo befürchtete schon voller Entsetzen, dass die dröhnende Stimme von Mrs Sparks die Geisterorchidee umbrachte, ehe er sie seinem Vater geben konnte. Die Vorstellung war so schlimm, dass er zur Tür rannte, vorbei an Mrs Sparks, die ihm einen Klaps auf den Hinterkopf gab.
Er blickte sich um und merkte, dass Mrs Sparks sich im Untergeschoss umsah und ohne Aufforderung weiter eintrat. Dabei zerrte sie Remi hinter sich her. Vor der Schaltzentrale blieb sie stehen.
»Kommen Sie nicht auch?«, fragte Leo von der Treppe herab.
»Ich gehe, wann es mir passt, und keinen Augenblick eher«, sagte Mrs Sparks und ließ den Blick über den Heizkessel, die Regale mit Schachteln, die Waschmaschine gleiten. Und über die Pritschen.
»Ich geh dann schon mal«, sagte Leo und versuchte, sie abzulenken. »Ich warte im Puzzle-Zimmer, wie Sie gesagt haben.«
»Nimm deinen Freund mit«, sagte Mrs Sparks und ließ Remi mit einer Drehung der Hand los, als wolle sie ihm das Ohr abreißen.
»Nur damit Sie es wissen«, sagte Remi, »das hat echt wehgetan.«
»RAUS!«, kreischte sie und Leos Verzweiflung wuchs erneut. Welche seltene und schöne Blume konnte es mit Mrs Sparks’ schriller Stimme im selben Raum aushalten?
Keiner der Jungen sagte etwas, als sie durch die Lobby ins Puzzle-Zimmer gingen. Sie hatten keine Ahnung, was sie dort erwartete. Leo hatte nur Angst, dass Mrs Sparks die vier Kisten fand, was bedeuten würde, dass sie von den geheimen Zimmern erfuhr. Was dann? Was würde sie machen? Er war sicher, dass sie hinter den ganzen Unfällen im Hotel steckte, dass sie es gewesen war, die er bei dem schwarzen Auto am Tor gesehen hatte, wie sie mit einem zwielichtigen Spekulanten den Untergang des Hotels plante. Sie trieb den Preis des Hotels nach unten und sicherte sich einen Anteil. Oder, noch schlimmer, sie würde das Whippet mit Hilfe von außen an sich reißen. Eine absolute, totale Katastrophe war da im Gang. Aber selbst diese düsteren Gedanken bereiteten Leo nicht auf das vor, was ihn im Puzzle-Zimmer erwartete.
»Ihr zwei seid langsam wie die Schnecken!«, schrie Mrs Sparks, die ihnen heimlich gefolgt war und sie jetzt voranschubste.
»Da, setzt euch«, sagte sie und deutete auf die zwei einzigen leeren Stühle im Raum.
Leos Vater saß ebenfalls im Zimmer, neben Remis Mutter und Mr Phipps. Die gesamte Belegschaft des Hotels war versammelt: das Zimmermädchen, der Gärtner, der Hausmeister. Und Mrs Sparks, die Hotelmanagerin, die am Ausrasten war.
»Soviel ich gehört habe, hat heute Abend eine Party stattgefunden«, begann sie und tippte mit ihren Fingernägeln auf den langen Tisch, auf dem das Puzzle lag. »Was mich erstaunt, denn ich war nicht eingeladen. Keiner wird gerne von einer Party ausgeschlossen, meinen Sie nicht auch, Mr Phipps?«
Das sagte sie mit anklagendem Unterton, als ob sie wusste, dass auch er nicht bei der Party gewesen war.
»Ich weiß nichts von einer Party«, sagte der so ruhig und gefasst, wie es seine Art war. »Sie mussten mich doch gerade für dieses Treffen aufwecken, schon vergessen?«
»Ruhe!«, rief Mrs Sparks und deutete mit dem Finger auf ihn. »Sind Sie nach dem Aufwachen mal durch die Gartenanlagen gegangen? Wahrscheinlich nicht. Wenn Sie durchgehen, dann finden Sie nämlich heraus, dass Sie jemand zum Narren gehalten hat!«
»Ich weiß nicht, wovon Sie reden.«
Mrs Sparks wusste, wie gerne Mr Phipps sich mit dem Puzzle beschäftigte, so sinnlos das auch war, und dass er es besonders liebte, die Einzelteile in Stößen aufzustapeln, die gleich groß waren. Sie fuhr mit der Hand über einen der säuberlich aufgetürmten Stapel und fegte die Teile durchs Zimmer.
»Das ist aber gemein«, sagte Remi etwas zu laut. Mrs Sparks sah ihn finster an.
»Zu dir komme ich noch früh genug«, sagte sie und wandte sich wieder dem Gärtner zu, der sich weigerte, sie anzusehen.
»Was Sie bemerken werden«, fuhr Mrs Sparks fort, »ist, dass sich jemand mit der Gartenschere an Ihren geliebten Büschen zu schaffen gemacht hat.«
»Aber das ist ja unmöglich«, sagte Mr Phipps, obwohl er sichtlich erschrocken war. »Ich hätte doch gehört –«
»Ahhhh, Sie hätten es gehört, wenn Sie nicht auf einer Party gewesen wären.«
»Aber ich war auf keiner Party!«, sagte Mr Phipps. Er wollte am liebsten sofort aufstehen und sich seinen Garten ansehen, aber so leicht ließ ihn Mrs Sparks nicht aus den Fängen. Leo und Remi warfen sich einen Blick zu – Mr Phipps war ja wirklich nicht bei der Party gewesen, zumindest hatten sie ihn dort nicht gesehen.
»Irgendjemand hat Ihre ganzen modellierten Büsche zerschnitten – die Enten, die Kaninchen – alle.«
»Was?!«, rief Mr Phipps aus. »Aber das ist – also, das ist –« Er fand keine Worte. Er hatte Jahre damit zugebracht, die Büsche in Form zu schneiden, und er liebte den Garten des Whippet. Das war ja wohl das Grausamste, was man einem Gärtner antun konnte.
Mrs Sparks schien voller Genugtuung, dass sie Mr Phipps zum Schweigen gebracht hatte, daher machte sie weiter und deutete mit ihrem langen Finger auf Remis Mutter.
»Und Sie, verantwortlich dafür, dass das Haus sauber und aufgeräumt bleibt. Was machen Sie auf einer Party, wo man Sie doch dafür bezahlt, die Zimmer zu putzen?«
»Ich … also …« Pilar sah Mr Fillmore an, doch der konnte ihr auch nicht zu Hilfe kommen. »Ich war mit dem Zimmerputzen schon fertig und –«
»Sparen Sie sich Ihre Ausreden!«, sagte Mrs Sparks. »Wenn Sie sich um das Hotel gekümmert hätten, statt die Nacht zu durchtanzen, müssten wir uns jetzt vielleicht nicht um einen Diebstahl kümmern!«
»Um was?«, fragte Leos Vater. Zum ersten Mal, seit sie im Raum waren, sagte er etwas. In den fünf Jahren, seit er als Hausmeister da war, hatte es niemals irgendeinen Diebstahl gegeben. Das klang schlimm. Sehr schlimm. Immer wurde so etwas den Zimmermädchen in die Schuhe geschoben.
»Ein Diebstahl«, wiederholte Mrs Sparks, als würde sie zu einem Zimmer voller Schulkinder sprechen. »Jemand hat das Brillantcollier von Mrs Yancey gestohlen.«
Pilar zog erschrocken die Luft ein, denn sie hatte die Halskette im Kuchenzimmer gesehen, wo sie ganz offen auf einem schwarzen Stück Samt im Schlafzimmer gelegen hatte. Sie hatte die pinkfarbenen Muffinsessel abgestaubt und da lag sie.
»Ich sehe an Ihrem Gesicht, dass Sie das Collier, von dem ich spreche, kennen«, sagte Mrs Sparks und beugte sich auf die zitternde Pilar zu. Unwillkürlich stellte Remi fest, dass die Spinne fort war. Oh, wie sehr wünschte er, sie jetzt wieder zu haben! Was würde er geben, wenn er sie Mrs Sparks in diesem Moment in die Hose stopfen könnte!
»Dieses Brillantcollier«, sagte Mrs Sparks, »ist mehr wert als alles, was Sie alle zusammen bis an Ihr Lebensende verdienen können. Mrs Yancey ist überzeugt, dass einer von Ihnen es gestohlen hat. Ich auch.«
»Das ist ja klar«, sagte Clarence Fillmore. »Wem sonst sollte sie es in die Schuhe schieben?«
»Nicht dem verwöhnten Gör, das sie hat, das steht mal fest«, sagte Leo. Das trug ihm diesmal einen bösen Blick von Mrs Sparks ein.
»Ruhe alle miteinander!«, rief sie und richtete ihre Aufmerksamkeit auf Pilar. »Ich habe den Inhalt Ihres Putzwagens begutachtet, und ich glaube, Sie wissen, was ich da gefunden habe.«
Langsam zog Mrs Sparks das Brillantcollier aus ihrer Tasche.
»Ich glaube Ihnen nicht«, sagte Clarence Fillmore. »Keiner von uns glaubt Ihnen.«
Doch Mrs Sparks wandte sich schon dem nächsten Opfer zu, froh darüber, dass Clarence ins Rampenlicht getreten war. Sie steckte das Halsband wieder in die Tasche.
»Und nun zu Ihnen, Mr Fillmore; Sie mit Ihren Utensilien und dem Gürtel und dem Blaumann. Sie sehen zwar aus wie ein Wartungstechniker. Was ich nicht begreife, ist, dass Sie sich nicht so verhalten.«
»Wir können nichts dafür, wenn jemand das Hotel sabotiert«, sagte Leo. »Die Sachen gehen schneller kaputt, als wir sie heil machen können, das wissen Sie genau.«
»Ich weiß nur, dass Sie bei der Party waren, und währenddessen ist das Hotel vor die Hunde gegangen. Ich konnte das Technikerteam nicht finden, daher machte ich mich auf die Suche. Und wissen Sie, was ich fand?«
»O-oh«, sagte Remi.
»Ja, in der Tat o-oh, Remilio. Ich habe euch gefunden.«
Mrs Sparks deutete sowohl auf Remi als auch auf Leo.
»Ihr wart wohl auch nicht auf der Party, was?«
»Doch, wir waren tatsächlich dort«, wandte Leo ein, »wir sind nur kurz weggegangen.«
»Ach wirklich? Ihr wisst, dass das nicht stimmt. Ihr wart eine ganze Weile verschwunden. Lang genug, um eine Menge neuer Probleme zu verursachen, stimmt’s? Also, mal ehrlich. Wer wüsste besser als du, Leo Fillmore, wie man in diesem Hotel die Sachen durcheinanderbringt?«
Leo und Remi und Mr Fillmore legten alle Protest ein, aber Mrs Sparks hatte die lauteste Stimme von ihnen allen und brachte sie zum Schweigen. »Ich sehe das so: Ich glaube, Sie stecken alle unter einer Decke. Ich glaube, das ist alles sehr klug ausgedacht. Und soll ich Ihnen noch was sagen?«
Alle saßen stumm da, denn sie wussten, was kommen würde. Sie war die Hotelchefin. Sie konnte es in Abwesenheit von Mr Whippet tun, wenn sie wollte. Wenn er jemals zurückkehrte, konnte sie immer behaupten, sie hätten einen Gast bestohlen. Sie hatte schon immer gewusst, wie sie von Merganzer D. Whippet bekam, was sie wollte.
»Jetzt kommt’s«, flüsterte Remi. »War nett, dich kennenzulernen.«
»Sie sind alle, und zwar jeder einzelne von Ihnen«, begann Mrs Sparks, holte tief Luft und machte eine effektvolle Pause: »GEFEUERT!«
Mr Phipps schien das nicht das Mindeste auszumachen, und kaum hatte sie das Wort herausgeschleudert, verließ er den Raum, um den Schaden zu untersuchen, der in dem Garten angerichtet worden war, in den er so viel Arbeit gesteckt hatte. Ihm lag das Whippet sehr am Herzen. Wenn er tatsächlich gehen musste, würde der Park nie wieder so sein wie bisher.
Pilar sah Leos Vater an, und Leo hatte das Gefühl, dass sich da etwas hätte entwickeln können, wenn sie nur mehr Zeit füreinander gehabt hätten. Er wusste nicht recht, ob ihm das gefiel oder nicht, aber mehr als alles andere wollte er, dass sein Vater wieder glücklich wurde. Er hatte schon gehofft, dass sie beide endlich so weit waren, das Leben wieder in Angriff zu nehmen.
»Danke für alles«, sagte Remi und zog Leo zur Seite, wo sie ein letztes Mal reden konnten, ohne dass jemand zuhörte. »Es war der schönste Tag meines Lebens und das sage ich nicht einfach so. Wenn du Blop findest, grüß ihn von mir.«
Die beiden Jungen hätten auf verschiedenen Planeten leben können. Staten Island und Manhattan waren Welten voneinander getrennt.
»Ich weiß nicht, was ich sagen soll«, sagte Leo. »Ich hab das Gefühl, dass wir so nah dran waren an … etwas. Wir wissen nur nicht, was es ist.«
»Du hast morgen früh eine Verabredung mit dem Schicksal, denk dran. Wer weiß, vielleicht hast du ja doch noch Glück.«
Das hatte Leo in dem ganzen Durcheinander total vergessen: Morgen früh um sechs, Entenaufzug. Das war nicht viel, aber besser als nichts.
Remi ging zu seiner Mutter zurück und Mrs Sparks scheuchte sie durch die Lobby und zur Eingangstür hinaus. Hinter der Tür blieben sie stehen und starrten durch die Scheibe zurück. Die Tür wurde verschlossen, und die beiden machten sich auf, um zur Metro zu gehen.
»Ich weiß, dass du die Halskette nicht genommen hast, Mom«, sagte Remi.
»Ich weiß, dass du das nicht glaubst«, sagte Pilar und legte den Arm um ihn.
Schweigend gingen sie weiter und träumten beide vor sich hin, was alles hätte werden können.
Mrs Sparks war im Nu zurück im Puzzle-Zimmer und gab dem Hausmeister und seinem Sohn letzte Anweisungen.
»Packen Sie morgen früh Ihre Sachen«, befahl sie. »Am Nachmittag stelle ich ein neues Team ein. Genießen Sie die letzte Nacht im Whippet.«
Sie klopfte auf ihre Tasche und ging auf die Treppe zu. »Ich kann jetzt jemandem eine frohe Botschaft überbringen, meinen Sie nicht auch?«
Und damit verschwand sie. Leo sah sich im Zimmer um und bemerkte plötzlich etwas Schreckliches. Nicht nur Mrs Sparks war fort.
Alle waren fort.
Leo und sein Vater gingen zum Untergeschoss, vielleicht zum letzten Mal.
»Wir sind wohl tatsächlich am Ende angelangt«, sagte Clarence Fillmore. »Ich hatte gehofft, dass wir ihn wiedersehen würden, aber ich glaube, es ist wirklich wahr.«
»Was ist wahr?«
Leos großer, ungelenker Vater holte tief Luft und stieß die Tür zum Keller auf. »Merganzer D. Whippet kommt nicht zurück.«
Bernard Frescobaldi saß wartend in seiner schwarzen Limousine, als Pilar und Remi das kleine Fußgängertörchen aufschlossen und auf den breiten, leeren Bürgersteig traten. Er bemerkte, wie unglücklich sie aussahen, machte aber keine Anstalten, ihnen zu helfen, während sie sich auf den langen Weg nach Staten Island machten.
Milton, der vorne im Wagen saß, lächelte vielsagend.
»Das läuft ja besser, als ich gehofft hatte«, sagte Bernard und zog die Hutkrempe sicherheitshalber tiefer über die Augen. Hinter den getönten Scheiben hätten Pilar und Remi ihn sowieso nicht gesehen, aber Bernard war ein außergewöhnlich geheimnistuerischer Mann. Er ging kein Risiko ein, vor allem, wo die Belohnung, für die er so hart gearbeitet hatte, in Reichweite war.
Zwanzig Minuten später blickte Bernard, immer noch im Wagen, auf seine sehr teure Armbanduhr.
»Was dauert denn da so lange?«, fragte er. »Ich war sicher, dass sich das Tor inzwischen öffnen würde.«
Es verstrichen fünf weitere Minuten, in denen Milton seinen reichen Boss beruhigte, dann ging das Tor zur Einfahrt auf. Jemand hatte es von innen geöffnet und ließ die schwarze Limousine herein.
»Es wird Zeit, sich auf das Treffen vorzubereiten«, sagte Bernard Frescobaldi. »Morgen wird das Whippet Hotel endlich den neuen Besitzer bekommen, den es verdient.«
Die Schaltzentrale im Keller hatte einen riesigen Hauptanschluss, dessen Stecker größer war als ein Basketball und an dem ein zehn Zentimeter breites Kabel hing. Leo musste seinem Vater helfen, ihn aus der Wand zu ziehen, doch als sie es geschafft hatten, hörte Daisy auf, Tickerstreifen zu drucken. Zum ersten Mal an diesem Tag war der Haifisch still. Alle Lämpchen an dem Brett waren ausgegangen und ganz kurz stellte sich Leo das Whippet Hotel so vor, wie es einmal gewesen war: voller Gelächter und guter Laune, Geheimnisse und Intrigen und ganz ohne einen Gedanken an die Welt da draußen.
Fillmore senior und junior zogen ihre Schlafanzüge an und putzten sich die Zähne. Ihre Bewegungen waren langsam, denn sie genossen jeden bittersüßen Augenblick in dem behaglichen Keller, der ganz schön lange ihr Zuhause gewesen war.
»Mom hätte an so einem Abend wie heute gerne eine Blume gehabt«, sagte Leo und ging das Risiko ein, aus einem schlimmen Abend auch noch einen traurigen zu machen. Aber bei allem, was schiefgelaufen war, hatte er das Gefühl, dass sich etwas verändert hatte. »Denkst du an sie?«, fragte Leo, als sie sich beide auf ihre Pritschen legten, zwischen sich die stumme, kalte Waschmaschine.
Mr Fillmore stand wieder auf, sah sich im Zimmer um, dann packte er den Rand seiner Pritsche und zog das alte Gestell von der Wand weg. Danach packte er das von Leo und zog auch sein Bett von der Wand weg. Er legte sich wieder hin und rollte sich auf die Seite, so dass er das Gesicht seines Jungen sehen konnte.
»Das hätte ich schon vor Jahren machen sollen«, sagte er.
»Na ja, eigentlich überdeckt die Waschmaschine dein Schnarchen, vor allem wenn sie läuft.«
»Leo, hör mir jetzt mal zu. Alles wird wieder gut und das alles ist nicht deine Schuld.«
Leo hielt die Tränen zurück, denn er war ziemlich sicher, dass es doch seine Schuld war.
»Und ja, ich denke die ganze Zeit an Mom. Ich hoffe, du auch.«
»Ja, Dad.«
Es folgte ein langes Schweigen, und Leo glaubte, eine Träne aus dem Auge seines Vaters rinnen zu sehen, aber es war dunkel und er war sich nicht sicher.
»Ich glaube, sie hätte es hier gemocht«, sagte sein Vater. »Aber was wichtiger ist: Ich glaube, sie hätte sich gewünscht, dass wir weiterleben. Was meinst du?«
»Das glaube ich auch, Dad.«
Mr Fillmore nahm den Ring an der Kette zwischen die Finger und rieb ihn wie einen Glücksbringer. Es war ihm schwergefallen, sich zu verzeihen, dass er ihn bei dem Umzug ins Whippet verloren hatte.
»Es war schlimm für mich, den Ring deiner Mutter zu verlieren. Das weißt du auch, nicht?«
»Natürlich weiß ich das«, sagte Leo. »Das ist eben passiert, außerdem ist er ja jetzt wieder da.«
Clarence Fillmore lächelte. »Irgendwas ist jetzt anders. Sie fehlt mir noch immer, aber ich bin nicht mehr so traurig.«
Leo beugte sich aus dem Bett und zog die weiße Kiste aus ihrem Versteck. Er zog den Deckel auf und weißes Licht füllte den Raum. Die Geisterorchidee erblühte zum Leben.
»Die habe ich für dich gefunden«, sagte Leo. »Ich hatte schon befürchtet, dass sie von Mrs Sparks’ Geschrei womöglich eingegangen ist, aber anscheinend doch nicht.«
Jetzt konnten die beiden nicht mehr anders; da ja Hausmeister bekanntermaßen rührselige Menschen sind, ließen sie beide ein paar Tränen kullern.
»Neuanfang morgen?«, fragte Mr Fillmore, und in seiner Stimme schwang alles mit, was der Augenblick erforderte: Traurigkeit über das, was verloren war, Besorgnis in Bezug auf die Zukunft, aber vor allem etwas Neues – die Bereitschaft, wieder mit dem Leben zu beginnen.
»Neuanfang morgen«, sagte Leo und ließ sich wieder auf sein Bett sinken.
Sie beobachteten die Orchidee eine Weile, dann glitt Leo in den Schlaf und Mr Fillmore schloss die weiße Kiste und trug sie leise aus dem Keller.
Er kannte einen gewissen Gärtner, der eine Geisterorchidee jetzt dringender benötigte als er selbst.