Kapitel 15

Das dreizehnte Stockwerk

Der Weckruf auf Leos Armbanduhr ging um halb sechs los, was aber nicht von Bedeutung war. Er war beim ersten Lichtschimmer des Tages erwacht und hatte eine Nachricht an seinem Bettpfosten vorgefunden.

Ich dachte, Mr Phipps würde es guttun, einen Blick auf die Geisterorchidee zu werfen. Hoffe, du hast nichts dagegen. Dad

Die Kiste war fort, und kurz befürchtete Leo, dass er sie für etwas benötigen würde. Aber abgesehen davon hatte er nicht vor, die Blume zurückzufordern. Mr Phipps würde wissen, wie sie gepflegt werden musste, und Leos Vater hatte Recht: Sie war das perfekte Geschenk für den vertriebenen Gärtner, dessen Reich man verunstaltet hatte.

Leo stellte den Weckruf ab und begab sich zum Entenaufzug. Er wusste, dass er erst um sechs Uhr dort sein musste, wie die Botschaft besagte, aber es gab keinen Grund zu warten. Er könnte womöglich von der einen oder anderen Aufgabe abgelenkt werden, oder Mrs Sparks konnte versuchen, sie aus dem Gebäude zu jagen, sobald sie sie sah. Das Beste war, sich im Entenaufzug zu verstecken und darauf zu achten, dass er die Verabredung nicht doch noch verpasste. Eine Verabredung, da war er sicher, die ihm kein zweites Mal angeboten werden würde.

Um 5:47 Uhr hörte Leo Mrs Sparks in die Lobby kommen und ein paar Schlüsselkarten machen. Wofür, wusste er nicht, und es war ihm auch egal. Dann folgte eine Weile Schweigen, und dann, um Punkt sechs, bewegte sich der Entenaufzug. Leo verstellte weder den Hebel, noch drückte er auf den Knopf für das Dach. Und beides hätte den Entenaufzug auch nicht so in Bewegung versetzt wie jetzt. Nein, das war etwas Neues. Der Entenaufzug bewegte sich seitwärts, nicht hinauf oder hinunter. Er bewegte sich an der Lobby entlang unter dem großen Treppenaufgang durch, den Leo so oft erklommen hatte.

Der Entenaufzug blieb stehen und ein Teil der hinteren Wand glitt langsam nach unten und enthüllte vier Knöpfe und eine beschlagene Glasscheibe.

»Na denn«, sagte Leo.

Der Finger tauchte wieder auf und schrieb eine Botschaft auf das kalte, beschlagene Glas.

Diese Knöpfe darf man nur ein Mal drücken. Falscher Knopfdruck auf eigene Gefahr.

Leo war fast verzückt, als er die Botschaft las, denn nun wusste er, dass seine Reise mit Remi ihnen genau das Wissen vermittelt hatte, das er jetzt unbedingt brauchte. Die Reihenfolge, in der man den violetten, den blauen, den grünen und den weißen Knopf drücken musste, konnte man nur kennen, wenn man die passenden vier Kisten hatte. Leo hatte die Kisten ja in einer bestimmten Reihenfolge bekommen. Er wusste also, welchen Knopf er zuerst drücken musste.

Violett.

Der Aufzug fuhr sofort an, wieder seitwärts, diesmal allerdings in eine andere Richtung.

Leo drückte den nächsten Knopf.

Blau.

Der Aufzug fuhr weiter, dann kam er ruckelnd zum Stehen.

Grün wurde gedrückt und wieder bewegte sich der Aufzug.

»Nur noch ein Knopf«, sagte Leo. Wenn doch nur Remi bei ihm wäre oder wenigstens Betty, Blop oder Merle, die fliegende Ziege. Plötzlich kam er sich sehr allein auf der Welt vor, als sein Finger über dem weißen Knopf schwebte.

Und dann drückte er ihn.

Der Entenaufzug fing zu kreiseln an, dann schoss er hinauf durch das Whippet Hotel, so schnell, wie die Doppelhelix jemals hochgeschossen war. Leo stemmte die Hände gegen die niedere Decke und stützte sich ab. Entweder der Entenaufzug hielt gleich an oder sie würden durch das Dach in die Luft schießen.

Der Entenaufzug hielt an, fast so abrupt, wie er losgefahren war.

Über den vier Knöpfen erschien eine 13 und eine Glocke schlug an.

»Aber es gibt gar kein dreizehntes Stockwerk«, sagte Leo. Kaum hatte er das ausgesprochen, wusste er auch schon, dass es immer dreizehn Stockwerke gegeben hatte. Er war nur noch nie in eines der geheimen Stockwerke eingeladen worden und schon gar nicht in das allergeheimste ganz oben.

Leo atmete tief durch, um sich zu beruhigen, drückte die Tür des Entenaufzugs auf und kroch hinaus in die Suite.

Er stand auf, sagte aber nichts. Über sich sah er den Grund des Teichs, der, wie er jetzt feststellte, aus Glas war. Er konnte die Entenfüße paddeln und die Fische schwimmen sehen. Licht strömte durch den Teich herein und erfüllte den dreizehnten Stock mit einem träumerischen goldenen Schein. Überall waren Bücher, auf Tischen und in endlosen Regalen, die sich in alle Richtungen zogen. Es gab lange, bequeme Sofas und dick gepolsterte Sessel. Es gab große Sitzsäcke, einige in Schweinchenrosa und andere schwarz-weiß wie Kühe. Bunte Ringe aller Größen schwebten unter der Decke, gehalten von einer unbekannten magnetischen Kraft; und fliegende holografische Farmtiere schwebten hoch und tief vorüber. Aber vor allem gab es Bücher. Unmengen von Büchern.

»Das ist die Bibliothek«, hörte Leo sich sagen, denn es handelte sich tatsächlich um die Whippet-Bibliothek, in die Merganzer kam, um zu denken, zu denken und noch einmal zu denken.

Ein absolut geräuschloser Eisenbahnzug zog seine Kreise durch den großen Raum. Es saß jemand darin, den Leo sofort erkannte. Er war schwarz gekleidet, was nicht seine normale Ausstattung war, aber er war es, da bestand kein Zweifel.

»Willkommen im dreizehnten Stock«, sagte der Mann. »Ich hoffe, er gefällt dir auch so gut wie mir.«

»Mr Phipps?«, fragte Leo, denn es war kein anderer als der Gärtner.

»Danke für die Geisterorchidee. Ich hatte gehofft, dass du sie mir überlässt.«

»Gerne«, sagte Leo, weil ihm nichts anderes einfiel.

»Und nun muss ich dir etwas ziemlich Wichtiges übergeben, etwas, das in meiner Obhut zurückgelassen wurde.«

Leo war so verwirrt und erstaunt, dass er nichts weiter tat, als in der Bibliothek zu stehen und den Gärtner anzuglotzen, unfähig, etwas zu sagen.

Mr Phipps zog ein Lederetui aus seiner schwarzen Jacke und öffnete es. Er zog eine silberne Kette heraus und am Ende der Silberkette hing die einzige silberne Schlüsselkarte des Whippet Hotels.

»Ist das …?«, begann Leo, doch er konnte nicht zu Ende reden.

»Merganzer D. Whippets Silberkarte? Die, mit der man jede Tür aufschließen kann, sogar die vielen Geheimtüren? Ja, das ist sie.«

»Warum haben Sie die Karte?«, fragte Leo.

Mr Phipps zog ein gefaltetes Stück Papier aus demselben Ledermäppchen und hielt es zusammen mit der Schlüsselkarte in einer Hand.

»Du liebst das Whippet Hotel doch, nicht wahr, Leo?«

»Aber sicher.«

»Dann nimm die silberne Schlüsselkarte.«

Leo griff danach, nicht so sicher, was es bedeutete, die Schlüsselkarte zu haben, doch dann nahm er sie mitsamt dem Papier.

»Häng dir die silberne Schlüsselkarte um den Hals und stecke das Papier in die Tasche«, wies ihn Mr Phipps an.

Leo hängte sich die Karte um den Hals und schob das Papier in die vordere Tasche seines Wartungsoveralls.

»Was ist das für ein Stück Papier?«, fragte er.

»Na, die Besitzurkunde für das Whippet Hotel natürlich. Wie würdest du sonst an die silberne Schlüsselkarte kommen?«

»Die was

Mr Phipps sah Leo in die Augen und lächelte. »Leo Fillmore, dir gehört das Whippet Hotel. Zumindest zurzeit.«

Leo hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Konnte das denn wahr sein? Nein, eigentlich nicht. Irgendwas stimmte nicht.

»Wer hat Ihnen erlaubt, mir das Whippet Hotel zu übergeben? Das kann doch nur Merganzer tun und der ist verschwunden.«

Was er als Nächstes sagte, tat ihm sehr leid, denn er mochte Mr Phipps wirklich.

»Haben Sie die silberne Schlüsselkarte von Mr Whippet gestohlen?«

Mr Phipps war ein geduldiger Mann, aber es gab Dinge zu erledigen und nur wenig Zeit dafür.

»Steig ein – wir müssen an einen bestimmten Ort.«

Leo wusste nicht, ob er Mr Phipps trauen konnte, aber wie es schien, verfolgte er einen bestimmten Plan. Und schließlich kannte Leo keinen anderen Weg aus der Whippet-Bibliothek. Er stieg in den Eisenbahnwagen, setzte sich und stellte dem Gärtner erneut eine Frage.

»Sind Sie der geheimnisvolle MR M.? Sie sind Remi und mir also die ganze Zeit gefolgt und haben uns mit Ihrem Finger halb zu Tode erschreckt!«

»Geholfen habe ich euch. Und ich habe Hauptmann Rickenbacker ein bisschen unterhalten, was keine leichte Aufgabe ist, kann ich dir sagen.«

»Aber wieso?«

Mr Phipps antwortete nicht, denn die Bahn folgte einer Spur, die sich höher und höher hinaufwand, bis er sich ducken musste, um nicht an die Decke zu stoßen. Oder doch nicht? War die Decke auch nur ein Hologramm? Es schien so, denn sie fuhren einfach hindurch und landeten auf der anderen Seite an einem geheimen Bahnhof.

»Du musst jetzt aussteigen«, sagte Mr Phipps.

Leo stieg aus und stand auf einem verlassenen Bahnsteig. Von dort führte eine Treppe hinauf in die Dunkelheit.

»Da hinauf, du findest den Weg schon«, sagte Mr Phipps. »Er ist schlau, pass also auf, was du sagst. Viel Glück.«

Der Zug fuhr an und verschwand wieder nach unten in die Whippet-Bibliothek und Leo war allein.

»Wenn doch nur Remi hier wäre«, sagte er und stieg die Stufen hinauf, bis er mit der Hand an eine Decke stieß. Er drückte und Licht strömte herein. Wenn Leo die Welt von der anderen Seite hätte sehen können, hätte er zugesehen, wie ein quadratisches Grasstück auf dem Dach aufgeklappt wurde und ein Junge herausspähte.

»Hier herüber, aber etwas zackig. Du willst Mr Frescobaldi doch nicht warten lassen.«

»Welchen Mister?«, fragte Leo. Er trat auf das Dach und ließ die Falltür hinter sich wieder zuknallen. Ein kleiner Mann stand vor ihm, den er noch nie gesehen hatte.

»Komm, komm«, sagte der Mann und winkte Leo weiter. »Hier entlang. Er wartet auf dich.«

Leo sah die Enten im Teich. Betty fehlte allerdings. Er überlegte, ob er dreimal kurz pfeifen sollte, um sie herzurufen, aber was würde es nützen, eine Ente an seiner Seite zu haben?

»Ich geh nirgendshin, bis Sie mir sagen, wer Sie sind«, sagte Leo.

Der Mann zögerte und schien zu erwägen, ihm eine Lüge aufzutischen.

»Mein Name ist Milton. Zufrieden? Nun komm schnell. Das geht alles vorbei wie der Wind.«

In einer entfernten Ecke des Dachs, auf der anderen Seite des Teichs, hatte es immer eine Baumgruppe gegeben. Zwischen den Bäumen stand eine Steinbank und auf der Bank saß Bernard Frescobaldi. Er trug einen langen grauen Mantel, dessen Kragen hochgeschlagen war, eine schwarze Sonnenbrille und einen weichen Filzhut. Er ließ den Blick über die Stadt schweifen.

»Wer sind Sie und wie sind Sie hier heraufgekommen?«, fragte Leo. Er wusste nicht, wer diese Leute waren, aber die Vorstellung gefiel ihm nicht, dass zwei komplett fremde Männer auf dem Dach des Whippet standen. Der Mann in dem langen grauen Mantel wandte sich nicht um, winkte jedoch mit der Hand und Milton trat näher. Leo sah, wie sie sich etwas zuflüsterten, dann kam Milton mit der Botschaft zu Leo.

»Soviel wir wissen, hast du die silberne Schlüsselkarte und die Besitzurkunde des Hotels und wir haben dir ein Angebot zu machen.«

Leo war sofort in höchster Alarmbereitschaft und überlegte ernsthaft, nach Betty zu pfeifen oder zu der Falltür zu rennen. Mr Phipps war ein Verräter und wahrscheinlich beteiligt an dem Abkommen zwischen Mrs Sparks und diesen beiden Unbekannten.

»Du gibst uns die silberne Schlüsselkarte und die Urkunde«, fuhr Milton fort. Er hüstelte, als ob das Nächste, was er sagen wollte, schmerzen würde. »Und wir geben dir fünfzig Millionen Dollar.«

Leo fiel die Kinnlade herunter. Fünfzig Millionen Dollar? Er hatte keine Ahnung, wie viel das Whippet wert war, aber fünfzig Millionen würden bedeuten … eine Menge. Sein Vater würde nie mehr arbeiten müssen. Er könnte Pilar und Remi ein richtiges Haus kaufen. Er könnte auf die Universität gehen. Andrerseits, wenn ihm das Whippet wirklich gehörte, war er dann nicht verpflichtet, es vor der Abrissbirne zu schützen und, noch wichtiger, vor der schrecklichen Mrs Sparks?

Leo sah, wie der Mann in dem langen grauen Mantel Milton wieder etwas zuflüsterte.

»Es fällt sowieso auseinander«, fuhr Milton fort. »Und du weißt nicht, wie man ein Hotel leitet. Wir bieten dir fünfzig Millionen Dollar, aber das ist unser letztes Wort.«

Leo wusste natürlich nicht, dass das Grundstück, auf dem das Whippet stand, abgesehen von den ungezählten Schätzen im Gebäude, mindestens zehnmal so viel wert war. Aber die Wahrheit war, dass ihm das egal war. Für keinen noch so hohen Betrag war Leo bereit, das Whippet aufzugeben. Das hatte er schon entschieden. Er gehörte hierher. Er wollte bleiben.

»Sie stehen auf dem Dach meines Hotels, und ich will, dass Sie gehen«, sagte er. »Alle beide. Ich liebe dieses Haus und Sie können es nicht kaufen.«

Milton war wie vor den Kopf geschlagen und der Mann in dem grauen Mantel erhob sich abrupt. Er drehte sich immer noch nicht herum, und Leo hatte allmählich die Nase voll von diesem Typ, wer er auch sein mochte. Er stieß drei kurze Pfiffe aus, in der Hoffnung, von der Ente Hilfe zu bekommen, und da fing Milton zu lächeln an.

»Ich hab Ihnen doch gesagt, dass das passieren würde. Ich hab’s gewusst!«

Leo stieß noch mal drei Pfiffe aus, und diesmal hörte er Betty quaken, wenn sie auch nicht auftauchen wollte.

»Wenn Sie meiner Ente irgendwas getan haben, gibt es großen Ärger«, sagte er.

»Betty ist beschäftigt«, sagte der Mann in dem langen grauen Mantel.

»Was haben Sie gesagt?«, fragte Leo, nicht, weil er nichts gehört hatte, sondern gerade deswegen. Er kannte diese Stimme.

»Sie hat Eier gelegt und kriegt Küken!«, rief der Mann in dem langen grauen Mantel. Er riss sich den Hut vom Kopf, so dass ein wilder Haarschopf zu sehen war, der sich einfach nicht um den Kopf legte, egal, wie oft er ihn kämmte. Er drehte sich um – und es war gar nicht Bernard Frescobaldi, denn es gab gar keinen Bernard Frescobaldi. Es war Merganzer D. Whippet, von Kopf bis Fuß.

»Merganzer?«, stieß Leo hervor. Erst lächelte er, dann lachte er und rannte los und umarmte seinen alten Freund.

»Der Unvergleichliche! Ich, ich und kein anderer! Und hast du das Neueste gehört? Betty bekommt BABYS!«

Das war typisch Merganzer, sich so über eine Ente zu freuen, doch Leo musste zugeben, dass der Zeitpunkt nicht hätte besser sein können. In letzter Zeit war ja viel von Müttern die Rede gewesen.

Merganzer packte Leo bei der Hand und zog ihn den Weg durch die Bäume entlang, dann setzte er sich und klatschte in die Hände. »Siehst du, da hat sie ihr Nest gebaut.«

Kein Wunder, dass Betty die ganze Woche so launisch gewesen war, dachte Leo.

»Sechs Eier«, sagte George Powell, denn Milton hieß gar nicht Milton, er war George, Merganzers ältester und bester Freund.

»Leo, das ist George. Wir müssen über eine Menge reden.«

»Kommt mir auch so vor«, sagte Leo, der immer noch nichts von alldem glauben konnte.

Merganzer redete und redete, was man ja von ihm kannte, daher war es schwierig, auch mal zu Wort zu kommen. Doch Leo versuchte sein Bestes.

»Erst einmal:«, sagte Merganzer, »du hast bestanden. Bestanden, bestanden, bestanden! Ich hatte meine Zweifel, ehrlich. Frag George, er kann es bestätigen. Ich dachte, du würdest aufgeben. Aber du hast alles, was ich dir zugemutet habe, angenommen und hast weitergemacht. Selbst diese letzte Aufgabe, die ich dir einfach stellen musste. Auch die hast du bestanden.«

Leo verstand nicht ganz, daher versuchte George, es ihm zu erklären, während Merganzer ging, um Betty zu gratulieren.

»Ich habe mich immer vom Hotel ferngehalten, mit Absicht, denn Merganzer wusste, dass dieser Tag wohl kommen würde, der Tag, an dem er das Whippet verlassen müsste, um sich anderen, dringenderen Aufgaben zu widmen. Ich muss sagen, dass ich auch meine Zweifel hatte, aber nun, nachdem ich gesehen habe, wie du dich auf die Aufgaben gestürzt hast, sind diese Zweifel gänzlich verflogen. Es war eine Sache, die Kisten zu finden und so viel Widerstände zu überwinden; das haben wir dir schon zugetraut. Aber zu so viel Geld Nein zu sagen, das ihr wirklich hättet brauchen können! Tja, das war das Entscheidende. Aus dem Grund mussten wir das tun, was wir getan haben.«

»Aber ich versteh das immer noch nicht«, sagte Leo und wandte sich wieder Merganzer zu. »Das kann doch nicht dein Ernst sein. Du kannst mir doch das Whippet Hotel nicht wirklich übergeben wollen.«

»Da liegst du ganz falsch, Leo«, erwiderte Merganzer. »Ich möchte dir das Hotel wirklich übergeben. Ich kann es nicht behalten; zu viel zu tun, zu viele Reisen vor mir. Du bist der einzige Kandidat für das Whippet.«

»Aber was ist mit Mr Phipps oder meinem Vater oder Mrs Sparks?«

Leo konnte selbst nicht ganz glauben, dass er ihren Namen ausgesprochen hatte, aber sie war ja immerhin die Managerin des Hotels, auch wenn sie Merganzer schon lange hinters Licht geführt hatte.

»Leo, hör mir zu«, sagte Merganzer. »Du bist der Einzige. Keiner sonst kommt in Frage. Verstehst du das nicht?«

Nein, das verstand Leo nicht. Es ging einfach nicht.

Merganzer zog einen langen silbernen Füller aus der Manteltasche und streckte die Hand nach der Besitzurkunde für das Whippet Hotel aus. Leo gab sie ihm.

»Wir haben eine Menge gemeinsam, wir beide«, sagte Merganzer. »Beide haben wir unsere Mütter zu früh verloren. Beide wollen wir sie nicht vergessen. Aber es kommt der Tag, an dem man weitermachen muss.«

Merganzer D. Whippet unterschrieb die Urkunde und gab sie Leo zurück, dabei zwinkerte er George zu.

»Und wir beide waren der Ansicht, dass ein guter Freund helfen kann, uns durch schlimme Zeiten zu bringen. Stimmt das nicht, George?«

»Das ist nur zu wahr.«

»Remi«, sagte Leo. Er dachte an seinen neuen Freund, stellte sich vor, was Remi jetzt durchmachte. Seine Mutter hatte keine Arbeit mehr und sein Vater war verschwunden. Vielleicht konnten sie nicht mal die Miete zahlen.

»Du hast jetzt die silberne Schlüsselkarte, Leo, und das bedeutet, dass du alle Türen öffnen kannst. Nicht nur die Türen in diesem Hotel, sondern alle Türen, die dir in deinem restlichen Leben begegnen.«

Leo sah die silberne Schlüsselkarte in seiner Hand an.

»Und bist du da, um mir zu helfen?«, fragte er. »Es ist eine überwältigende Aufgabe.«

»Du wirst mich ab und an zu Gesicht bekommen. Und George auch. Vergiss nicht – du hast viele Helfer, wenn du weißt, wo du suchen musst.«

Leo ließ sich das durch den Kopf gehen, und plötzlich konnte er es kaum erwarten, alle Probleme anzupacken, die das Hotel heimsuchten.

»Es muss eine Menge in Ordnung gebracht werden im Hotel«, sagte er.

»Da wir gerade davon reden, wir haben einige Aufgaben zu erledigen.«

Merganzer stand auf, zog eine Trillerpfeife aus der Tasche und blies zweimal hinein.

»Was für Aufgaben?«, fragte Leo und rannte hinter ihm her.

»Hausputz.«

Als sich Leo vorstellte, was Merganzer D. Whippet mit dieser Bemerkung meinte, lief ihm ein erregtes Kribbeln durch den Körper.