Alles löst sich in Wohlgefallen auf
Wenn es etwas gab, das Leo von Merganzer D. Whippet mit Sicherheit behaupten konnte, dann war es das: Der Kerl wusste, wie man einen Auftritt hinlegte. Das Ganze fing schon oben im siebten Stock an, wo er sich wieder den Filzhut und die Sonnenbrille aufsetzte. Er klopfte an alle Türen, und jedes Mal wandte er sich ab und schlug den Mantelkragen hoch, so dass man sein Gesicht nicht sehen konnte.
»Ist es schon so weit?«, fragte einer der Gäste. »Ich nehme an, alles ist nach Plan gelaufen?«
»Ja, alles genau, wie wir es geplant hatten«, sagte George, den der Gast allerdings nur als Milton, Bernard Frescobaldis Chauffeur, kannte. »Wir versammeln uns in der Lobby, ja?«
»Ich freue mich darauf, unsere Geschäfte zum Abschluss zu bringen, Mr Frescobaldi«, sagte der Gast, doch Bernard war schon weiter, die Treppen hinunter, bis er jeden einzelnen Gast in die Lobby gerufen hatte. Er hatte Leo aufgetragen, seinen Vater zu holen, und die beiden Wartungstechniker standen am Ende der breiten Treppe, als Merganzer D. Whippet, gut verkleidet als Bernard Frescobaldi, die Stufen herunterkam.
Mrs Sparks sah ihn als Erste.
»Wer um Himmels willen ist das?«, fragte sie mit einem Blick auf den geheimnisvollen Mann in dem langen grauen Mantel, während sie gleichzeitig ein Auge auf die Eingangstür hatte. Sie schien zu überlegen, ob sie davonlaufen sollte oder nicht, wenn auch nicht klar war, warum. Etwas an dem Mann kam ihr bekannt vor.
Merganzer kam am Fuß der Treppe an, und gleichzeitig trafen die Gäste ein, einige mit dem Hauptaufzug, andere über die Treppe, alle in gespannter Erwartung.
»Ich will Sie nur wissen lassen, dass morgens meine beste Schreibzeit ist«, sagte Theodor Bump. »Sie haben mich jetzt möglicherweise fünftausend Wörter gekostet. Ich hoffe also, dass das hier von Bedeutung ist.«
Hauptmann Rickenbacker war kein Morgenmensch, und als er eintraf, hatte er seinen roten Umhang in die Hose gesteckt. »Hat schon jemand Kaffee gemacht?«, war alles, was er sagte.
Die Yanceys drückten sich in ihren abgestimmten schwarzen Seidenschlafanzügen zusammen und waren völlig durcheinander.
LillyAnn Pompadore setzte Hainy auf den Boden, wo er sofort zu pinkeln anfing.
»Pilar!«, schrie Mrs Sparks, und erst, als sie ihre eigene Stimme hörte, fiel ihr ein, dass sie das Zimmermädchen ja am Abend zuvor gefeuert hatte. Sie sah sich um und ihr Blick fiel auf Leo. »Du da, wisch mal auf.«
»Ja, Ma’am«, sagte Leo. Er hatte für den Fall der Fälle immer eine Sprühdose mit Teppichschaum und Lappen in seiner Werkzeugtasche.
»Sagt uns eigentlich mal jemand, warum wir hier sind?«, fragte Mr Yancey. »Wenn nicht, dann gehe ich nämlich in mein Zimmer zurück. Ich möchte lieber sichergehen, dass nichts gestohlen wird.«
Das war ein Vorwurf, den Leo gar nicht gerne hörte, vor allem nicht von einem zahlenden Gast in dem Hotel, das jetzt ihm gehörte.
Merganzer hatte bisher nichts gesagt und in der dunkelsten Ecke der Lobby gesessen, doch jetzt schnippte er mit den Fingern. Sein bester Freund kam die Treppe herunter.
»George Powell?«, sagte Mrs Sparks. »Was machen Sie denn hier?«
Mrs Sparks war beunruhigt, denn Mr Powell kam niemals ins Hotel. Sie hatte ihn bisher immer nur in seiner Privatkanzlei sieben Blocks weiter gesehen, und selbst das nicht sehr oft.
»Wer ist George Powell? Meinen Sie den da?«, fragte LillyAnn Pompadore und deutete auf den kleinen Mann, der am Ende der Treppe ankam. »Das ist Milton, nicht George.«
Mrs Sparks schöpfte Verdacht und warf erneut einen Blick zur Tür, während sie hinter dem Empfangstresen hervorkam.
»Was hat das zu bedeuten, George?«, wollte sie wissen.
»Ich glaube, das lasse ich besser ihn erzählen«, sagte George und deutete auf Merganzer. Als er das tat, warf Merganzer seine Verkleidung ab, und alle zogen verblüfft die Luft ein, denn sie wussten sofort, wer er war.
»Ich entschuldige mich, dass ich Sie alle so früh nach unten geholt habe, aber es war leider unvermeidlich«, begann Merganzer ohne das geringste Zögern. Mrs Sparks war völlig sprachlos, während George Powell die Hoteltür aufschloss und Mr Phipps hereinließ, der wieder ganz wie der Gärtner aussah.
»Ich bin nur für kurze Zeit hier und muss dann wieder gehen, diesmal für immer«, sagte Merganzer. »Ich will nur ein paar Dinge zu Ende bringen, dann bin ich fort.«
»Aber Sie sind doch gar nicht Mr Whippet«, sagte LillyAnn Pompadore. »Sie sind Bernard Frescobaldi. Und er ist Milton, Ihr Chauffeur.«
»Ich fürchte, das ist nicht so«, sagte Merganzer und sah alle Langzeitgäste an. Er ging auf Theodor Bump zu, der seit zwei Jahren im Hotel wohnte. Merganzer hatte Theodor Bump als Bernard Frescobaldi mehrmals aufgesucht und ihm Geld dafür angeboten, um im Hotel ein Durcheinander anzurichten. Theodor Bump hatte sich jedes Mal geweigert.
»Schreiben Sie weiter Ihre Bücher«, sagte Merganzer. »Ich bin ein sehr schneller Leser, müssen Sie wissen. Ich hoffe, Sie bleiben hier, auch wenn ich weg bin.«
»Halten Sie Blop aus meiner Suite fern, dann ist das abgemacht.«
Merganzer warf Leo einen Blick zu, der nickte.
»Erledigt«, sagte Mr Whippet.
Leo hatte inzwischen hinter Hainy hergeputzt und stellte sich neben seinen Vater. Worauf lief das alles hinaus?
»Und Sie«, sagte Merganzer und blieb vor Hauptmann Rickenbacker stehen. »Was soll das Whippet machen, wenn Sie uns nicht vor MR M. beschützen, hmmm?«
Als Bernard Frescobaldi hatte er Hauptmann Rickenbacker zweimal ans Tor kommen lassen und ihn um niederträchtige Gefallen gebeten, aber Hauptmann Rickenbacker hatte kein einziges Mal gewankt.
»Sie können auf mich zählen«, sagte Hauptmann Rickenbacker und salutierte begeistert vor Merganzer.
Merganzer bückte sich und hob Hainy auf. LillyAnn Pompadore hatte sich langsam, aber sicher auf die Tür zubewegt, doch als Merganzer ihren Hund hochhob, blieb sie stehen.
»Geben Sie mir meinen Hund und ich verschwinde«, sagte sie.
»Mrs Pompadore, Sie waren nur zu einverstanden.«
»Mein Mann hat einen Haufen Geld, mehr als Sie, da bin ich sicher!«, gab sie zurück. »Er könnte Ihnen das Hotel glatt vor der Nase wegkaufen!«
Merganzer reichte Mrs Pompadore ihren Hund. Sie drückte ihn an sich und sah aus, als würde sie zu weinen anfangen.
»Und warum haben Sie dann eingewilligt, Mrs Pompadore? Warum haben Sie bei der Sabotage des Hotels mitgemacht?«
»Weil Sie gesagt haben – weil Bernard gesagt hat –, es würde den Preis des Hotels drücken. Sie haben gesagt, wir könnten es gemeinsam erwerben.«
»Aber LillyAnn«, sagte Merganzer viel zu freundlich zu der Person, die ihn auf der ganzen Linie verraten hatte, »Sie haben doch gerade gesagt, Sie könnten es mir unter der Nase wegkaufen.«
»Nein, das stimmt nicht. Ich habe gesagt, mein Mann könnte es kaufen«, sagte LillyAnn. Sie fing zu weinen an und drückte Hainy fest an die Brust. »Mein Ex-Mann, wenn Sie es genau wissen wollen.«
Doch Merganzer wusste längst darüber Bescheid. Es war der Grund, warum er sicher gewesen war, dass LillyAnn ihn möglicherweise hintergehen könnte, aber er kannte auch den wahren Grund dahinter und das stimmte sein Herz weich.
»Wo soll ich hingehen?«, fragte LillyAnn. »Das Whippet ist das einzige Zuhause, das ich habe, und ich habe kein Geld mehr. Ich und Hainy sind ganz allein auf der Welt.«
»Sie lieben das Whippet doch, nicht wahr, LillyAnn?«, fragte Merganzer.
»Ja, und es tut mir leid. Es tut mir soooo leid.«
Hauptmann Rickenbacker legte einen Arm um LillyAnn und tätschelte sie sanft. Er streichelte den Hund, mit dem er sich schon länger gut angefreundet hatte.
»Ich könnte Hainy gebrauchen«, sagte Hauptmann Rickenbacker. »Er ist ein guter Spürhund.«
»Und ich habe hier eine wunderbare Geschichte vor Augen«, sagte Theodor Bump. »Die könnte mein größter Bestseller aller Zeiten werden. Dazu muss ich mit der jungen Dame allerdings ein Interview machen.«
Als LillyAnn Pompadore das Wort jung hörte, strahlte sie und trat etwas näher an Mr Bump heran. Sie sah Merganzer an, als hinge ihr Leben ganz und gar von ihm ab.
Merganzer sah Leo erneut an, der ganz leicht nickte.
»Natürlich können Sie bleiben«, sagte Merganzer D. Whippet. »Aber Sie müssen ein bisschen mitarbeiten. Niemand kann hier umsonst wohnen.«
LillyAnn strahlte, für Mrs Sparks jedoch war das der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Sie hatte die Vorgänge mit wachsendem Unbehagen beobachtet.
»Sie müssen sie rausschmeißen, Mr Whippet. Man kann ihr ja nicht trauen!«, kreischte sie. »Keinem von diesen Leuten kann man trauen! Dies Hotel ist zu einer Lasterhöhle von Lügnern, Schurken und rücksichtslosen, unverschämten Kindern geworden. Das kommt gar nicht in Frage!«
Merganzer war ein sanfter Mensch, aber ab und zu, wenn die Pflicht es verlangte, konnte er zum Löwen werden. Er ging auf Mrs Sparks zu und sah sie über seine lange, elegante Nase hinweg an, während sie vor ihm zurückwich. Er stand so dicht vor ihr, dass der Bienenkorb zur Wand hinter ihr geneigt war.
Und dann sprach er:
»Ich möchte die Gäste ja nicht beunruhigen, aber Sie, Mrs Sparks, sind gefeuert.«
»Sie können mich nicht feuern! Ich bin die Hotelmanagerin!«, schrie sie. Merganzer ließ die Hand in ihre Jackentasche gleiten und zog langsam das lange Brillantcollier heraus.
»Meine Kette!«, sagte Nancy Yancey und entriss es Merganzer, noch bevor er es ganz ans Licht gezogen hatte.
Wieder zogen alle erschrocken die Luft ein, sogar Mr Phipps, der eigentlich durch nichts aus der Fassung zu bringen war.
»Mr Fillmore, würden Sie Mrs Sparks bitte aus dem Hotel geleiten?«, fragte Merganzer. Clarence Fillmore war mit Kilometerabstand der größte Mann im Raum, und ehe Mrs Sparks sich versah, stand er neben ihr.
»Sie können mich nicht feuern! Das können Sie nicht!«, schrie Mrs Sparks.
»Da haben Sie genau genommen Recht«, sagte Merganzer. »Ich kann Sie nicht feuern.«
Einen Augenblick sah Mrs Sparks triumphierend aus und hielt den Kopf hoch erhoben. Vielleicht konnte sie sich ja doch gegenüber diesem Schwächling durchsetzen.
»Leo, hast du die Schlüsselkarte und die Urkunde?«, fragte Merganzer.
Leo trat in die Mitte des Raumes und zog die seltenste der Whippet-Schlüsselkarten hervor – und Mrs Sparks fiel fast hintenüber. Mr Fillmore wusste auch über die Karte Bescheid. Alle wussten es, und keiner konnte glauben, dass Leo sie in den Händen hielt.
»Aber wie …?«, stammelte Mrs Sparks.
»Sie alle hier sind Zeugen, jeder Einzelne von Ihnen«, sagte Merganzer D. Whippet. »Hiermit verkaufe ich das Whippet Hotel und alles, was darin ist, an Leo Fillmore zum Preis von …« Er sah sich im ganzen Raum um, bis er das Ding sah, das Leo in der Hand hielt. »Ich verkaufe das Whippet Hotel und alles, was darin ist, an Leo Fillmore zum Preis einer Dose Teppichschaum!«
Es war ja nur Theater, doch Leo reichte Merganzer die Sprühdose, der sie dann zur Aufbewahrung an George Powell weiterreichte. Leo hielt die Urkunde hoch, damit alle sie sehen konnten, dann sah er zu Mrs Sparks auf.
»Sie sind gefeuert«, sagte er.
Mrs Sparks fing an, Sachen vom Empfangstresen zu raffen, alles, was ihr in die Finger kam – das Gästebuch, die Stifte, Papierblöcke. Mr Fillmore nahm ihr alles wieder weg und führte sie zur Tür. Leo grinste von einem Ohr zum anderen. Konnte es noch besser werden? Wohl nicht, dachte er, als Mrs Sparks auf dem Weg nach draußen loskreischte.
»Das ist nicht das letzte Mal, dass wir uns gesehen haben, Leo Fillmore!«
Merganzer D. Whippet sah George an. »Wie konnte ich diese Frau überhaupt jemals einstellen?«
»Sie sehen eben immer das Beste in den Menschen«, sagte George. »Aber ich muss zugeben, man muss schon sehr genau hinsehen, um an dieser Person etwas Gutes zu finden. Sie kann ziemlich hinterhältig sein.«
Merganzer beugte sich dicht zu Leo herunter und gab ihm einen guten Rat.
»Erkenne deinen Feind.«
Leo nickte, denn er verstand. Mrs Sparks würde fast alles unternehmen, um wieder die Kontrolle über das Whippet zu bekommen. Vielleicht war es ja wirklich nicht das letzte Mal, dass sie sich gesehen hatten.
Stille breitete sich aus in der Lobby, und Merganzer führte sie alle ins Puzzle-Zimmer, wo er noch eine weitere Überraschung für sie hatte, ehe er sich verabschiedete.
»Das ist für Sie, Mr Phipps. Und für Sie, Hauptmann Rickenbacker.«
Er zog eine schwarze Schlüsselkarte aus der Tasche, wischte mit seinem eleganten langen Finger hin und her über die Oberfläche, und die Puzzle-Teile begannen, sich in die Luft zu erheben. Alle achthunderttausend Stück. Es war, als ob über dem langen Tisch ein Puzzle-Schneesturm wirbelte, und alle mussten lachen.
»Wie?«, fragte Mr Phipps.
»Ich könnte jetzt behaupten, dass in jedem Puzzle-Teil ein Magnet steckt«, sagte Merganzer. »Und ich könnte Ihnen von dem komplizierten Magnetsystem in der Tischplatte und im ganzen Zimmer erzählen. Aber sagen wir doch einfach, dass es ein bisschen Zauberkunst ist, ja?«
»Soll mir recht sein«, sagte Hauptmann Rickenbacker.
Merganzer wischte erneut über die schwarze Schlüsselkarte und die Teile fielen nach und nach an ihre richtige Stelle. Das Zimmer war erfüllt von schnipsenden Geräuschen und Tausende von Puzzle-Teilen rasteten ein. Ein umwerfendes Erlebnis, fand Leo.
Als das Puzzle fertig dalag, waren auf dem Tisch wirklich zweihundertdreiundzwanzig Enten, einschließlich Betty und den anderen Whippet-Enten. Alle sechs watschelten auf einen leuchtend grünen Teich zu. Es gab Bäume und einen blauen Himmel, den Park mit den riesigen, in Form geschnittenen Büschen und inmitten von allem das Whippet Hotel.
»Nicht schlecht«, sagte Leo. »Wirklich nicht schlecht.«
Es war ein absolut magischer Morgen gewesen, und doch fühlte Leo eine Art von Leere in sich, die er nicht abschütteln konnte. Er tippte George auf die Schulter, weil er ihn um einen letzten Gefallen bitten wollte.
»Würden Sie vielleicht ein letztes Mal die Rolle von Milton spielen?«, fragte er. »Ich muss nach jemandem suchen.«
»Ich habe schon gehofft, dass du das fragst«, sagte George. Er setze seine Chauffeursmütze auf und verbeugte sich vor dem neuen Besitzer des Whippet Hotels. »Nach Ihnen, Sir.«
Und schon waren sie unterwegs.