Ein vorläufiger Abschied
Leo stand vor einer Wohnungstür, die ihm deutlich machte, wie dankbar er war, dass er im Whippet Hotel wohnte. Anscheinend kümmerte man sich nicht so um dieses Haus, wie man sich eigentlich um ein Haus kümmern sollte. Leo hatte auf dem Weg nach oben schon Hunderte von Einzelheiten entdeckt, die er gerne instand gesetzt hätte, und er war sicher, dass es noch Tausende mehr davon gab.
»Wenn mir dieses Haus gehören würde, dann wäre es in einem viel besseren Zustand«, sagte Leo.
»Das ist die richtige Einstellung«, sagte George. »Vielleicht gehört es dir ja eines Tages.«
Leo sah seinen Begleiter an und überlegte, wie denn so etwas möglich sein sollte.
»Nun klopf mal an; die Zeit drängt«, sagte George aufmunternd. Also klopfte Leo an, erst ganz leise, dann lauter, denn er war so aufgeregt.
Als Pilar ihn sah, leuchteten ihre Augen auf.
»Leo! Wie bist du …?« Die Frage blieb unvollendet in der Luft hängen, denn Pilar war so glücklich für ihren Sohn. »Remilio wird sich so freuen, dich zu sehen. Er redet über nichts anderes als das Hotel.«
Pilar ließ sie herein und Leo erschrak ein bisschen. Sie hatte sich sehr bemüht, die Zwei-Zimmer-Wohnung einigermaßen wohnlich herzurichten, aber was konnte eine Mutter schon gegen zerbrochene Fensterscheiben, uralte Haushaltsgeräte und Löcher in der Wand ausrichten?
»Sie haben die Wohnung aber schön hergerichtet«, sagte George und streckte ihr die Hand hin. »Ich bin George Powell. Ich arbeite für Mr Whippet.«
»Aha«, sagte Pilar, die sich nicht sicher war, was sie von dem kleinen Mann halten sollte, der da vor ihr stand. »Sind Sie wegen der Halskette da?«
»Nein, nein, nein«, sagte George, dem es sehr unangenehm war, sie so in Schrecken versetzt zu haben. »Das hat sich schon geklärt und hat gar nichts mit Ihnen zu tun. Wir sind aus einem anderen Grund gekommen.«
Remi stand in der briefmarkengroßen Küche und löffelte gerade eine Schale Frühstücksflocken, als sie um die Ecke kamen.
»Hallo, Remi«, sagte Leo. Remi war so begeistert, Leos Stimme zu hören, dass er auf seinem Stuhl herumfuhr und seine Cornflakes-Schale umwarf. Aber das war ihm egal. Es war allen egal, denn Leo fackelte nicht lange und überbrachte die gute Botschaft. Er berichtete von Merganzers Rückkehr, von Mrs Pompadore und Mrs Sparks.
»Ich wusste doch, dass sie uns die Schuld absichtlich in die Schuhe schieben wollte!« Remi war so selig, dass er seine Mutter vor den anderen umarmte. Als Leo ihnen erzählte, dass er das Whippet Hotel geerbt hatte, drehte Remi das alte Küchenradio an, stellte einen Musiksender mit spanischer Musik ein, kletterte auf den Küchentisch und fing zu tanzen an.
»Das macht er manchmal«, sagte Pilar, die ebenso aus dem Häuschen war, es aber nicht so zeigte.
»Warum wundert mich das nicht?«, fragte Leo, dann stellte er Pilar eine ganz wichtige Frage.
»Pilar, würdest du bitte für mich arbeiten?« Er stellte zum ersten Mal jemanden ein, was sich gut anfühlte. »Und würdet ihr auch im Whippet Hotel wohnen? Ihr könnt das Apartment von Mrs Sparks haben.«
Pilar fing komisch zu atmen an.
»Tretet lieber zurück«, sagte Remi, der immer noch tanzte, nur inzwischen noch viel wilder. »Sie kann sich gleich nicht mehr beherrschen!«
Pilar fing zu weinen an, dann zu tanzen, mit den Händen über dem Kopf. Schon bald tanzten sie alle, sogar George Powell, von dem man es eigentlich nicht gewohnt war, dass er seine Gefühle zeigte.
Schließlich beschlossen sie, alles stehen und liegen zu lassen, in die Limousine zu steigen und die alte Wohnung ohne einen Blick zurück zu verlassen. Leo versprach, ein Umzugsunternehmen zu schicken, das die ganzen Sachen holen sollte, damit sie sich Mrs Sparks’ Apartment einrichten und zu ihrem machen konnten.
Pilar saß vorne neben George und redete darüber, wie sie den Dienstplan für die Zimmer verbessern wollte. George war auf der Stelle beeindruckt von Leos erster Einstellung.
Leo und Remi saßen hinten und flüsterten miteinander.
»Gibt es ein dreizehntes Stockwerk, wie ich vermutet habe?«, fragte Remi.
»Ja. Ich zeig es dir.«
»Da wohnst du also dann mit deinem Vater, in Dreizehn?«
Darüber hatte Leo schon eingehend nachgedacht. »Nein, es ist kein Apartment zum Wohnen. Es ist wie alle geheimen Zimmer zusammen und dazu noch eine Bibliothek.«
»Du magst doch Bibliotheken«, sagte Remi. »Freut mich für dich. Aber wo wollt ihr wohnen?«
»Wir Wartungsleute mögen es im Untergeschoss, wo man alles im Auge hat«, sagte Leo, und das stimmte auch. Für Leo war der Keller das Herz des Whippet. Dort gehörten er und sein Dad hin.
»Danke, Leo, für alles. Du bist der beste Freund, den ich je gehabt habe.«
Leo zog die silberne Schlüsselkarte hervor und zeigte sie Remi.
»Stimmt, was du da gesagt hast, ganz meinerseits – und zwar hoch zehn.«
Merganzer machte gerade seine letzte Runde durch das Erdgeschoss, als er Remi kennenlernte. Er sah sich den Jungen gründlich an, schlug ihm ein Mal auf jede Schulter und erklärte ihn zum übergangsweisen Portier des Whippet Hotels, so lange, bis die Schule im September wieder anfing.
»Du brauchst jemanden, der dir ein bisschen die Zeit vertreibt«, sagte Merganzer. »Ich weiß, wie langweilig es ab und zu werden kann.«
Merganzer hatte sich umgezogen und trug ein grün schillerndes Jackett, das zwei Nummern zu groß war und besser zu ihm passte. Er steckte die Hand in eine der großen Taschen, kramte darin herum, und man hörte einige Dinge aneinanderklappern, schließlich zog er einen kleinen Roboter heraus.
»Der sollte wohl genügen«, sagte Merganzer und hielt ihn Remi hin.
»Blop! Ich dachte schon, ich würde dich nie wieder sehen!«
»Heb ihn gut für mich auf, hörst du?«, bat ihn Merganzer mit einer winzigen Träne im Augenwinkel. Er näherte sich dem Ende seiner Runde, und der Abschied war doch schlimmer, als er gedacht hatte.
»Aber sicher doch. Und ich pass auch auf Leo auf. Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen.«
Das gab den Ausschlag, die Tränen rollten und Merganzer machte sich zur Doppelhelix und einem letzten Treffen mit dem neuen Besitzer des Hotels auf. Leo wartete dort schon auf ihn, wie vermutet, und hielt die kleine orangefarbene Tür auf.
»Ein letztes Mal, nur so zum Spaß?«, fragte Leo.
»Ein letztes Mal, nur so zum Spaß.«
Niemals hatten zwei Menschen so laut gelacht und gekreischt wie Leo und Merganzer D. Whippet auf dem Weg zum Dach. Die Fahrt war natürlich zu kurz, aber keiner von ihnen würde sie je vergessen. Am schönsten war die Fahrt in der Doppelhelix nämlich immer, wenn sie beide zusammen fuhren.
»Ich glaube, Betty muss bei ihren Eiern bleiben«, sagte Merganzer, während sie um die Bäume spähten und sie brüten sahen. »Sollen wir mit den anderen Gassi gehen?«
»Ja«, sagte Leo. »Und mach dir überhaupt keine Sorgen. Betty ist sehr verantwortungsbewusst. Sie wird eine gute Mutter.«
»Da hast du sicher Recht«, sagte Merganzer, auch wenn es ihm sehr schwerfiel, zu gehen, ohne die Entenküken schlüpfen zu sehen.
Er lächelte Leo zu und fand erneut, dass er eine sehr gute Wahl getroffen hatte. Sie holten den Entenaufzug herauf und scheuchten alle Enten außer Betty hinein, dann zwängten sie sich noch dazu. Es war sehr eng, vor allem für Merganzer, dessen Knie an die Decke des Entenaufzugs stießen. Die Enten starrten ihn neugierig an.
»Ach je, wie sehr liebe ich doch meine Enten. Sie werden mir fehlen.«
»Wenn du so weiterredest, bekomme ich langsam den Eindruck, dass du nie zurückkommst«, sagte Leo. Falls er mit dieser Bemerkung jedoch auf Widerspruch hoffte, hatte er sich getäuscht.
»Ich mag Remi und seine Mutter. George gefallen sie auch«, sagte Merganzer. »Pass gut auf die beiden auf, ja?«
»Aber klar doch.«
Als sie in die Lobby kamen, nahm Merganzer seinen Spazierstock und seinen Hut und scheuchte die Enten aus dem Aufzug. Im schnurgeraden Gänsemarsch watschelten sie an Remi und Blop vorbei, und der Roboter fing an, von Schwimmhäuten und Entenschnäbeln zu faseln.
»Unsere Gespräche werden mir auch fehlen«, sagte Merganzer im Vorübergehen, und Blop drehte sich beim Klang seiner Stimme um, als wüsste er irgendwie, dass er sie zum letzten Mal hören würde.
Dann gingen sie in den Garten – die Enten, Mr Whippet und Leo Fillmore. Merganzer zog die schwarze Schlüsselkarte aus der Jackentasche, die, mit der er die Puzzle-Teile hatte fliegen lassen.
»Wenn du das Puzzle neu starten willst, drücke hier, hier und dann hier. Das Puzzle ist doppelseitig.«
»Heißt das, es hat zwei Seiten?«
»Aber natürlich hat es zwei Seiten. Die andere Seite birgt ein ziemliches Geheimnis. Ich schlage vor, dass du sie dir erst mal nicht ansiehst. Du merkst schon, wann der richtige Zeitpunkt gekommen ist.«
Sie schlugen einen weiten Bogen über die bequemen Wege und genossen die sanften Hügel mit grünem Gras. Als sie zum Teich kamen, sahen sie Leos Vater und Pilar, die leise miteinander redeten.
»Ich frage mich, wo das wohl hinführt und wie du damit zurechtkommst«, meinte Merganzer.
»Das weiß ich beides nicht«, sagte Leo, »aber ich glaube, es wird ganz gut.«
»Du hast Recht; es ist nicht ratsam, sich in solche Dinge einzumischen. Der Natur ihren Lauf lassen und so weiter.«
»Übrigens«, sagte Leo, der an das Abenteuer denken musste, das hinter ihnen lag, »wo hast du eigentlich den Ring von meiner Mutter gefunden?«
Merganzer lachte leise. »Weißt du noch, der Ausflug, den ihr letztes Jahr unternommen habt?«
Wie hätte Leo das vergessen können! Die Yankees gegen die Red Sox, auf der Tribüne von Fenway Park!
»Dein Vater nahm niemals zusätzliches Geld an, es sei denn, er konnte es abarbeiten, aber die Karten für Fenway …« Merganzer pfiff durch die Zähne. »Teuer. Und die Eisenbahnfahrt nach Boston und das Hotel und die Hotdogs …«
»Er hat dir den Ring verkauft?«
»Nein, nein, nicht verkauft. Nur als Pfand. Es war einfach unmöglich, ihm das auszureden.«
Leo erinnerte sich an die zusätzlichen Samstage, an denen sein Vater seitdem gearbeitet hatte, nur, damit sie sich ab und zu freinehmen und zusammen zum Baseball gehen konnten.
Leo und Merganzer gingen noch weiter, bis zu dem großen schwarzen Tor, und kamen an Mr Phipps vorbei, der die grünen Büsche zu neuen, interessanten Skulpturen schnitt.
»Dürfte ich mir einen Elefanten wünschen?«, fragte Leo. »Remi mag Elefanten.«
»Ist so gut wie erledigt«, sagte Mr Phipps. Er lächelte und die alten schwarzen Sommersprossen auf seiner dunklen Haut zogen sich kraus um seine Augen zusammen. »Und für Sie, Sir? Was darf es sein?«
Merganzer starrte über das Grundstück und fand, dass es genau so war, wie es sein sollte, zumindest vorläufig.
»Ich finde, der Busch dort am Ende würde einen schönen Elefanten abgeben. Wenn es an der Zeit ist.«
»Wie Sie wünschen, Mr Whippet.«
»Halten Sie Hauptmann Rickenbacker beschäftigt, ja?«
Mr Phipps hob einen Finger und hakte den Punkt in der Luft ab. Er lächelte wehmütig. Ohne dass es Leo richtig gemerkt hatte, waren sie plötzlich am Einfahrtstor zum Hotel. Es ging langsam auf und die schwarze Limousine fuhr ein. George Powell ließ das Fenster herunter.
»Es ist an der Zeit für uns, zu gehen«, sagte er, als seien sie schon zu spät dran, um etwas zu erledigen, was sie schon ihr Leben lang hatten erledigen wollen.
Merganzer D. Whippet holte tief Luft und sah zu seinem Hotel zurück. Dann reichte er Leo den Spazierstock und zog sein schillernd grünes Jackett aus.
»Es ist doch zehn Nummern zu groß«, sagte Leo, der in dem Jackett ertrank, als Merganzer es ihm über die schmalen Schultern hängte.
»Ich habe das sichere Gefühl, dass du hineinwachsen wirst.«
Die Enten watschelten nach und nach zum Hotel zurück und Leo klopfte mit dem Spazierstock auf den Weg.
Als er sich wieder zum Tor umwandte, fuhr die Limousine schon hinaus.
»Wenn du mich brauchst«, rief Merganzer vom Rücksitz, »dann suche auf dem Feld der verrückten Erfindungen!«
Das Auto fuhr hinaus und das Tor schloss sich. Leo kratzte sich den Kopf, denn er hatte keine Ahnung, wo das Feld der verrückten Erfindungen sein sollte. Aber er war beruhigt, denn nun wusste er, dass er nach seinem alten Freund suchen konnte, wenn er ihn brauchte. Und er war sicher, dass er ihn brauchen würde. Er war zehn und besaß ein Hotel. Nicht irgendein Hotel, sondern das Whippet, das verrückteste Hotel der Welt.
Das bedeutete Herausforderungen, und zwar eine ganze Menge.
Sachen würden kaputtgehen.
Mrs Sparks könnte versuchen, zurückzukommen.
Jemand würde wahrscheinlich versuchen, das Hotel zu kaufen, um einen Wolkenkratzer auf das Grundstück zu stellen.
Aber Leo hatte seinen Vater und liebevolle Erinnerungen an seine Mutter. Pilar würde da sein und Mr Phipps, Hauptmann Rickenbacker, Theodor Bump, LillyAnn Pompadore und Betty. Und vor allem Remi. Leo musste sich den Herausforderungen also nicht allein stellen. Er würde viel Hilfe bekommen.
Er sah am Whippet Hotel hinauf und entschied, was er als Erstes tun würde.
Er würde seinen Vater, Pilar, Mr Phipps und Remi mit aufs Dach nehmen. Und von dort würden sie im Licht der Morgensonne Merganzer D. Whippet zum Abschied nachwinken.
Aus einigem Abstand hörte er eine Ente quaken und Leo machte sich auf. Das Hotel kam ihm entgegen, aufragend und immer näher, und die grüne Jacke von Merganzer schleifte hinter ihm her durchs Gras.
»Glaubst du, er kommt zurecht?«, fragte Merganzer. Auch er blickte auf das Whippet Hotel. Es wurde immer kleiner, je weiter sie sich entfernten.
»Ja«, sagte George, »das glaube ich ganz bestimmt.«
»Vielleicht hätte ich die anderen Stockwerke erwähnen sollen.«
»Ich glaube, er weiß erst einmal genug.«
Merganzer nickte und lächelte über das ganze Gesicht.
»Er ist ein guter Junge.«
»Beide sind sie gute Jungen«, stimmte ihm George zu.
Das Whippet Hotel war fast außer Sicht, und Merganzer fing an, sich wie befreit zu fühlen. Er streckte den Kopf aus dem Fenster und ließ seinen wilden Haarschopf im Wind flattern.
»Ein guter Tag, um draußen bei den Kaninchen zu sein«, rief er.
»Kann man wohl sagen«, pflichtete ihm George bei.
Sie fuhren weiter, hinaus aus der Stadt.
Und das Whippet Hotel verschwand aus ihrem Blick.
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