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12.37 Uhr
Der Zug tastet sich auf die stählerne Brücke vor, als misstraue er den Tausenden von Nieten, die das schwarze Ungetüm zusammenhalten. Unter uns wälzt sich der Rhein dahin, die kleinen Wellen glitzern in der Julisonne und kurz irritiert es mich, dass dieser Strom so unverdrossen weiterfließt, während alle Datenströme abgerissen sind. Beim Anblick der Bahnhofshalle, in die wir nun endlich einfahren, schnürt sich mir unwillkürlich der Hals zu. Sie ist nämlich so gut wie leer. An unserem Gleis stehen keine Reisenden, die auf den Zug warten, sondern zwei Bundespolizisten in Schusswesten und mit umgehängten Maschinenpistolen. Auf einem anderen Gleis ist ebenfalls ein Zug eingefahren, die Menschen steigen eilig aus und steuern mit ihrem Gepäck auf die Rolltreppen zu, die nach unten und zu den Ausgängen führen. Auch dort Polizei. Sämtliche Anzeigetafeln sind tot.
»Meine Damen und Herren, bitte beachten Sie«, hören wir wieder die Zugbegleiterin aus den Lautsprechern, »unsere Fahrt endet leider hier. Wir bitten Sie, auszusteigen und zügig das Gleis zu räumen. Bis auf Weiteres muss der gesamte Bahnbetrieb eingestellt werden.« Diesmal kein Murren, die meisten Fahrgäste im Abteil sind längst aufgestanden. Die Zugbegleiterin schiebt pflichtgemäß hinterher: »Vielen Dank für Ihre Reise mit der Deutschen Bahn.« Dafür erntet sie vereinzelte Lacher.
Alle raffen ihr Zeug zusammen außer mir, ich habe nicht mal einen Rucksack dabei. Wenn ich wirklich hier strande, hab ich nichts weiter als die Klamotten, die ich trage. Reflexhaft greife ich zum Handy, völlig sinnlos, stecke es in die Hosentasche. Was heute Abend ist, spielt keine Rolle, ich muss zu Habakuk, über alles andere denke ich später nach. Dreadlocksmädchen hat die blauen Kopfhörer in den Nacken geschoben und hievt einen großen Seesack aus dem Gepäcknetz.
»Brauchst du Hilfe?«
»Nee, geht schon, danke.«
»Also, wie du vorhin dem Typen mit dem Poloshirt Bescheid gesagt hast … das hatte Klasse.«
»Aha.«
»Sag mal – ähm. Kennst du dich in Köln aus?«
»Geht so. Wo musst du hin?«
»Kennst du das Weisshauskino?«
»Ja, das ist auf der Luxemburger Straße.«
Wir schieben uns mit den anderen Leuten den Gang entlang zur Tür.
»Wie komm ich dahin?«, frage ich.
»Mit der Stadtbahn. Linie achtzehn. Falls die fährt.«
»Und wenn nicht?«
Da dreht sie sich kurz zu mir um und legt den Kopf schräg. »Dann musst du laufen.«
»Schon klar, ich meine bloß … ohne Google Maps bin ich ziemlich aufgeschmissen.«
»Frag dich halt durch.«
Genau das tu ich doch gerade, denke ich. Aber sie hat keinen Bock, mir zu helfen.
Beim Aussteigen sagt sie noch: »Ich würde an deiner Stelle am Dom vorbeilaufen und Richtung Nord-Süd-Fahrt gehen, das ist bestimmt ausgeschildert. Frag dich durch bis Barbarossaplatz, da beginnt die Luxemburger.«
»Okay, danke.«
Sie sieht sich nicht noch einmal um, sondern schlängelt sich trotz ihres schweren Gepäcks mit erstaunlicher Geschicklichkeit durch die Masse der Menschen, die einen Moment lang wie ausgespuckt vor dem Zug auf dem Bahnsteig stehen, bevor sie sich in Bewegung setzen. Und bevor ich die Rolltreppe erreiche, habe ich Dreadlocksmädchen aus den Augen verloren.
Ich war besessen von dem Gedanken, Habakuks Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen. Kalliope pflegte seinen Namen mit einem Hashtag zu versehen. Und mir war eingefallen, dass Habakuk (natürlich mit irgendeinem Account unter einem ganz anderen Namen) diesem Hashtag folgen musste, denn wie sonst sollte er stets unmittelbar mitkriegen, wenn sie ihn irgendwie erwähnte? Doch ich war nicht der Erste, der die Idee gehabt hatte. Unter #habakuk tauchten mehrere Fotos von einer jungen Frau auf, die jeweils einen Zettel in die Kamera hielt, auf dem stand: »Lieber Habakuk, bitte schreib mir mal, es ist wichtig!« Und eine Mailadresse. Er schien sich noch nicht bei ihr gemeldet zu haben, sonst hätte sie das Bild nicht immer wieder neu gepostet, dachte ich. Vielleicht sollte ich mir etwas überlegen, das weniger plump daherkam.
Also googelte ich ein bisschen. (Komisch, dass mir bei dem Wunsch, etwas Originelles zu schreiben, als Erstes das Googeln in den Sinn kam … Ich suchte halt nach Infos über ihn – irgendwas, wo ich anknüpfen konnte.) Ich stellte fest, dass viele andere Blogger sich mit ihm befassten, er wurde sogar in Artikeln von SPON
, VICE
und ZEIT
online
erwähnt. Ich hatte gar nicht mitbekommen, dass er so bekannt war, zumindest innerhalb einer gewissen Szene. Oder Filterblase,
wie man heute sagt. Ein Influencer eben, nur ganz anders als Kalliope und ihresgleichen. Die einen hielten Habakuk für einen Wichtigtuer, andere verglichen ihn mit anonymen Künstlern wie Banksy oder Barbara,
manche nannten ihn schlicht einen Propheten.
Sogar in die Politik schien er es irgendwie geschafft zu haben, denn eine Landtagsabgeordnete zitierte ihn mehrfach in ihren Reden; Solveig Sander, eine Hinterbänklerin zwar, aber immerhin. Sie war »netzpolitische Sprecherin« ihrer Fraktion und ich empfand eine gewisse Eifersucht auf ihren Redenschreiber, dass er Dinge schrieb, die in einem echten Parlament gesprochen wurden und hinterher in der Zeitung kamen oder zumindest in kleinen YouTube-Clips ihrer Partei auftauchten, während ich für CAP
klickte.
Apropos Prophet. Tatsächlich gibt es in der Bibel ein Buch namens »Habakuk«. Es handelt von einem Typen, der angeblich vor über zweieinhalbtausend Jahren in Israel lebte. Er wetterte gegen die Ungerechtigkeiten seiner Zeit und prophezeite ein kommendes Strafgericht – eine Art Apokalypse oder so. Sein »Buch« innerhalb der Bibel ist recht kurz. Ich überflog es am Handy und markierte mit dem Finger folgende Textstelle:
Er schleppt sie weg in seinem Netz und rafft sie fort in seinem Fischgarn; er freut sich darüber und jubelt. Deshalb opfert er seinem Netz und bringt seinem Fischgarn Rauchopfer dar; denn durch sie hat er reichen Gewinn und ein üppiges Mahl.
Ich fotografierte eine leere Wand in meinem Zimmer, fügte die Worte in das Foto ein und postete es bei Instagram zusammen mit dem Hashtag #habakuk.
Passte doch ganz hervorragend zu seinen Themen … schleppt sie weg in seinem Netz …
das klang ja wie aufs Internet gemünzt. Ich bekam eine Handvoll Likes – hauptsächlich von Leuten, die mir folgten, aber auch drei von welchen, die ich nicht kannte. Und spät am Abend, als ich gerade ins Bett gehen wollte, einen Kommentar:
Wahrhaftig, reiche Beute täuscht den hochmütigen Helden; er wird keinen Erfolg haben.
Sollte das eine Beleidigung sein? Oder eine Art Test? Der Account trug den Namen Ambakoum,
hatte kein Profilbild, keine Beiträge, keine Follower und folgte: niemandem.
Außer seit heute mir.
Und offenbar dem Hashtag #habakuk. Ich googelte mit fliegenden Fingern parallel auf meinem Handy und meinem Laptop, ich fand den Satz im Buch Habakuk, Kapitel 2, Vers 4, kopierte den zweiten Teil des Satzes in die Antwortzeile:
Reißt er auch wie die Unterwelt seinen Rachen auf und ist er auch wie der Tod unersättlich.
Gleichzeitig fand mein Laptop die Bedeutung von Ambakoum
. Es ist ein männlicher Vorname. Der stammt aus einer zweitausend Jahre alten Übersetzung der hebräischen Bibel in die altgriechische Sprache und bedeutet natürlich: Habakuk.
Er, also Ambakoum,
antwortete diesmal wenig biblisch, vielmehr sehr direkt:
Was bist du für ein Schlaumeier?
Berechtigte Frage. Ich überlegte kurz, dann fiel mir eine Entgegnung ein, die ihn vielleicht provozieren konnte. Ich schrieb:
An deiner Stelle würde ich versuchen, es herauszufinden. Aber ich bin ja nicht an deiner Stelle, sondern bloß Amir.
Darauf bekam ich eine PN
von ihm. Mit nichts weiter als einer vollkommen kryptischen E-Mail-Adresse.
12.52 Uhr
In einem Pulk von Menschen gleite ich die Rolltreppe hinab zur Fress- und Konsummeile des Bahnhofs, die Richtung Eingangshalle führt. Die Rolltreppe aufwärts ist abgesperrt, unten steht wieder ein Polizist. Wir werden in eine wabernde Menschenmenge gekippt und verschmelzen mit ihr. Die fließende Masse trägt mich fort, als würden wir auf einem gigantischen Schweißfilm dahingleiten. Schon klebt mir mein T-Shirt am Rücken. Im Zug hat wenigstens die Klimaanlage funktioniert. Die hochsommerlichen Ausdünstungen unter der Decke mischen sich mit einer flirrenden Unruhe, von der alle hier erfasst sind, ich auch, ohne dass ich sagen könnte, was sie ausmacht. Meine Finger schnellen zum Handy in der Hosentasche und lassen es los, ohne es herauszuziehen.
Irgendwo da vorne sehe ich noch den Anzugmann aus dem Zug, dann erreiche ich die Eingangshalle. Der Zugang zur Stadtbahn ist ebenfalls abgesperrt, ich werde wohl tatsächlich laufen müssen. Oder ein Taxi nehmen. Wobei – akzeptieren die überhaupt noch Kartenzahlung? Akzeptiert überhaupt noch irgendjemand meine Bankkarte? Ohne Internet? Ich schiebe mich durchs Gewühl der gestrandeten Reisenden, vorbei an sich auftürmenden Kofferbergen und hitzig diskutierenden Bahnmitarbeitern Richtung Ausgang, quetsche mich durch die Tür und wäre, würden nicht von hinten so viele Menschen nachdrängeln, fast zurückgetaumelt, so hart knallt mir die flirrende Hitze auf dem Bahnhofsvorplatz gegen den Kopf. Ich gehe ein paar Schritte mitten auf den Platz hinaus, raus aus der Menschenmenge, wo ich wenigstens eine Armlänge Freiraum um mich herum habe. Links führt eine breite Freitreppe zum Dom empor, der sich wie ein gotisches Gebirge aus dem umliegenden Beton erhebt. Dort drin wäre es jetzt sicher angenehm kühl, aber ich habe keine Zeit. Mir bleibt eine Stunde, um mich in dieser Stadt zurechtzufinden und das Kino zu erreichen, wo Habakuk mich treffen will. Gestern hat er mir ein Onlineticket geschickt. Reihe 12, Platz 2. (Ganz hinten, ganz am Rand – ich hatte gleich den Saalplan des Kinos online gecheckt; sicher hat er für sich selber den Platz Nummer 1 gebucht, damit er direkt am Gang sitzt und sofort unauffällig verschwinden kann.) Ein Kinosaal sei einer der wenigen öffentlichen Orte innerhalb einer Großstadt, wo es garantiert keine Überwachungskameras gebe, hat er geschrieben, und wo auch niemand mit seinem Handy filme. Das Ticket habe ich natürlich nicht ausgedruckt, aber immerhin offline auf dem Handy gespeichert. Wobei mir fraglich erscheint, ob heute überhaupt Filme gezeigt werden – ob man dafür wohl Internet braucht? Oder generell für den Betrieb eines Kinos? Keine Ahnung. Kann sein, dass es geschlossen ist. Aber vielleicht kommt Habakuk ja trotzdem und womöglich erkennt er mich auch so. Ich gehe davon aus, dass er meine Social-Media-Profile gecheckt und einige Fotos von mir angesehen hat.
»Ich muss Sie bitten, weiterzugehen.«
Die Polizistin steht plötzlich vor mir, ich habe sie gar nicht kommen sehen.
»Wieso?«, frage ich. »Darf man hier nicht stehen?«
»Sie sehen doch, was hier für ein Gedränge herrscht«, gibt sie zurück. »Gehen Sie bitte weiter, zu Ihrer eigenen Sicherheit. Und Sie auch bitte.«
Die Polizistin meint offenbar eine Frau, die in meiner Nähe steht und immer wieder ratlos auf ihr Handy tippt. Jetzt steckt sie es ein, zuckt mit den Schultern und sagt zu mir: »Seit dieser Silvesternacht damals ist der Bahnhofsvorplatz so was wie heiliger Boden. Sobald irgendwas komisch ist in Köln, wird hier immer sofort alles geräumt. Unnötige Panikmache.«
»Im Gegenteil«, erwidert die Polizistin. »Wir sind hier, damit erst gar keine Panik entstehen kann.«
»Ist ja wie mit der Henne und dem Ei«, knurrt die Frau und geht.
Auch ich setze mich wieder in Bewegung und laufe zu den Schildern, die einen sehr großen Taxistand ausweisen. Nur sind leider keine Taxen zu sehen, bloß eine Ansammlung von Menschen mit Rollkoffern und Rucksäcken. Als jetzt doch ein einsames Taxi angebraust kommt, bricht eine richtige Rangelei aus.
Ich lasse die Leute hinter mir, gehe ein Stück die Straße entlang und treffe auf eine weitere Menschentraube. Die Leute umringen ein Auto, dessen Türen offen stehen. Das Radio ist auf volle Lautstärke gestellt und die Umstehenden lauschen in gespannter Stille. Ich dränge mich so dicht heran, dass ich aufschnappen kann, was eine Frauenstimme im Radio sagt.
»… haben wir zum jetzigen Zeitpunkt keine Hinweise dazu«, sagt sie gerade. »Klar ist nur, dass heute in den frühen Morgenstunden Millionen von Geräten quasi von allein damit begonnen haben, Anfragen an irgendwelche Server zu schicken. Also nicht nur Computer und Handys, sondern alle möglichen internetfähigen Dinge – Fernseher, Autos, Überwachungskameras, Spielekonsolen, smarte Kühlschränke, Heizungssteuerungen und so weiter. Die dadurch erzeugte Datenmenge sprengt alles bisher Dagewesene. Und diese …«
»Aber wie ist das überhaupt möglich?«, fragt ein Redakteur dazwischen.
»Einer denkbaren Erklärung zufolge«, antwortet die Frau, »hat über Wochen, vielleicht sogar Monate eine schleichende Infektion der Geräte stattgefunden. So langsam, dass es nicht bemerkt wurde. Vereinfacht gesagt, haben wir es mit intelligenten Computerwürmern zu tun, die sehr lernfähig sind und selbstständig Schwachstellen in Computersystemen finden können. Und – nun ja, irgendjemand hat diese Würmer losgeschickt und sie so programmiert, dass sie alle gemeinsam heute Morgen ihren Angriff starten.«
»Angriff,
sagen Sie«, hakt der Redakteur ein, »gegen wen richtet sich denn dieser Angriff?«
»Auch das können wir nicht erkennen. Der Datenverkehr kommt von überallher und strömt überallhin, anders als bei bisherigen sogenannten DDoS
-Attacken gibt es offenbar überhaupt kein konkretes Ziel. Außer … also in gewisser Weise scheint das Internet selbst das Ziel dieses Angriffs zu sein. Wer immer der Urheber ist, will offenkundig die gesamte digitale Infrastruktur lahmlegen.«
»Und über diesen Urheber liegen noch keinerlei Erkenntnisse vor? Vorhin bekamen wir Meldungen, dass sich die Terrormiliz IS
dazu bekannt haben soll …«
»Das halte ich für Trittbrettfahrerei. Der IS
ist ganz sicher nicht in der Lage, einen solchen Angriff zu planen und auszuführen.«
»Wer wäre denn überhaupt zu so etwas in der Lage? Rein technisch gesehen?«
»In den letzten Jahren haben viele Stellen massiv aufgerüstet, was den Einsatz von KI
– also von Künstlicher Intelligenz – in Kombination mit Schadsoftware betrifft. Sowohl Militärs und Geheimdienste als auch kriminelle Hackergruppen.«
»Ich frage Sie jetzt ganz direkt.« Die Stimme des Redakteurs wechselt in eine dramatische Tonlage. »Befinden wir uns im Cyberkrieg?«
»Das Wort Krieg würde ich zum jetzigen Zeitpunkt nicht in den Mund nehmen …«
Jemand aus der Menschentraube äfft sie nach: »Ha, zum jetzigen Zeitpunkt! Was sollen wir damit anfangen?«
Wie schon vorhin im Zug wird der Zwischenrufer schnell zum Schweigen gebracht.
» … sind alle Maßnahmen rein präventiv«, fährt die Frau derweil fort. »Die Innenminister der Länder haben größtmögliche Polizeipräsenz im öffentlichen Raum angeordnet, um das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung zu stärken. Auch das Technische Hilfswerk ist einsatzbereit. Alles rein vorsorglich. Wir haben keine Berichte über Ausschreitungen oder Plünderungen und dergleichen und ich möchte betonen: Sie können sich ganz normal bewegen, Sie können einkaufen, tanken, was immer Sie wollen – lediglich Kartenzahlung ist zum jetzigen Zeitpunkt nicht möglich. Und Bargeldabhebungen leider auch nicht. Trotzdem gibt es nicht den geringsten Anlass, jetzt mit Panikkäufen die Supermärkte und Tankstellen zu stürmen.«
Fuck, genau wie befürchtet! Dabei bezahle ich immer und überall mit Karte. Auf dem Konto habe ich rund dreihundert Euro und CAP
schuldet mir noch zirka hundertfünfzig. Falls dieses Guthaben nicht mit dem Zusammenbruch des Netzes pulverisiert wurde. In meinem Portmonee stecken vielleicht noch dreizehn Euro. Sowie ein höchst geheimer Speicherchip voll brisanter Informationen. Informationen, die zum jetzigen Zeitpunkt
womöglich absolut belanglos geworden sind? Oder im Gegenteil erst richtig bedeutsam? Noch immer kann ich mir nicht vorstellen, dass es da einen Zusammenhang gibt. Aber eigentlich konnte ich mir bisher sowieso nichts von dem vorstellen, was da gerade geschieht.
»Wie geht es nun weiter?«, fragt der Redakteur. »Was passiert, wenn die Situation andauert? Wenn den Leuten das Bargeld ausgeht? Oder wenn Tankstellen und Supermärkte leergekauft sind? Soweit ich weiß, laufen heutzutage alle Logistiksysteme übers Internet. Ohne Internet können gar keine neuen Waren ausgeliefert werden.«
»Also bitte«, hält die Frau dagegen. »Bis vor ein paar Jahren ging das auch ohne Internet. Ich sage nicht, dass alles reibungslos funktionieren wird, aber selbstverständlich ist die Versorgung der Bevölkerung gewährleistet. Darum hier nochmals meine Bitte an alle Hörerinnen und Hörer: Bleiben Sie besonnen, warten Sie weitere Informationen ab, lassen Sie das Radio eingeschaltet und schalten sie sämtliche internetfähigen Geräte in Ihrer Reichweite aus. Sobald wir neue …«
Der Rest geht im Durcheinanderrufen der Umstehenden unter. Vieles klingt einfach ratlos, aber es mischen sich auch aggressive Töne darunter. Ein paar Leute sind furchtbar wütend. Vermutlich wissen sie selber nicht, auf wen. Zum jetzigen Zeitpunkt.
Ich ziehe mein Handy aus der Hosentasche und will es ausschalten. Doch mein Finger zögert. Solange das Teil an ist, wird es wieder und wieder versuchen, eine Verbindung zum Netz herzustellen. Und ist damit Teil des ganzen Problems. Nur ein winziger Teil zwar, ein Tropfen im Meer, aber Millionen von Tropfen ergeben ziemlich viel Wasser. Trotzdem bringe ich es nicht über mich. Ich muss erreichbar bleiben! Beziehungsweise wieder erreichbar werden. Was, wenn plötzlich das Netz wieder funktioniert und Habakuk schreibt mir?
Keine Ahnung, warum er ausgerechnet auf meinen Kontaktversuch eingegangen ist. Etliche Interviewanfragen von Fans und Journalisten hatte er abgelehnt, die auf ähnliche Art wie ich probiert hatten, an ihn heranzukommen. Nur mit mir schrieb er hin und wieder. Nicht oft – vielleicht ein- oder zweimal die Woche und über nichts Persönliches, es ging um Gesellschaft, Netzpolitik, solche Sachen. Trotzdem beschlich mich nach einer Weile das Gefühl, dass er womöglich gar keine Freunde hatte, niemanden zum Reden außer mir. Und mir kam in den Sinn, dass er vielleicht dasselbe von mir dachte. Okay, ich habe nie viele Freunde gehabt, und die wenigen, die es gibt, sind seit Ende der Schulzeit weit übers Land verstreut. Auch zu meiner Exfreundin habe ich nur noch ganz sporadisch Kontakt. Wir kannten uns ebenfalls noch von der Schule. Und in Bochum hatte ich noch niemanden kennengelernt,
wie man so sagt, also keine Frau, abgesehen von einer unbedeutenden Partyknutscherei. Ich bin wohl ein Eigenbrötler, und das stört mich gar nicht weiter. Mein Mitbewohner Malte ist ganz ähnlich drauf, wir passen in dieser Hinsicht gut zusammen. Zwischendurch hatte ich tatsächlich mal den Verdacht gehabt, er
sei es, mit dem ich da schrieb, also Malte und nicht Habakuk. Dass Malte mich reingelegt hätte, ein Riesen-Prank, aber Unsinn, warum sollte er das tun? Und einmal saßen wir zusammen in der Küche, während ich mit Habakuk schrieb und er beim Bier in einer Zeitung blätterte, er konnte es also gar nicht sein. Ich erzählte ihm trotzdem nichts von meinem Kontakt mit dem mysteriösen Propheten. Erstens ging ich davon aus, dass Habakuk es nicht gut fände, wenn ich mit jemand Drittem darüber gesprochen hätte. Zweitens kam mir der Kontakt wie etwas Kostbares und höchst Zerbrechliches vor, das nur mir gehörte.
Die Mail-Adresse, die er mir damals geschickt hatte, war sehr kryptisch gewesen. Von dem Anbieter hatte ich noch nie gehört: Torbox
. Und die Toplevel-Domain kannte ich bisher nur aus reißerischen Artikeln über das Darknet: onion.
Ich musste mir extra den sagenumwobenen TOR
-Browser herunterladen, in die bodenlose Finsternis des Darknet hinabsteigen und mir dort ebenfalls solch eine kryptische Mail-Adresse zulegen, bevor ich ihm schreiben konnte. Er lud mich daraufhin zu einem Chat ein.
Ich so:
Hallo Habakuk. Da bin ich.
Er so:
wmdg?
Echt jetzt? Voll der Teenagerdialog, dachte ich. Aber irgendwie auch eine fast schon existenzielle Frage: Was machst du gerade? So banal und zugleich hochphilosophisch. Und vor allem – in dem Moment, wo ich mich frage, was ich gerade mache, unterbreche ich doch genau das, was ich mache, um etwas anderes zu tun, nämlich über das, was ich bis zu der Sekunde davor gemacht habe, nachzudenken. Ein bisschen wie in der Quantenphysik, wie bei Schrödingers Katze, die so lange in ihrer dunklen Kiste gleichzeitig tot und lebendig ist, bis einer die Kiste öffnet und nachguckt. Okay, ich gebe zu, das waren schon ziemlich nerdige Gedankenspiralen, die sich da in meinem Kopf drehten, aber genau die schrieb ich ihm. Und er:
Cool. Darf ich das bei Gelegenheit verwenden? Auf meinem Blog?
Wow! Was für ein Kick! Habakuk fand meine Gedanken gut! Das fühlte sich noch tausendmal besser an als das Erreichen der 85-Punkte-Marke bei CAP
.
Na gut, irgendwie war es Hirnwichserei, über solche Sachen zu schreiben. Aber es machte Spaß.
Irgendwann fragte ich Habakuk, warum er sich ausgerechnet an Kalliope derart festgebissen hatte.
Ich weiß schon, von wegen Ironie und so. Aber da steckt doch mehr dahinter?
Habakuk schrieb:
Es steckt immer mehr dahinter als davor, rein räumlich gesehen, denn zwischen dir und dem Objekt, das du betrachtest, ist der Raum begrenzt, doch hinter dir und hinter dem Objekt ist der Raum unbegrenzt.
Manchmal übertrieb er es mit der Hirnwichserei …
Wusstest du, dass man auf Plattformen wie megaboost.com schon für 35 Euro 5000 Follower kaufen kann? Immer mehr Likes und Kommentare und Produktbewertungen kommen nicht von echten Menschen, sondern von Bots. Vermutlich werden inzwischen ganze Beziehungsgeflechte von Bots unterhalten – der eine Bot fängt Beef mit dem anderen Bot an oder ein weiterer Bot verliebt sich in einen anderen oder so, na ich weiß nicht, ob es das wirklich gibt, aber es ist doch denkbar, oder? Alles, was denkbar ist, wird auch kommen.
Jedenfalls glaube ich, dass fast alle erfolgreichen Influencer irgendwann in ihrer Karriere einmal Follower und Likes gekauft haben. Vielleicht nur am Anfang, als kleine Anschubfinanzierung sozusagen, um überhaupt irgendwen auf ihren Kanal aufmerksam zu machen, bevor das Ding von allein zu laufen beginnt. Niemand abonniert schließlich einen Kanal, der keine Abonnenten hat, oder? »Wer hat, dem wird gegeben«, heißt es schon in der Bibel.
Was hatte er nur immer mit der Bibel?
Aufmerksamkeit ist das kostbarste Gut der digitalen Welt. Die Währung, in der wir unser Leben abrechnen, unsere Freundschaften und Beziehungen. Unsere Jobs, unsere Hobbys.
Doch die Jagd nach Aufmerksamkeit macht uns zunehmend fertig. Das ständige Liken und Kommentieren, überall diese perfekten Vorbilder. Als stünden wir alle immer auf einer Bühne, deren Scheinwerfer niemals ausgehen. Bis jeder Rest an Authentizität verloren ist …
Aber dann kommt Kalliope und ist angeblich total natürlich und authentisch. Sie gaukelt uns vor, dass es Hoffnung gäbe. Das ist das allerschlimmste. Hoffnung zu machen, wo es keine Hoffnung gibt. Und darum ist sie auch DIE Allerschlimmste.
Ich schrieb:
Klingt gut ausformuliert. Hast du das aus einem deiner Beiträge rauskopiert?
Und er:
Ha, nee. Eher umgekehrt. Wenn du findest, dass es gut formuliert ist, dann werde ich es morgen in meinen nächsten Beitrag reinkopieren ;-)
Etwas wohlig Warmes durchströmte mich. Er hatte recht mit dem, was er über Aufmerksamkeit schrieb. Aufmerksamkeit ist eine Währung und er, Habakuk, bezahlte mich gerade ziemlich gut. Beziehungsweise beschenkte
er mich. So sagt man doch, oder? Aufmerksamkeit schenken
. Und nicht nur das. Er schenkte mir ein Gefühl von Resonanz. Von Wirksamkeit. Ich hatte Einfluss auf das, was er schrieb. Ein Influencer hinter dem Influencer. Geil.
Ich fragte ihn:
Hasst du sie eigentlich? Kalliope?
Darauf bekam ich lange keine Antwort.
13.04 Uhr
Es tut gut, die angespannte Atmosphäre rund um den Bahnhof hinter mir zu lassen. In der Innenstadt geht es ziemlich bunt zu. Business People bevölkern die Cafés und Restaurants, Bänke und Ränder von Brunnen, haben ihre Krawatten gelockert oder die hochhackigen Schuhe abgestreift, man plaudert oder blinzelt einfach in die Sonne. Ihre Arbeit steht still, aber sie wollen anscheinend nicht nach Hause gehen. Vielleicht ist der Spuk ja in ein, zwei Stunden schon wieder vorbei. Eine Sportsbar lockt mit den Worten: Happy hour, solange wir offline sind!
Der Satz steht mit Kreide auf einer Tafel neben der Tür, durch die Fenster sieht man drinnen große tote Flachbildschirme an den Wänden und davor stehen Leute mit Cocktails in den Händen. Offenbar fördert der Kollaps des Internets die Geselligkeit. Jedenfalls zum jetzigen Zeitpunkt
. Vor einem Brauhaus werden sogar Karnevalslieder gesungen. Den Rheinländern wird ja nachgesagt, dass sie jede Situation von der heiteren Seite nehmen. Mir fällt aber auf, dass bereits einige Läden geschlossen und verrammelt sind. Vor einem Juweliergeschäft stehen zwei Wachleute mit verschränkten Armen und gucken böse in der Gegend herum. An der nächsten Ecke schlägt ein Mann auf einen Geldautomaten ein. Niemand versucht ihn anzusprechen und zu beruhigen, alle machen einen großen Bogen um ihn. Ich auch.
Von Weitem höre ich eine krächzende Stimme. An der Kreuzung dort drüben stößt jemand irgendwelche Drohungen und Verwünschungen aus. Ich erkenne einen älteren Typen mit ungekämmten weißen Haaren, er steht auf einer umgedrehten Bierkiste wie auf einem Podium und ruft: »Das ist das Ende! Kehrt um und tut Buße!«
Die meisten Leute gehen achtlos vorüber, manche grinsen. Zwei Jugendliche filmen das Schauspiel mit ihren Handys. Wenn irgendwann YouTube zurück ist, wird das sicher ein Hit. Sie drehen sich um, halten ihre Handys hoch und machen Selfies mit diesem lächerlichen Propheten im Hintergrund, dann gehen sie weiter.
»Erwartet das Ende!«, ruft der ihnen nach.
Ich gehe an ihm vorüber, halte plötzlich inne und wende mich langsam zu ihm um. Von wegen Prophet … das wird doch nicht …? Ich gehe ein paar Schritte zurück in seine Richtung und verharre. Er sieht mich scharf an und schleudert mir entgegen: »Das erste Siegel ist geöffnet! Die Apokalypse hat begonnen.«
Klingt nach Bibel. Wie bei Habakuk. Jetzt bleiben weitere Leute stehen. Vielleicht nicht seinet-, sondern meinetwegen. Wenn ich schon hier stehe und so gebannt lausche, denken sie vermutlich, dann passiert hier vielleicht was Interessantes. Und je mehr stehen bleiben, desto spannender wirkt das Ganze. Genau wie die Sache mit den gekauften Followern, es funktioniert auch analog. Oder hat schon immer so funktioniert. Rasch hat sich eine kleine Menschentraube gebildet, wieder machen einige Leute Fotos. Fürs Erinnerungsalbum an damals, an diesen einen verrückten Tag, an dem wir kein Internet hatten. So werden wir wahrscheinlich später mal sagen. Wisst ihr noch? Ein paar Stunden lang waren wir offline und alle haben voll am Rad gedreht.
»Kehrt um und tut Buße!«, lamentiert der Kerl. »Erwartet das Ende!«
Sein Repertoire ist anscheinend recht limitiert. Niemals würde Habakuk so bescheuert herumzetern. Nein, echt nicht. Das ist er auf gar keinen Fall. Außerdem bin ich mir sicher (keine Ahnung warum), dass er eher in meinem Alter sein muss, irgendwas zwischen zwanzig und dreißig. Kann ja sein, dass dieser Typ hier auch ohne Internet-Zusammenbruch jeden Tag an irgendeiner Kreuzung steht und den Weltuntergang predigt – ein psychotischer Obdachloser oder so. Die Fußgängerzonen solcher Großstädte sind doch voll von verschrobenen Gestalten. Sie fallen einem nur meistens nicht so auf, weil man von einem Termin zum anderen rennt oder auf seine Shoppingtour fokussiert ist. Oder eh die ganze Zeit auf sein Handy glotzt. So wie ich jetzt gerade wieder. Auch psychotisch irgendwie.
Ich löse mich aus der Gruppe der Umstehenden und lasse den verstrahlten Schreihals mit seinem Publikum zurück, frage mich weiter durch. Raus aus der Fußgängerzone, über eine große Kreuzung, die von Autos restlos verstopft ist. Erst jetzt fällt mir auf, dass alle Ampeln ausgefallen sind. Anscheinend werden die auch übers Internet gesteuert. Zwei einsame Polizisten versuchen, den Knoten zu entwirren und den Verkehr zu regeln, doch nichts bewegt sich vor- oder rückwärts. Offenbar wollen doch sehr viele Menschen nach Hause, die meisten sind sicher Pendler. Da werden sie Geduld brauchen. Ich schlängle mich durch die Blechlawine hindurch und laufe weiter. Vorbei an Straßenbahnhaltestellen mit blinden Anzeigetafeln, an denen unverdrossen ein paar ältere Menschen stehen und fast trotzig die leeren Gleise hinauf und hinab schauen. Laufe vorbei an einem Supermarkt, vor dessen Tür sich bereits eine Schlange gebildet hat, weil nicht alle gleichzeitig mit ihren Einkaufswagen in den Laden hineinpassen. Vorbei an einer Schule, vor deren Tor besorgte Eltern stehen, die sich überzeugen wollen, ob es ihren Kindern gut geht. Keine Ahnung, was sie eigentlich befürchten. Vielleicht haben sie bloß Sorge, dass sie ohne Handynetz einfach nicht mitkriegen würden, falls
irgendwas passiert.
Und endlich erreiche ich diesen Barbarossaplatz. Lange bevor ich ihn sehen kann, höre ich ihn. Als hätten sich hunderte Autofahrer verschworen, so lange und so infernalisch auf ihre Hupen zu drücken, bis das Internet zurückkommt. Ich betrete eine Apokalypse aus Hass und Höllenlärm.
Habakuk schrieb mir lange nicht. Als müsse er erst in Ruhe über meine letzte Frage nachdenken. Dafür bekam ich etliche Mails mit Absagen. Schon wieder. Diesmal kamen sie aus Berlin, direkt aus dem Bundestag. Ich hatte mich in den Büros verschiedener Abgeordneter um einen Praktikumsplatz beworben. Natürlich viel zu spät. Es war schon Mai, das Semester endete im Juni. Leider, leider derzeit keine Stellen vorhanden beziehungsweise schon besetzt, viel Erfolg für Ihre Bemühungen, bla, bla, schönes Leben noch. Die Absagen hätten von Bots verfasst sein können oder von einem Crowdie wie mir. Oder sie stammten von denjenigen Praktikanten, die einfach schneller gewesen waren als ich und nun schon eine Stelle hatten.
Eigentlich gab es für mich keinerlei Verpflichtung, irgendein Praktikum zu absolvieren, aber ich wollte unbedingt eines machen. Ich brauchte Praxiserfahrung, ich brauchte mal andere Leute um mich herum, einen Tapetenwechsel, wollte wenigstens für eine Weile aus dieser Bude hier rauskommen. Und ein Bett irgendwo in Berlin würde sich für kleines Geld ergattern lassen, musste ja nichts Tolles sein. Aber in Berlin wollten sie mich wohl nicht. Jedenfalls nicht im Bundestag. Mir war natürlich klar, dass es für einen Politikstudenten tausende möglicher Praktika gab. So unklar das Jobprofil eines Politologen ist, so vielfältig wären die Einsatzfelder. Und in Berlin gibt es so viele Stiftungen und Organisationen, die einen wie mich doch sicher brauchen könnten, von mir aus auch Lobbyisten. Nur reizte mich das nicht. Ich wollte nicht im Hintergrund für einen Club arbeiten, der seinerseits im Hintergrund bleibt. Ich wollte im Hintergrund für einen richtigen, gewählten Politiker arbeiten. Hinter der Bühne von jemandem, der selber richtig im Rampenlicht steht.
Ich weiß gar nicht mehr genau, wie ich auf Solveig Sander kam. Vielleicht durch einen gesponserten Link auf Facebook oder durch eine Empfehlung des unergründlichen Algorithmus von YouTube im Anschluss an irgendein anderes Video – jedenfalls wurde ich auf sie aufmerksam. Sie saß zwar nur im Landtag von Nordrhein-Westfalen und nicht im Bundestag, und sie schien in ihrer Fraktion auch nicht gerade die große Nummer zu sein. Doch sie polarisierte mit manchen ihrer Positionen. Etwa der Forderung, das Internet müsse langfristig verstaatlicht werden. Das hielt ich für Blödsinn, aber mir fiel auf, dass sie – oder ihr Redenschreiber – offenbar ein Fan von Habakuk war. Darum baute ich einen Nebensatz in meine Bewerbungsmail ein, der mich interessant wirken lassen sollte: … so inspiriert mich auch der Austausch mit Netzaktivisten wie zum Beispiel dem Blogger Habakuk.
Ich wollte doch eigentlich nicht damit rumposen, dass ich Kontakt zu ihm hatte. Klar. Aber ich konnte der Versuchung nicht widerstehen. Ich hängte meinen Lebenslauf an die Mail an und schickte sie ab. Keine Stunde später kam der Anruf und am übernächsten Tag fuhr ich zum Vorstellungsgespräch nach Düsseldorf.
Dort passierte ich die Sicherheitsschleuse und bekam einen Besucherausweis, den ich mir schick an die Knopfleiste meines Hemds heftete. Das Hemd hatte ich mir extra noch schnell gekauft, dazu trug ich Jeans und Sakko und hatte damit offenbar den Dresscode für Herren unter fünfunddreißig getroffen, wenn ich mir so ansah, wer da durchs Foyer und die breite, geschwungene Treppe hinauf- und hinunterlief. Die jungen Frauen trugen ganz überwiegend Röcke und Stiefel und die Haare als Dutt. Natürlich gab es da auch Männer im Anzug, Frauen im Businesskostüm, einige waren vielleicht sogar Abgeordnete, aber mich interessierten nur die Jüngeren, das Heer der Praktikanten, wissenschaftlichen Mitarbeiter, Assistenten – Leute, die den Politikbetrieb am Laufen hielten. Während ich an der Bar im Foyer wartete, dachte ich an Habakuk. Ich hatte zwar keine Vorstellung von seinem Gesicht, aber ich war mir unwillkürlich sicher, dass er mir einen verächtlichen Blick schenken würde, wenn er mich hier sähe. An deiner Stelle würde ich nicht drauf setzen, als kleines Rädchen im Getriebe was zu verändern, sondern lieber versuchen, das große Rad zu drehen. Solche Formulierungen liebte er. Aber er war ja nicht ich.
»Herr Karim?« Ein etwa Vierzigjähriger in Jeans, Hemd und Sakko streckte mir die Hand hin. »Berkant Yilmaz. Wir hatten vorgestern telefoniert.«
»Richtig. Hallo.« Ich schüttelte seine Hand und wusste weiter nichts zu sagen. Berkant Yilmaz war der Referent der Abgeordneten Sander. Schrieb er auch ihre Reden?
»Wir gehen nach oben ins Büro«, sagte er und lächelte. »Nehmen Sie den Kaffee ruhig mit.«
Ich folgte ihm die Treppe hoch und durch lange Gänge, bevor wir einen relativ kleinen Raum betraten, in dem zwei Schreibtische einander gegenüberstanden. An der Wand gab es noch eine Art Katzentisch.
»Das könnte Ihr Arbeitsplatz sein«, sagte er und wies lächelnd auf den Stuhl davor. »Bitte.«
Ich hockte mich hin und drehte mich zu ihm, er setzte sich hinter seinen Schreibtisch und klickte in seinem Computer herum, sicher rief er meine Bewerbung auf den Bildschirm. Verrückterweise wurde mir erst in diesem Augenblick bewusst, dass ich nie zuvor im Leben irgendein Bewerbungsgespräch geführt hatte.
»Sie sind also ein Fan von Habakuk.«
Das sollte wohl die Gesprächseröffnung sein. Netter Zug von diesem Yilmaz, dass er erst mal ein bisschen Smalltalk anfing, bevor er mich nach meinen Fähigkeiten, meiner Motivation und all dem Zeug fragte.
Also plauderten wir ein bisschen über den Blog und das große Rätsel, wer denn eigentlich dahinterstecken mochte, bis er unvermittelt das Thema wechselte: »Erzählen Sie mir von Ihrem Job bei CAP
.«
Das brachte mich aus dem Konzept.
»Na ja, ich … klicke.«
»Sie klicken.« Er legte den Kopf schräg.
»Ich … ja, ich mach eben so Zeugs für …« Idiot! Kannst du keinen einzigen vollständigen Satz rauskriegen? »Es ist halt Crowdworking, da weiß man oft gar nicht … aber ich bin inzwischen ganz schön schnell.«
Immerhin dieser Textbaustein passte doch in ein Vorstellungsgespräch, oder?
Er zog die Augenbrauen hoch, warf einen kurzen Blick auf den Bildschirm, sah mich wieder an und fragte: »Kennen Sie irgendjemanden bei CAP
persönlich? Also, ich meine nicht andere Clickworker, sondern jemanden aus der Firma? Hatten Sie da schon mal Kontakt?«
»Nein … warum?«
»Ach, nur so interessehalber. Ist nicht wichtig.«
Er sah wieder auf seinen Bildschirm und ich spürte sofort, dass es ganz im Gegenteil wirklich wichtig sein musste. Und dass meine Antwort ihn nicht froh machte.
»Okay … also Ruhr-Uni«, murmelte er, »da hab ich auch mal studiert. Bochum ist mehr fancy, als man so denkt, hm?«
Ich wollte nicken, doch ich konnte mich nicht dagegen wehren zu überlegen, ob es, rein grammatisch, tatsächlich eine Steigerung für das Wort fancy
gibt. Und warum ich es so dermaßen bescheuert finde, wenn Leute seines Alters überhaupt solche Wörter benutzen. Er seinerseits fragte sich sicher, warum er die Stelle in meinem Anschreiben überlesen hatte, wo ich schrieb, dass ich Autist sei. Wenn ich jetzt nicht endlich mal was Vernünftiges sagte, würde das hier in einem vollständigen Desaster enden.
»Also, wie ich ja schon geschrieben habe«, setzte ich wieder an, »halte ich die Agenda von Frau Sander für absolut zukunftsweisend, und es wäre mein Ziel, an diesen Themen mitzuarbeiten. Vor allem hinsichtlich einer konsequenten Demokratisierung des Internets …« Na bitte, geht doch. Ich musste mir einfach nur vorstellen, ich würde gar nicht sprechen, sondern schreiben, und schon kamen geschliffene Sätze aus meinem Mund. Doch sein hohles Lachen unterbrach mich.
»Demokratisierung«, wiederholte er. »Ich halte den Begriff inzwischen für nicht mehr so zielführend.«
Verdammt!
Ich widersprach: »Aber auf YouTube gibt es eine Rede von Frau Sander, da hat sie …«
»Schon gut«, unterbrach er mich, »ich kenne die Rede, ich habe sie schließlich geschrieben. Aber haben Sie zufällig auch den Blogbeitrag von Habakuk gelesen, der sich auf diese Rede bezog?«
»Ich weiß das jetzt nicht direkt, kann sein … keine Ahnung.«
»Da schrieb er, dass das Wort Demokratisierung
heute eigentlich nur noch benutzt wird, wenn man irgendwelche arabischen Länder bombardiert. Sie wollen doch das Internet nicht etwa bombardieren, Herr Karim?«
Gegen meinen Willen musste ich grinsen. Das war typisch Habakuk. Auch Yilmaz lachte kurz, dann fragte er mich unvermittelt: »Wie haben Sie das angestellt? Mit Habakuk?«
»Bitte?«
»Na, Sie schreiben hier in Ihrer Bewerbung, Sie stünden im Austausch mit ihm. Ich habe vergeblich versucht, Kontakt zu ihm aufzunehmen. Wie viele andere auch. Ohne Antwort. Ich kenne niemanden, dem es gelungen ist.«
»Ich habe halt seine Mail-Adresse.«
Dieser lapidare Satz war mir einfach rausgerutscht. Ein bisschen frech für ein Vorstellungsgespräch, aber plötzlich war meine ganze Unsicherheit fort. Ich spürte, dass ich etwas hatte, was er wollte. Keinen blassen Schimmer warum, aber es war so.
»Sie möchten es nicht erzählen?«
Ich lächelte bloß.
Er sah mich eine Weile an und ich hielt seinem Blick stand. Ich war unerklärlicherweise absolut cool, ich hätte für Stunden so sitzen können.
Schließlich sagte er: »Okay, Herr Karim, wir freuen uns, wenn Sie ab Juli für vier Wochen unser Team verstärken.«
Das war alles. Er stand auf. Verrückt.
Es hätte mich echt stutzig machen sollen.
13.40 Uhr
Dieser Barbarossaplatz ist gar kein Platz, wie ich dachte, also kein Ort mit Bäumen und Brunnen und Bänken, sondern bloß ein verwirrender Knoten aus etlichen einander kreuzenden Straßen und Stadtbahnlinien, in dem sich hunderte Autos rettungslos verknäult haben. Hier versucht die Polizei gar nicht mehr, irgendwas zu regeln, sondern bloß die Lage unter Kontrolle zu halten. Beamte gehen von Wagen zu Wagen, um die aggressiven Insassen zu beruhigen, zwei Polizisten stehen vor einem großen Sparkassengebäude und winken die Leute fort, die wohl nachsehen wollten, ob man nicht doch noch Bargeld abheben kann. Andere fügen sich in ihr Schicksal, etwa zwei Frauen, die auf der Motorhaube ihres Wagens sitzen und Döner essen, andere Fahrer haben ihre Sitze in Liegeposition heruntergefahren und lesen Zeitung. Wobei die Zeitung eigentlich keinen Informationswert mehr hat, denn die Welt, von der die Blätter berichten, die gibt es inzwischen nicht mehr. Jedenfalls zum jetzigen Zeitpunkt.
Vor einem Imbissladen hat sich wieder mal eine Menschentraube um ein Radio herum gebildet. Ich bin eigentlich neugierig, ob es aktuelle Entwicklungen gibt, aber vor allem bin ich inzwischen spät dran. Wieder und wieder sehe ich auf mein Handy – nicht nur in der Hoffnung, es könnte plötzlich wieder ein Netz finden (tut es nicht), sondern vor allem wegen der Uhrzeit. Mit vielen anderen Fußgängern schiebe ich mich im Slalom um die Autos herum bis zur anderen Seite des Platzes, wo die Luxemburger Straße beginnt. Die ist allerdings sehr viel länger, als ich dachte. Ich folge der Autokolonne, die sich im Schneckentempo stadtauswärts bewegt. Zu Fuß bin ich schneller als sie. Leider weiß ich die Hausnummer des Kinos nicht und kann natürlich auch nirgendwo nachsehen. Ich erinnere mich daran, als ich ein kleines Kind war – da gab es in Telefonzellen noch Telefonbücher. Megadicke Wälzer, die an einer Stange verankert nach unten hingen. Man konnte sie nach oben drehen und dann wie ein normales Buch aufschlagen, um Nummern und Adressen zu suchen. Das gibt es heute nicht mehr. Zumindest habe ich geschnallt, dass ich die Luxemburger Straße von Anfang an hinunterlaufe. Damit ist immerhin ausgeschlossen, dass ich in die falsche Richtung gehe. Doch als ich eine Frau nach dem Kino frage, streckt sie nur den Arm so weit aus, als wollte sie zum Horizont zeigen.
»Das ist noch richtig weit«, sagt sie.
»Okay, danke.«
Ein Blick auf die Uhr, dann verfalle ich in einen leichten Trab. Wird er auf mich warten? Wenn ja, wie lange? Kommt er überhaupt? Lebt er in Köln und kann mit dem Fahrrad zum Kino fahren? Vielleicht wohnt er selbst auch nicht hier und sitzt in diesem Augenblick in einem von diesen Autos fest? Oder in einem Zug auf freier Strecke? Ich renne schneller. Die Straße scheint wirklich bis zum Horizont zu gehen. Leute schauen mir nach. Gucken, wo ich wohl hinlaufe. Oder wovor ich weglaufe. Als hätten sie noch nie gesehen, dass jemand einen Bürgersteig entlangsprintet. In so einer Ausnahmesituation ist das Gehirn wohl darauf gepolt, jede noch so kleine Veränderung der Umgebung sofort skeptisch zu registrieren. Instinkte. Hunderttausend Jahre alt. Werden auch das Internetzeitalter überleben. Meine Beine brennen, meine Lunge kocht, ich verfalle wieder in einen Trab, bleibe stehen, atme tief durch, wische mir den Schweiß von der Stirn. Gehe weiter. Meine Zunge klebt am Gaumen. Ob ich mir rasch eine Flasche Wasser kaufe? Nein. Keine Zeit. Und kein Geld. Grotesk! Erst jetzt wird mir das richtig bewusst. Ich habe dreizehn Euro, und die sind, solange man nirgends mit Karte bezahlen kann, mein ganzes Vermögen in diesem Augenblick. Ich kann kein Bargeld abheben, kein Bahnticket kaufen, in keinem Hotel einchecken; ich kenne überhaupt niemanden in dieser Stadt oder in der ganzen Region, bei dem ich auf dem Sofa pennen könnte, nicht mal Freunde von Freunden von Freunden. Ich werde zu Fuß nach Bochum zurücklaufen müssen, oder wenigstens nach Düsseldorf, da kenne ich ja inzwischen ein paar Menschen durch das Praktikum. Aber natürlich habe ich weder ihre Adressen noch ihre Festnetznummern, nein, ich muss nach Hause zu meiner Studenten-WG
laufen, das kann ein oder zwei Tage dauern, keine Ahnung, und so lange muss ich mit dreizehn Euro auskommen, unfassbar. Ich könnte natürlich versuchen, per Anhalter zu fahren, aber wenn ich mich hier so umsehe, würde das noch länger dauern.
Und dann gibt es da noch Manfred. Manfred, der mir den Chip anvertraut hat. Den Chip und die kryptische Ankündigung von all dem, was gerade hier geschieht. Er weiß irgendwas – etwas, von dem ich mir nicht mal vorstellen kann, was es sein soll. Und er hat eine Art Einladung ausgesprochen. Falls du mal abhauen musst – du oder auch dieser Habakuk – ich habe immer ein sicheres Plätzchen für Outlaws frei
.
Ich habe ihn wirklich für einen Spinner gehalten. Doch in der Welt von heute sind die Spinner von gestern womöglich die einzig normalen Leute. Vielleicht sollte ich lieber ihn suchen und nicht Habakuk. Ich müsste ihn finden und zur Rede stellen. Ihn fragen, was er mit der ganze Sache zu tun hat. Müsste ihn packen und schütteln und anschreien, dass er gefälligst das Netz wieder heile machen soll. Denn wenn er schon wusste, dass es kaputtgehen könnte, dann weiß er doch sicher auch, wie man es repariert.
Unsinn.
Das Date mit Habakuk ist inmitten dieser verrückten Welt das einzig Reale, was mir bleibt. Darum weiter, bloß weiter, nur bis vierzehn Uhr zum Kino kommen, vielleicht ist er wirklich da, Habakuk, vielleicht wird dann eh alles anders, wenn wir uns treffen, wenn wir zusammen weiterziehen, er und ich, wir wären doch bestimmt ein gutes Team.
Ich nähere mich einem großen Gebäudekomplex und sehe Blaulicht, sehr viel Blaulicht, ich entdecke die Schilder: Landgericht. Amtsgericht. Arbeitsagentur.
Davor eine Polizeikette und davor wiederum eine Menschenmenge. Was wollen die? Warum zur Hölle wollen die ausgerechnet jetzt zum Jobcenter? Keine Ahnung, muss ich auch nicht verstehen, genauso wenig wie die Helikopter-Eltern vorhin an dieser Schule oder wie die Wut all dieser Autofahrer – als hätten die noch nie im Stau gestanden, als gäbe es irgendwas Wichtiges zu verpassen, ausgerechnet jetzt, wo sowieso das ganze Land stillsteht, ja die ganze Welt. Instinkte halt.
Ich laufe weiter, über eine große Kreuzung hinweg, sehe wieder aufs Handy, noch zwei Minuten, ich beginne wieder zu rennen. Und wäre um ein Haar an dem Kino vorbeigerannt, denn es liegt auf der anderen Seite der mehrspurigen Straße. Völlig unscheinbar zwischen einem Fitnesscenter und einer Bank, die Türen sind geschlossen und alles dunkel hinter den Scheiben. Nach Luft ringend mache ich kehrt, schiebe mich durch die Autoreihen, stolpere über den grünen Mittelstreifen, die verwaisten Straßenbahngleise und die beiden kaum befahrenen Straßenspuren, die stadteinwärts führen; schleppe mich zum Eingang des kleinen Kinos und starre auf den in seiner Lakonie geradezu unverfrorenen Zettel, den jemand mit Tesafilm von innen an die Scheibe geklebt hat: Geschlossen.
Trotzdem ziehe, reiße, rüttle, randaliere ich an den Griffen und meine Faust hämmert gegen das Glas, noch bevor ich merke, was ich da tue. Plötzlich verstehe ich die ganze Wut der anderen. Geschlossen! Bullshit! Nicht mal warum, nicht mal wie lange, keine einzige bekackte Information, nichts, es gibt einfach keine Informationen mehr, keine gottverdammten Daten, kein Okay, Google, zeig mir dies und sag mir jenes,
kein verficktes Alexa, spiel Musik, bestell Klopapier, sag mir, wer ich eigentlich bin!
Die Hand tut mir weh. Ich beruhige mich und schaue mich um. Nicht weit von mir steht eine große, etwas stämmige Frau ungefähr in meinem Alter. Sie hat offenbar meinen Wutausbruch beobachtet, doch jetzt, da ich mich zu ihr herumdrehe, wendet sie sich ab. Dabei wirft sie eine lange schwarze Locke aus ihrer Stirn nach hinten, als wolle sie damit eine lästige Fliege verscheuchen, beziehungsweise mich. Dann sehe ich, wie sie sich eine Zigarette anzündet. Fast beneide ich sie darum, denn sie hat etwas, um sich die Zeit zu vertreiben, und sie weiß, was sie mit ihren Fingern anstellen soll, während ich … What the fuck! Diese schwarzen Locken und die Zigarette – spinne ich? Ganz langsam gehe ich von hinten auf sie zu, bis sie sich abrupt wieder zu mir umwendet. Nee, oder?