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Im Jahr 1989 schrieb Tim Burners-Lee den ersten richtigen Hypertext und entwickelte den ersten Webbrowser. Drei Jahre später war der junge Manfred Morena zum ersten Mal im World Wide Web unterwegs. An der Uni hatte er vorher schon mit anderen Nerds (das Wort kannte da noch niemand, es traf aber zu) über eine Mailbox kommuniziert, und wenn man online gehen wollte, musste man ein Modem an die Telefonleitung im Studentenwohnheim anschließen, das sich unter infernalischem Krach mit dem Internet verband. Das Netz der frühen Neunziger bestand nur aus Text, es gab noch keine Websites mit Grafiken, geschweige denn mit bewegten Bildern, aber Chatrooms gab es, und seine erste Zufallsbegegnung führte Manfred mit einem amerikanischen Studenten in Berkeley zusammen, der vom End of History fantasierte, vom Weltfrieden und von ewiger Demokratie. (Das klang auch 1992 schon verrückt, aber kurz nach Ende des Kalten Krieges weniger absurd als heute.) Jessica hockte auf dem Bett in Manfreds Wohnheimzimmer und lugte ihm über die Schulter, sie las seine Chats mit und sprach das aus, was er dachte: »Stell dir vor, in zehn Jahren kann sich jeder Mensch auf dieser Welt mit jedem anderen vernetzen.«
Er stellte es sich vor.
»Stell dir vor«, sagte sie, »wir können über alles reden, alles träumen, wir können uns solidarisieren, weltweit, alle können frei sein, alle können teilhaben!«
Er stellte es sich vor.
Sie grinste und sagte: »Die Diktatoren da draußen können sich warm anziehen. Und die Kapitalisten auch.«
Auch das stellte er sich vor und lächelte.
Knapp zehn Jahre später schickten die Kapitalisten böse Briefe an Jessica und ihn und wollten ihr Geld zurück. Die Dotcom-Blase war geplatzt, die New Economy lag in Trümmern und sie mussten es ihren Angestellten sagen. Dabei hatten sie so ein wunderschönes kleines Start-up aufgebaut und für eine Weile gedacht, man könnte Markt und Menschen versöhnen, es waren schließlich die Neunziger – New Labour, Neue Mitte – und die erste Umsatzmillion feierten sie total ironisch in weißen Bademänteln mit dicken Zigarren, um sich vorzugaukeln, dass es eigentlich um Selbstverwirklichung ging und gar nicht ums Geld. Sie entwickelten Software-Lösungen für Bildung, Beteiligung und Fairen Handel, eine dynamische kleine Firma mit flachen Hierarchien und ohne Dresscode und so, alles super locker, Großraumbüro und Billard-Lounge in einem, Skateboards und Pizzakartons im Flur, eine wilde Bande junger Leute, fröhliche Fünfzehn-Stunden-Tage, super Team, super Flow, super locker … super Scheiße jetzt. Sie mussten alle entlassen, von jetzt auf gleich, und Manfred würde ihre fassungslosen Blicke niemals vergessen.
Jessica und er hatten ihre Lektion gelernt. Der Neue Markt war zwar tot, aber die IT -Branche nahm erst richtig Fahrt auf. Gerd Schattmann kam an Bord; der hatte BWL studiert und gemeinsam mit ihm zog das Informatiker-Pärchen eine neue Firma hoch. Eine? Nein, es waren drei, vier, fünf, es ging um Webdesign oder Content-Management und B2B oder P2P etc. etc., die meisten Projekte scheiterten irgendwann oder gingen in anderen auf, Trial and Error. Aber CAP blieb übrig. Crowd And Power. Masse und Macht. Statt den Kapitalismus zu demokratisieren, hatte das Netz längst begonnen, die Demokratie zu kapitalisieren, denn inzwischen kann jede Person nach hunderten Kriterien gerankt oder geratet werden, wir alle sind Empfänger und Sender zugleich, Konsumenten und Produzenten, Ausbeuter und Ausgebeutete, der Klassenkampf verlagert sich von der Gesellschaft ins Individuum und von der Straße und den Betrieben in die Coaching-Praxen und Fitnessstudios; auch Manfred war echt nicht mehr der Jüngste und musste sich mächtig ranhalten, um in Form zu bleiben. Selbstoptimierung ist kein Zuckerschlecken. Manfred kaufte sich ganz unironisch einen Porsche Cayenne und ging nicht mehr zu den Treffen vom Chaos Computer Club.
Die Zahlen von CAP waren nicht berauschend, kein Vergleich zur Euphorie der späten Neunzigerjahre, dafür waren sie aber jetzt realistisch und insgesamt okay. Trotzdem hatte Manfred einfach keine Lust mehr auf Bilanzen und Investor Relations und Stehempfänge mit exotischem Fingerfood, er wollte einfach bloß wieder programmieren wie früher und zog sich aus der Geschäftsleitung zurück (so wie Jessica sich aus seinem Bett zurückzog, es kam ihm folgerichtig vor, ohne dass er sagen konnte, wieso). Da Gerd durch seinen Burn-out ausgeknockt war, trug sie nun ganz allein die Verantwortung und siehe, die Zahlen wurden besser und besser. Wie das kam, interessierte ihn nicht sonderlich, und vermutlich hätte er nie von Olena erfahren, wenn Jessica nicht aus dem gemeinsamen Schlafzimmer ausgezogen wäre. Es ist natürlich stillos, der eigenen Frau hinterherzuspionieren, aber seine Kränkung war stärker als sein Stilbewusstsein. Umso mehr erschütterte ihn, dass Jessica auf ihren mysteriösen Reisen nach St. Petersburg keinen heimlichen Liebhaber traf, sondern dass die Agentur, von der sie sprach, tatsächlich existierte – bloß, dass es sich dabei um eine sogenannte Trollfabrik handelte, die tausende Bots züchtete, um damit Stimmungen in sozialen Netzwerken zu beeinflussen – die Brexit-Abstimmung, die französische Präsidentenwahl, deutsche Landtagswahlen … CAP verkaufte ihnen terabyteweise Metadaten. Jessica hatte nicht ihre gemeinsame Ehe verraten, wie Manfred dachte, sondern ihre gemeinsamen Ideale, das kam ihm viel schlimmer vor. Und er wollte mehr über Jessicas Kontaktperson wissen. Doch als er in Olenas Computer eindrang, entdeckte sie ihn sofort.
Was willst du?, schrieb sie ihm. Und: Weiß deine Frau davon?
Olenas Offenheit war in jeder Hinsicht entwaffnend. Sie hatte gut recherchiert, schien jede Einzelheit aus Manfreds Leben zu kennen und schlug ein Treffen vor. Kiew, Ukraine, neutraler Boden. Erst später verstand er, dass sie selber von dort stammte. Sie hatte in Berlin studiert und sprach sehr gut Deutsch.
»Warum wolltest du mich treffen?«, fragte er, als sie sich im Frühstücksraum eines Kiewer Hotels gegenübersaßen.
»Noch nie hat es jemand geschafft, mich zu hacken. Außer dir. Das macht mich neugierig.«
Sie saßen zu zweit an einem kleinen runden Tisch und um sie herum standen viele weitere kleine runde Tische, an denen jeweils ein Mann über fünfzig mit einer jungen Frau zusammensaß. Die Frauen trugen ausnahmslos sehr hohe Schuhe und sehr lange Haare und die Männer sahen sehr reich aus. Manfred hatte keine Rolex am Handgelenk und keine schweren Ringe an den Fingern, und Olena war deutlich über dreißig, außerdem klein, drahtig, mit kurzen roten Haaren, aber ansonsten unterschieden sie sich wenig von den anderen. An der Bar lungerten muskulöse junge Typen herum und sondierten den Raum mit finsteren Blicken, das waren vermutlich die Leibwächter der anwesenden Herren. Dass Olena diesen Ort ausgewählt hatte, war skurril und vielleicht auch genial, das vermochte er nicht einzuschätzen. Mit leiser, aber klarer Stimme erzählte sie ihm vom Globalen Komitee. Einem Zusammenschluss von Hackern auf der ganzen Welt – zwanzig oder hundert oder tausend? Das wurde aus ihren Worten nicht klar –, Leute von überallher: NSA , GCHQ , GRU oder Mossad; Mitarbeiter von Google oder Microsoft; kriminelle Hacker im Dienste von Konzernen, Waffenhändlern, Drogenschmugglern oder Terrorgruppen, die keine Lust mehr hatten, als Kryptosöldner ihre Fähigkeiten jedem wirtschaftlichen oder politischen Interesse anzudienen, solange bloß die Kasse stimmte. Sie waren vereint in dem Wunsch, endlich einmal auf eigene Rechnung zu arbeiten. Für eigene Ziele.
Was das für Ziele seien? Sehr verschiedene. Hass auf den Kapitalismus, Kampf gegen den Klimawandel oder gegen die ständige Überwachung oder einfach der Traum, in die Weltgeschichte einzugehen. Verschiedene Ziele, aber ein gemeinsamer Weg dorthin: der Zusammenbruch des Internets.
Und der Schlüssel dazu: Herostratos . Eine Art KI , ein selbstlernender Trojaner, der sich eigenständig orientiert, Lücken findet und sich unsichtbar einnistet, um im genau vorherbestimmten Moment loszuschlagen.
»Wir werden unser Baby nach und nach in Millionen Systeme einschleusen, bevor wir es zum Leben erwecken«, sagte Olena. Manfred musste sich unwillkürlich umschauen, ob da nicht jemand heimlich lauschte, aber die Pärchen ringsum waren mit sich beschäftigt und die Leibwächter mit Böse-Gucken. »Wir haben schon sehr viele Zero-Days gesammelt, aber wir brauchen noch mehr.«
»Du erzählst mir das, um mich zu fragen«, sagte Manfred, »ob ich bei eurem Komitee einsteige?«
Sie nickte.
»Und wenn ich das nicht mache?«
Sie lachte leise.
»Keine Angst, niemand wird dich umbringen wegen dem, was ich dir gerade erzählt habe. Du könntest sofort nach Washington fliegen und der NSA von unserem Gespräch erzählen, aber niemand wird dir glauben.«
»Warum nicht?«
»Wir sind Meister der Desinformation. Schon deshalb nicht. Außerdem passt das Globale Komitee nicht ins Bild. Was wir wollen, ist das Chaos. Hacker hassen Chaos, das weißt du selbst.« Wieder lachte sie. »Vor allem russische Hacker. Wir sind Strategen, wir lieben Schach, wir würden niemals willentlich Chaos anrichten. C’est ça.«
Jetzt musste auch Manfred lachen. Olena hatte recht (auch wenn sie keine Russin war, sondern Ukrainerin). Es klang auch für seine eigenen Ohren viel zu unglaublich, um wahr zu sein. Aber sie schien das tatsächlich so zu meinen.
Er fragte: »Wann wollt ihr diesen Herostratos starten?«
»Es dauert nicht mehr lange.«
»Ich hatte eigentlich den Plan …« Er merkte, dass seine Hände die Stoffserviette kneteten, und ließ es sofort bleiben. »Ich wollte Jessica auffliegen lassen. Ihre Verbindung zu eurer Agentur in St. Petersburg, all das.«
Olena zuckte mit den Achseln. »Die Agentur bedeutet mir nichts. Mein Verhältnis zu ihr ist wie das einer Hure zu einer Puffmutter. Und das ist Gott sei Dank bald vorbei. Sobald sich Herostratos aktiviert, wird es überhaupt keine Rolle mehr spielen, wen oder was du auffliegen lässt.«
»Für mich schon«, sagte er.
»C’est la vie.«
»Ich werde nicht bei euch einsteigen«, sagte er.
Sie nickte. Und Manfred wurde das Gefühl nicht los, dass er nicht mit irgendeinem Mitglied des Globalen Komitees sprach. Sondern mit der Chefin. Falls das Komitee überhaupt eine Führung hatte. Jedenfalls kam sie ihm so vor, als fühlte sie sich wie die Führung des Komitees. Die Art, wie sie über Herostratos sprach.
»Ich habe mich immer schon für Antike und Mythologie interessiert«, sagte er. »Herostratos war der Mann, der den Tempel der Artemis in Ephesos angezündet haben soll, eines der sieben Weltwunder. Er zerstörte den Tempel, um seinen Namen in der Geschichte unsterblich zu machen. Und obwohl es bei Strafe verboten wurde, seinen Namen zu nennen, ist er doch bis heute überliefert. Vielleicht war Herostratos der erste Influencer der Geschichte? Jedenfalls verstand er was von PR
Wieder nickte sie.
»Hast du vor, der neue Herostratos zu werden?«
Sie schüttelte den Kopf. »So heißt nur die Malware, nicht ich. Und ich habe auch keinen Bedarf an noch mehr Influence. Ich habe riesige Trollarmeen dirigiert und Zehntausende von Leuten manipuliert, das reicht mir. Ich mache es einfach, weil ich es kann. Mehr nicht. L’art pour l’art.«
»Glaub ich dir nicht«, sagte er.
Sie legte den Kopf schräg und lächelte.
»Was ist deine Motivation? Deine ganz persönliche?«
Ihr Blick wurde ernst. »Das Internet war einst ein Glücksfall für die Menschheit, eine Verheißung. Es hätte ein Segen für den ganzen Planeten werden sollen, aber inzwischen ist es ein Fluch. Im Westen hat es den Kapitalismus bis zur absoluten Gnadenlosigkeit entfesselt und in der östlichen Hemisphäre dient das Netz der lückenlosen Überwachung und Unterdrückung, wie es sich George Orwell nicht hätte ausmalen können. Siehe China. Es wird den Menschen zu denken geben, wenn sie mal ein paar Tage offline sind. Danach überlegen sie sich vielleicht einen anderen Umgang damit.«
»Ich kann nicht für den Osten sprechen, aber im Westen sind wir allzu vergesslich«, wandte Manfred ein. »Zu oberflächlich und getrieben. Wir zerreiben uns zwischen Projekt-Meetings, Tinder-Dates und Binge-Watching und unsere Politiker laufen den Populisten hinterher oder sind längst selbst welche. Ehrlich gesagt – ich sehe für das, was wir mal den Westen nannten, keine Hoffnung mehr, ob mit oder ohne Internet.«
»Am Ende siegt die Freiheit immer«, sagte sie.
»Kommt drauf an, was man als Ende definiert«, meinte er. »Ihr habt also tatsächlich vor, das Netz nach ein paar Tagen wieder freizugeben?«
»So haben wir Herostratos programmiert. Nach drei Tagen und drei Nächten wird er sich von alleine abschalten. Aber vorher sendet er eine Botschaft in die Welt hinaus, ein kleines Manifest unseres Komitees, Forderungen für ein freies, solidarisches, friedliches, gerechtes Netz. Alle angeschlossenen Drucker werden es in sieben Sprachen drucken, alle Beamer werden es an die Wände werfen, alle Handys werden es an alle WhatsApp-Kontakte versenden und alle E-Mail-Clients an alle Namen im Adressbuch.«
»Klingt nicht weniger totalitär als das, was ihr kritisiert«, sagte er.
»Unsinn. Natürlich ist es eine extreme Aktion. Wir müssen für einen einzigen Augenblick alle Aufmerksamkeit bündeln. Aber danach ist es ja vorbei. Herostratos deaktiviert sich selbst und jeder kann mit den Erkenntnissen tun, was ihm beliebt.«
»Ihr verlasst euch darauf, dass er sich alleine abschaltet? Es gibt keine Möglichkeit, ihn zu steuern?« Manfred schmunzelte. »Wenn ich so einen Code schreiben würde … eine derart mächtige Malware … ich hätte eine Hintertür eingebaut.«
Ganz kurz wich sie seinem Blick aus.
Das reichte. Für vieles. Plötzlich wusste Manfred, dass Olena sehr wohl eine Hintertür kannte, vielleicht hatte sie sie höchstpersönlich programmiert. Und dass diese Art, wie sie ihn anschaute, wegsah, die Augen wieder hob und hintergründig lächelte, nichts mehr mit dem Thema des Gespräches zu tun hatte.
23.57 Uhr
Was für eine Story! Ich habe so gebannt zugehört, dass mir erst jetzt auffällt, wie dringend ich pinkeln muss. Das Klo ist in einer kleinen Hütte hinter dem Haus untergebracht, zusammen mit der Dusche und dem Stromgenerator. Als ich herauskomme, steht Kalliope da und raucht.
»Eigentlich eine hammergute Idee«, meint sie.
»Was? Das Internet zu zerschießen? Ist das jetzt wieder Ironie?«
»Nee, keine Ironie.« Sie bläst eine Wolke aus, die sich im Mondlicht zu den Baumwipfeln kräuselt. Das Gewitter ist längst abgezogen und durch das Blätterdach des Waldes sieht man silbrige Wolkenfetzen ziehen. »Ernsthaft jetzt. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich zum letzten Mal einen ganzen Tag lang nichts gepostet oder kommentiert habe. Es tut mir gut.« Sie lacht. »Ja, wir sind heute zweimal von irgendwelchen Verrückten verfolgt worden, es war eigentlich der pure Horror. Und gleichzeitig komme ich mir erholt vor wie seit Ewigkeiten nicht.«
»Das hättest du auch einfacher haben können«, meine ich. »Wusstest du, dass man Handys in den Flugmodus schalten kann?«
»Anscheinend gibt es Gründe, warum ich’s normalerweise nie mache, hm?«
Sie drückt die Kippe aus, geht an mir vorbei und schließt sich im Klo ein. Ich gehe zurück ins Haus und gieße mir noch einen Whiskey ein. Ich muss mir irgendwas für meine Kontaktlinsen einfallen lassen, meine Augen sind schon ganz rot, wie ich vorhin im Spiegel gesehen habe.
»Könnte es denn sein«, frage ich Manfred, »dass die beiden Männer, die Kalliope und mich heute Morgen angegriffen haben, gar nicht für CAP arbeiten, sondern für dieses Globale Komitee?«
»Hm«, macht er. »Welchen Sinn könnte das haben? Sie wollten schließlich den Chip. Vielleicht gab es im Büro von Solveig Sander eine undichte Stelle und Jessica hat davon erfahren? Ich würde ihr so was eigentlich nicht zutrauen.« Er nimmt einen großen Schluck. »Aber dass sie mit dieser Agentur kollaboriert, hatte ich ihr schließlich auch nicht zugetraut.«
Eine undichte Stelle? Loresa? Berkant? Oder jemand anderes, der unsere Gespräche abgehört hat? Das Büro im Landtag kommt mir unendlich weit weg vor, so wie Malte und die WG mit dem Bad, wo meine Brille liegt. Düsseldorf, Bochum, Paderborn, alles Orte in einer anderen Galaxie. Not available.
»Was für ein absolut irrer Zufall«, sagt Kalliope, die gerade wieder reinkommt. »Es gibt siebeneinhalb Milliarden Menschen auf der Welt. Und ausgerechnet wir beide treffen den Mann, der mit der Frau geschlafen hat, die das Internet angezündet hat.«
»So habe ich das aber nicht ausgedrückt«, wehrt sich Manfred. Wird er etwa rot? Witzig.
»Na ja, zumindest hast du es angedeutet«, sage ich grinsend.
Anstatt darauf einzugehen, sagt er: »In der Mathematik gibt es keine Zufälle. Nur Wahrscheinlichkeiten. Kybernetik heißt, Dinge zu lenken. Das Wort Kybernetes bedeutet nämlich Steuermann. Alles, was mit Cyber zu tun hat, dreht sich darum, insofern …«
»Ist schon gut«, meint Kalliope.
Ich frage: »Was tust du jetzt mit deinem ganzen Wissen, Manfred? Hast du mal drüber nachgedacht, dass du die Cyberkalypse beenden könntest?«
»Ich?« Manfred tut überrascht.
»Klar, du. Du könntest dich sofort an die Behörden wenden und von Herostratos erzählen. Ich bin mir sicher, dass du genug darüber weißt, um denen zu sagen, wo sie suchen sollen.«
»Stimmt. Ich habe ihn sogar aus lauter Spaß auf meinem Rechner isoliert und untersucht.« Schmunzeln. »Aber ich habe keine Lust, die Cyberkalypse zu beenden. Sie gefällt mir.«
»Mir auch«, sagt Kalliope, hebt ihr Glas und die beiden stoßen an.
»Spinnt ihr?«, frage ich. »Kalliope, du hast es doch gesehen – in der Stadt herrscht das totale Chaos. Und heute war nur der erste Tag. Das wird noch viel schlimmer werden. Bevor die drei Tage vorbei sind, werden Mord und Totschlag herrschen. Diese hirnrissige Bürgerwehr ist nur ein armseliger Abklatsch von dem, was da noch passieren wird.«
»Mord und Totschlag?«, macht sie mich nach. »Ich wette mit dir: Heute ist der Tag, an dem nirgendwo ein Kind von einer Drohne getötet wurde. Heute ist der Tag, an dem die Warlords in Afrika überlegen, ob sie ihre Koltan-Minen schließen und die Kindersklaven nach Hause schicken, weil vielleicht niemand mehr neue billige Handys kaufen will. Heute ist der erste Tag seit langer Zeit, an dem kein einziger Teenager online gemobbt worden ist. Wo keine einzige Hassmail geschrieben worden ist und niemand unter das Facebook-Foto einer dunkelhäutigen Politikerin oder Schauspielerin oder Sportlerin seine Vergewaltigungsfantasien ergießen konnte.«
»Ja, da hört man den guten alten Habakuk«, sagt Manfred anerkennend.
Kalliope bremst sich unwillkürlich ab und meint: »Die Behörden werden sich organisieren, sie werden improvisieren und alles in den Griff kriegen. Es funktioniert doch sonst alles. Strom, Wasser und so weiter. Bloß halt kein Netz. Wir sind ja nicht in die Steinzeit zurückgeworfen worden. Höchstens in die Achtziger. Das werden wir alle überleben.«
Was sie sagt, klingt logisch. Aber ich sehe die Gesichter von Vera und ihren Freunden vor mir und bin nicht überzeugt.
»Weiß nicht, ob ich die Achtziger ein zweites Mal überleben würde«, meint Manfred und schmunzelt kurz, dann wird er wieder ernst. »Außerdem habe ich Zweifel, dass es wirklich nach drei Tagen endet.« Er nickt zu den beiden Notebooks hinüber, die auf der Arbeitsplatte des Sekretärs ruhen. »Ich sagte ja, ich habe Herostratos analysiert. Habe mich durch etliche Schichten gegraben, dieser Trojaner ist wirklich ein Meisterwerk, so komplex, so viele falsche Fährten. Dann habe ich spaßeshalber in der Firmware des Rechners das Datum um drei Tage vorverlegt; also dem System des Laptops vorgegaukelt, es wäre bereits Freitag. Ich wollte schauen, wie es ist, wenn der Trojaner sich selber abschaltet. Und hauptsächlich war ich neugierig auf das besagte Manifest des Globalen Komitees.«
»Na?«, frage ich. »Und?«
»Nichts. Kein Manifest. Und auch sonst nichts. Die Malware hat sich nicht abgeschaltet. Kann sein, dass sie sich von so einem einfachen Trick nicht überrumpeln lässt. Kann aber auch sein …«
»… dass Olena tatsächlich eine Hintertür eingebaut hat«, vollendet Kalliope. »Aber wozu? Was hat sie vor?«
»Das werden wir in drei Tagen wissen«, sagt Manfred gleichmütig. »Frühestens. Du siehst also, Amir, ich könnte die Cyberkalypse gar nicht beenden, selbst wenn ich wollte. Ich habe nur einen kleinen Wissensvorsprung. Der nutzt bloß niemandem. Irgendwie ein beruhigendes Gefühl.« Er reckt sich und gähnt, deutet mit dem Finger an die Decke und sagt: »Ihr könnt übrigens oben schlafen.«
Bitte? Wir können uns doch jetzt nicht schlafen legen. Es gibt noch tausend offene Fragen. Kalliope gähnt herzhaft. Ich auch, ohne es zu wollen. Tatsächlich bin ich komplett zerschlagen und todmüde.
»Aber sollte nicht irgendjemand Wache halten?«, frage ich. Der Satz klingt schräg, wie er da im Raum hängt, ein bisschen nach Rollenspiel. »Falls die Bürgerwehr noch mal wiederkommt«, schiebe ich nach, »oder der rote BMW
»Ich verlasse mich auf meine Bewegungsmelder«, antwortet Manfred. »Die Typen sollen mal ruhig kommen.«
Auf der Galerie steht ein breites Bett. Nicht unbedingt für zwei Personen gedacht, aber Kalliope und ich werden damit klarkommen. Manfred hat einen ansehnlichen Vorrat an Zahnbürsten, Duschgels, Rasierern und Deos, an denen ich mich bedienen darf. Am meisten bräuchte ich allerdings meine Brille sowie das Mittel, mit dem ich die Kontaktlinsen reinige, und das Döschen, in denen ich sie aufbewahre. Ich muss sie halt über Nacht drinlassen.
Manfred macht es sich auf dem Sofa vor dem Kamin bequem. Kalliope will vor dem Schlafengehen noch eine Zigarette rauchen und ich begleite sie nach draußen. Die beiden Baustrahler stehen wie stumme Wächter vor dem Haus und spähen misstrauisch in die Nacht hinaus, um im Zweifel sofort aufzuflammen, falls sich jemand nähert.
»Das mit der Hintertür«, sage ich, »was Manfred erwähnt hat. Wie hast du das verstanden?«
»So wie du vermutlich«, meint sie. »Dass diese Olena eine Möglichkeit offengelassen hat, die Malware doch noch zu steuern und – keine Ahnung – zu verändern?«
»Also die Cyberkalypse zu verkürzen oder zu verlängern, wie sie möchte. Oder vielleicht sogar: der Welt Bedingungen zu diktieren, um das Internet wieder freizugeben.«
»Die ganze Welt zu erpressen? Witzige Idee. Aber ich bin sicher, dass in diesem Augenblick zigtausende IT -Leute rund um den ganzen Planeten daran arbeiten, diesen Herostratos zu erwischen und zu deaktivieren. Egal, was Olena und dieses Globale Komitee tun oder lassen.«
»Aber stell dir mal vor«, sage ich, »nur mal als Gedankenexperiment – wir würden diese Olena treffen. Wir könnten uns mit ihr verbünden. Beziehungsweise Habakuk. Mit Olenas Hilfe würde Habakuk das Web noch mal ganz neu erfinden. Er hätte plötzlich die Möglichkeit, all das, was er immer angeprangert hat, zu beseitigen. Und stattdessen das zu erschaffen, wovon er immer geträumt hat. Ein faires Netz. Sozial und frei. Demokratisch, genossenschaftlich … weißt du noch, was du mir mal dazu geschrieben hast? Er würde ein komplett neues Internetzeitalter einleiten, man würde später eine ganze Ära nach ihm benennen.«
Kalliope zieht lange an ihrer Zigarette. Dann sagt sie: »Ich bin mir nicht sicher, ob Habakuk von so was träumt. Vielleicht ist er in Wahrheit nichts weiter als ein Tastenheld? Ein famegeiler Klickbaiter? Vielleicht fände er es im Gegenteil ganz gut, einfach ein paar Tage in den Wäldern zu bleiben und auszuspannen, bis die Cyberkalypse vorüber ist.«
»Habakuk hat gefordert, das ganz große Rad zu drehen, statt an den Symptomen zu werkeln«, widerspreche ich. »Weißt du das schon nicht mehr? Das klang vor ein paar Wochen noch voll abstrakt für mich, weil ich mir unter einem solchen Rad gar nichts vorstellen konnte. Aber jetzt gibt es dieses Rad tatsächlich. Olena und ihre Freunde haben es erschaffen.«
»Mag sein. Aber es ist zu groß für Habakuk. Auf alle Fälle zu groß für Kalliope.«
Sie drückt ihre Zigarette aus und geht hinein.
Als wir uns wenig später oben in Manfreds Bett unter die Decken kuscheln, natürlich mit einem gebührenden Abstand zueinander, flüstert sie mir zu: »Denk nicht mal dran.«
»Woran?«, flüstere ich zurück. »Meinst du etwa Sex?«
»Das auch.«
Na toll, wie kommt sie darauf, dass ich auf sie stehen könnte? Hält sie Männer generell für notgeil? Oder hat sie da wieder was in meinen Augen gesehen …
»Dass ich mit dir nach Olena suche«, flüstert sie. »Das Leben ist kein Hollywood-Blockbuster.«
»Schade eigentlich.«
»Dass das Leben kein Film ist? Oder dass hier nichts zwischen uns läuft?«
Ich suche nach einer guten Antwort, finde aber keine. Ich stütze mich auf den Ellbogen und versuche, ihr Gesicht im Dunkeln zu erkennen. Weil das nicht geht, denke ich stattdessen an ihren Rücken. Vorhin hat sie kurz ihr frisches T-Shirt aus dem Rucksack geholt und sich umgezogen, hat das Oberteil über den Kopf gestreift und den BH abgelegt, und sie hat da diese Lendengrübchen, die man eigentlich sofort knutschen möchte. Eigentlich .
»Mach du es doch«, sagt sie.
»Bitte?«
Liest sie meine Gedanken?
»Das Internet neu erfinden. Dir würde sicher was einfallen.«
»Ja, mir würde was einfallen. Aber ich bin niemand, der in der ersten Reihe steht. Das wäre eher was für dich. Für Kalliope. Für Habakuk. Ich bin der Mann im Hintergrund.«
»Du bist ein Feigling«, sagt sie. Es soll lustig klingen und ich frage mich, ob sie das auch deshalb sagt, weil ich nicht ihren Rücken küsse.