8
08.20 Uhr
Der Duft von Kaffee und gebratenen Eiern mit Speck weckt mich. Klingt wie ein Satz aus einer romantischen Komödie und tatsächlich komme ich mir einen Augenblick lang so vor. Dann aber spüre ich das leise Klopfen aus der Platzwunde an meinem Hinterkopf. Ich versuche, meine Augen zu öffnen, und das klappt erst mal gar nicht, weil sie völlig verklebt sind. Ich muss zu einem Optiker oder wenigstens zu irgendeinem Drogeriemarkt, sofort. Ich brauche Kontaktlinsenflüssigkeit und vielleicht eine Billigbrille, die man nicht erst anpassen muss, sondern sofort mitnehmen kann. Ich reibe mir die Augen einigermaßen frei und angle nach meinem Handy. Offline, Error, not available. Aber hätte ja sein können …
Helles Licht sticht durch ein schmales Dachfenster herein und lässt die ganze Geschichte über Olena und Herostratos noch absurder erscheinen als gestern Abend bei Whiskey und Kaminfeuer.
Kalliope ist schon aufgestanden. Sie sitzt unten mit Manfred an einem üppig gedeckten Frühstückstisch.
»Wie könnt ihr so früh am Morgen schon solche Sachen essen?«, frage ich, gehe zum Spülbecken und wasche mir vorsichtig die Augen aus, ohne die Linsen herauszunehmen. Davon werden sie nur noch trockener, das weiß ich.
»Eklig, wie du dir im Auge herumpopelst«, meint Kalliope.
»Eklig, dass du dir hier Speck und Eier reinpfeifst«, gebe ich zurück.
»Bist du etwa Veganer oder so was?«
»Nee. In meiner Vorstellung war Habakuk aber einer.«
Das stimmt. In meiner Fantasie war er ein absoluter Asket, von jedweden menschlichen Begierden frei, ein Astralwesen, das nur in der Welt seiner Thesen und Texte existierte. Meine Fantasie hat ja irgendwie recht behalten, was Habakuk betrifft.
Kalliope nimmt ihr Handy und fotografiert ihren Frühstücksteller, dann tippt sie auf ihrem Handy herum.
»Ist nicht dein Ernst, oder?«, frage ich.
»Die Macht der Gewohnheit.« Sie zuckt mit den Achseln. »Ist halt ein komisches Gefühl, dass außer euch beiden niemand weiß, wie ich diese Nacht geschlafen habe oder was ich heute anziehe oder was ich frühstücke.«
»Und?«, frage ich. »Wie hast du denn geschlafen?«
»So gut wie lange nicht.« Sie legt das Handy weg und grinst. »Es fühlt sich witzigerweise super an, etwas zu posten, was niemand lesen wird. Habt ihr gewusst, dass über achtzig Prozent aller Views bei YouTube auf weniger als ein Prozent aller Videos entfallen?«
Ich schaue Manfred an und frage: »Was will sie uns sagen?«
»Ich will sagen, dass eine Handvoll YouTuber die ganze Aufmerksamkeit abkriegt, während die allermeisten Videos nur von ein paar hundert Leuten angeklickt werden. Höchstens. Es gibt Filmchen, die haben vier oder fünf Views. Oder Insta-Accounts mit drei oder vier Followern. Ich habe mich immer gefragt, was solche Leute motiviert, überhaupt irgendetwas zu posten oder hochzuladen. Das lohnt doch die Mühe gar nicht, wenn deine Reichweite fast gleich null ist. Aber plötzlich verstehe ich sie. Es fühlt sich total super an, ein Foto zu machen und einen Gedanken aufzuschreiben – einfach nur für mich.«
Sie beißt ins Brot und kaut höchst zufrieden.
»Hab ich selbst gebacken«, sagt Manfred und sieht genauso zufrieden aus.
»Strange«, murmle ich und gehe nach draußen. Da empfängt mich die pralle Natur. Der ganze Wald dampft, es sieht wie ein Dschungel am Äquator aus. Die Morgensonne brennt die Regenreste der Nacht vom Boden und von den Blättern und lässt ihr Strahlen in den Nebelschwaden brechen, als wäre sie ein Stroboskop und die ganze Welt ein Club. Es gibt sogar Livemusik, singende Vögel, summende Insekten, überall ein Rascheln und Hoppeln und Huschen im Unterholz, beinahe zu kitschig, um es auszuhalten. Weltflucht okay, aber ich könnte das nicht lange ertragen. Ich gehe aufs Klo und gönne mir eine schnelle Dusche, wobei ich aufpasse, dass meine Wunde am Hinterkopf nicht nass wird.
Als ich wieder das Haus betrete und mich an den Tisch setze, sagt Manfred zu mir: »Du bist auch herzlich eingeladen.«
»Wozu?« Ich schenke mir Kaffee ein.
»Kalliope überlegt hierzubleiben, bis die Cyberkalypse vorüber ist«, sagt Manfred. »Vielleicht wäre das für euch beide wirklich das Beste. Wer immer die beiden Männer sind, die euch gestern verfolgt haben – hier werden sie euch nicht finden. Nicht ohne Internet.«
»Und die Bürgerwehr?«, frage ich.
»Das sind Schwachköpfe. Mit denen werden wir fertig.«
»Ich kann aber nicht bleiben«, sage ich. »Nicht nach dem, was du uns gestern erzählt hast. Ich muss nach Düsseldorf.«
»Zu Solveig Sander?«, fragt Manfred und hebt die Augenbrauen.
»Genau. Wenn es übermorgen darum geht, das Internet wieder neu aufzubauen, dann könnte doch ihre Stunde schlagen, findet ihr nicht? Mir gehen da schon viele Ideen durch den Kopf. Das wird großartig.« Ich drehe mich zu Kalliope. »Noch großartiger wäre natürlich, wenn Habakuk mitkommt.«
Sie wirft ihre Locke aus der Stirn und sagt mit spöttischem Unterton: »Ich dachte, du wolltest das große Rad drehen. Olena suchen und das neue Internetzeitalter einläuten. Die Ära Habakuk.«
»Geht ja schlecht ohne Habakuk«, gebe ich leicht gereizt zurück.
»Was bitte willst du einläuten?«, fragt Manfred.
»Vergiss es.« Ich winke ab.
»Ich finde es gut, wenn man groß denkt«, sagt er. »Klein wird’s von allein.«
Klein ist in diesem Falle Solveig. Eine deutsche Provinzpolitikerin im Vergleich zu der Frau, die das Internet angezündet hat. Aber immer noch reichlich groß genug für mich. Wenn sie exakt im Moment der Rückkehr des Netzes an die Öffentlichkeit geht, mit guten Ideen und klaren Regeln für ein faires Netz, könnte niemand in Deutschland sie ignorieren. Die Politik müsste sich mit ihr auseinandersetzen. Bundesweit, vielleicht EU -weit. Und ich werde der Mann im Hintergrund sein.
»Weißt du was?«, sagt Kalliope unvermittelt. »Du kannst ihn haben.«
»Hä?«, mache ich. »Wen?«
»Habakuk. Ich schenke ihn dir. Du findest ihn doch so toll und denkst, er könnte alle diese Dinge anstoßen, von denen du sprichst. Ich gebe dir einfach die Zugangsdaten und er gehört dir, du kannst mit ihm machen, was du willst.«
Ich starre sie an. »Du willst Habakuk einfach so wegwerfen?«
»Schenken und wegwerfen sind zwei verschiedene Dinge«, erwidert sie.
»Aber …« Ich ringe um die richtigen Worte. »Aber ohne dich ist er nichts! Habakuk funktioniert nur mit Kalliope!«
»Unsinn.«
»Doch. Gerade jetzt. Du musst dich outen, du musst den Leuten sagen, dass ihr dieselben seid. Du musst Kalliopes Reichweite und Habakuks Brillanz miteinander vereinen – und wenn das Netz wieder da ist, dann werden wir gemeinsam mit Solveig …«
»Ich muss gar nichts!«
Erschrocken sehe ich sie an. Ihr wunderschönes, markant-verpeiltes kalliopes_selfrecreation -Gesicht ist steinhart geworden. Kaum bewegt sie die Lippen, als sie wiederholt: »Ich muss nichts. Weniger als je zuvor.«
»Wenn das so ist …« Keine Ahnung, wie dieser Satz jetzt weitergehen soll. Ich breche ihn ab und stehe auf. Manfred schaut mich interessiert an. Unser Disput scheint ihn prächtig zu unterhalten. Ich hingegen fühle mich total elend. »Wie kannst du nur so ignorant sein? Wir haben eine einmalige Chance. Eine historische Chance! Und anstatt Geschichte zu schreiben, wollt ihr beide euch hier einbunkern. Flucht vor der Gegenwart, ha, von wegen. Das ist eine Flucht vor der Zukunft!«
»Tolle Rede, Mann«, meint Kalliope. »Hätte Habakuk nicht besser sagen können. Also – worauf wartest du noch?«
Ja, worauf? Dass sie sich doch noch entscheidet? Zwecklos.
»Ich weiß gar nicht, wie ich von hier wegkommen soll«, sage ich schwach. »Ohne Auto.«
»Du kannst meinen Cayenne haben«, sagt Manfred. »Steht hinterm Haus. Bring ihn mir einfach wieder zurück, wenn du deine Mission beendet hast. Du musst mir nur versprechen, dass du meinen Namen komplett aus deiner Kampagne herauslässt.«
»Warum machst du das?« Sie sieht ihn fragend an. »Warum unterstützt du diesen Unsinn?«
»Jeder von uns muss tun, was er tun muss.« Manfred zuckt mit den Achseln. »Ich hab euch hierher gelotst, dann muss ich ja auch dafür Sorge tragen, dass ihr wieder wegkönnt.«
»Danke«, sage ich. »Das ist sehr großzügig von dir.«
Ich stehe da und weiß nicht genau, wohin mit meinen Händen. Zur Situation würde passen, wenn ich jetzt nach oben gehen und meine Sachen packen würde. Aber ich habe gar keine Sachen. Ich kann einfach Manfreds Autoschlüssel nehmen und gehen. Mein Abenteuer mit Habakuk und Kalliope endet also hier. Obwohl es gerade erst richtig hätte anfangen können. Ich sehe sie an. Liegt da nicht eine Spur von Bedauern in ihrem Blick?
Da springt sie auf und sagt: »Vorschlag: Du nimmst nicht den Porsche, sondern den PT Cruiser, und wenn du Solveig groß rausgebracht hast und alle über das neue, faire Internet reden, dann kommst du zurück und holst mich ab.«
»Abgemacht.« Nicht das, was ich mir erhofft habe. Aber immerhin will sie mich wiedersehen, das freut mich mehr, als ich gedacht hätte.
Ich nehme Kalliopes Autoschlüssel von der Anrichte. Dann will ich Manfred die Hand geben.
»Eine Frage noch«, sagt er und steht auf. »Willst du dich wirklich mit dem kleinen Rädchen zufriedengeben oder willst du doch das große Rad drehen?«
Er geht zur Anrichte und öffnet eine Schublade.
»Olena? Das Globale Komitee? Ich versteh nicht ganz.«
Manfred nimmt einen klobigen Schlüssel aus der Schublade und hält ihn mir hin.
»Zu Hause habe ich einen Safe«, sagt er. »Ganz analog. Kein Code, keine smarte Sicherung, einfach nur ein Schlüssel. Darin liegt ein Brief von Olena. Kam vorige Woche. Ich glaube, dass sie mir darin mitteilen wollte, wo sie während der Cyberkalypse untertauchen will.«
»Du glaubst?«
»Ich habe ihn nicht geöffnet. Ich hatte ehrlich gesagt ein bisschen Angst, dass es mich im letzten Moment doch noch packen und ich mich dem Globalen Komitee anschließen würde. Ich wollte mich dazu zwingen, hier abzutauchen. Für mich sind die großen Räder vorbei. Ich drehe nur noch meine Kaffeemühle. Das reicht mir. Ehrlich gesagt weiß ich nicht, ob sie gerade auf einen wie dich wartet, um das Internet neu zu erfinden. Jedenfalls kannst du versuchen, es rauszukriegen.«
Klingt abgefahren. »Wie soll ich denn an deinen Safe drankommen?«
»Jessica hat sich bestimmt zu Hause verkrochen. Bestell schöne Grüße von mir. Was du ihr sonst noch sagen willst, überlass ich deiner Fantasie. Seidenpfad 43 in Köln. Pass nur auf, dass diese beiden Schläger dich nicht kriegen – falls Jessica es wirklich war, die eure Verfolger angeheuert hat.«
»Ihr spinnt!«, ruft Kalliope. Sie ist aufgesprungen. »Ihr spinnt ja beide komplett.« Jetzt stehen wir alle drei mitten im Raum wie bei einem Mexican Standoff in einem alten Western. Oder einem Tarantino-Film. Nur dass wir mit Worten schließen statt mit Waffen.
Spinnen.
Das ist es, was ich mache. Ich bin ein Spin Doctor.
Ich nehme den Schlüssel an mich, dann umarme ich Kalliope und drücke sie fest, gebe ihr einen Kuss auf die Wange. Sie gibt mir einen Kuss auf den Mund.
»Auch wenn es sich mamimäßig anhört«, sagt sie, »fahr bitte vorsichtig.«
»Du musst dir keine Sorgen um mich machen.«
»Nein, aber um den Wagen. Das Modell wird nicht mehr hergestellt.«
Offenbar verrutschen mir die Gesichtszüge, denn plötzlich lacht sie, wirft ihre Locke aus der Stirn und meint: »Hey, Ironie. Schon mal gehört? Natürlich mach ich mir Sorgen um dich. Komm heil wieder zurück und hol mich ab. Ich erwarte dich übermorgen.«
09.32 Uhr
Es kommt mir vor, als wolle mich Kalliopes altes Navi an die Hand nehmen und sachte aus dem Wald herausführen. Bei Tageslicht sieht er gar nicht mehr so Hänsel-und-Gretel-mäßig aus. Ich habe die Fenster heruntergelassen und das Radio nicht eingeschaltet, damit ich im Zweifel hören kann, falls mir jemand folgt oder entgegenkommt. Ein Pick-up zum Beispiel oder ein Motorrad. Doch alles, was ich höre, ist das Klackern der Äste auf der Karosserie. Schließlich erreiche ich wieder die Landstraße. Raus aus dem grünen Schatten, rein ins Sonnenlicht, das schmerzhaft auf meine Augen trifft und meine Sicht noch schlieriger werden lässt. Trotzdem fühle ich mich jetzt einigermaßen sicher und drücke auf den Standby-Knopf des Radios.
»… kann man die Bilanz der vergangenen Nacht nicht anders als verheerend bezeichnen«, sagt die Moderatorin. »Aus Berlin, München, Hamburg, Frankfurt, Köln und vielen weiteren Städten werden richtiggehende Gewaltexzesse gemeldet. Zum einen scheint die Cyberkalypse die Hemmschwelle gegenüber schweren Straftaten deutlich zu senken, die Rede ist von Einbrüchen und Plünderungen, von unzähligen Sexualdelikten und etlichen Fällen von willkürlicher, völlig sinnloser Gewalt.«
Von wegen, die Behörden kriegen das in den Griff. Da lag Kalliope wohl ein bisschen daneben.
»Zum anderen«, fährt die Moderatorin fort, »haben sich in vereinzelten Stadtteilen und vor allem in ländlichen Regionen bewaffnete Gruppen gebildet, die das Gesetz in die eigene Hand nehmen und versuchen, eine eigene lokale Ordnung zu etablieren. Angeblich haben sich in verschiedenen Bundesländern Teile von Polizei und Bundeswehr solchen Gruppen angeschlossen. In der Nähe von Offenbach wurden Beamte der Bundespolizei bei dem Versuch, eine solche Gruppe zu entwaffnen, in eine Schießerei verwickelt. Zeugen sprechen von kriegsähnlichen Zuständen.«
Die Straße gabelt sich. Von rechts sind wir gestern Abend gekommen, auf unserer Flucht vor Waldemar auf seiner Harley. Ein Schild mit Frakturschrift preist das Landgasthaus Zum Schwarzen Keiler an. Die linke Abzweigung führt über Bernscheid, den nächstgelegenen Ort. Das Navi wird mir diesen kleinen Umweg verzeihen, denn die Bürgerwehr-Hillbillys scheinen ja den Gasthof als eine Art Hauptquartier zu benutzen, und ich habe keine Lust, denen noch einmal zu begegnen. Eine Tankstelle wäre gut, denn ich kann gar nicht einschätzen, ob ich mit dem Sprit bis Köln komme. Mit meinen dreizehn Euro könnte ich dem Tank wenigstens einen kleinen Puffer verschaffen. Falls nicht über Nacht landesweit das Benzin ausgegangen ist.
»Aus dem Lagezentrum im Bundeskanzleramt gibt es keine neuen Nachrichten«, sagt die Radiofrau. »Die Cyber-Gegenschläge der NATO in den frühen Morgenstunden haben ersten Meldungen aus Russland und anderen Zielstaaten zufolge keine großen Schäden angerichtet. Aus dem NATO -Hauptquartier verlautete dazu, dieser sogenannte Hackback solle lediglich als Warnung verstanden werden, man wolle die Gesprächsfäden nach Moskau nicht abreißen lassen. Manche Sicherheitsexperten vermuten hingegen, dass die Angriffe aufgrund der weiterhin überlasteten Netze einfach verpufft seien. Die NATO will sich jedenfalls nach wie vor alle Optionen offenhalten. Dazu zählten ausdrücklich auch konventionelle Mittel – mit anderen Worten ein möglicher Militärschlag. Damit würde der bisherige Cyberkrieg zu einem analogen militärischen Konflikt eskalieren. Die Bundesregierung kommentiert diese Überlegungen noch nicht.«
Krieg. Drehen jetzt alle völlig durch? Plötzlich durchfährt mich ein Gedanke. Sollte es mir wirklich gelingen, Olena zu finden, muss ich sie auf jeden Fall überreden, dass sie Herostratos stoppt, und zwar sofort. Auf einmal geht es nicht mehr nur ums Internet. Olena hat die Möglichkeit, einen Weltkrieg zu verhindern.
Ja, genau! Ich sehe unwillkürlich vor mir, wie sie den Friedensnobelpreis entgegennimmt. Und ich sitze in der ersten Reihe und applaudiere, während ich wissend in mich hineinlächle. Aber die Zeit ist knapp. Ich drücke aufs Gas. In diesem Moment fliegt das Ortseingangsschild an mir vorüber. Ich bremse ab und der Wagen rollt durch ein Dorf voll verrammelter Häuser. Bei den meisten sind die Rollläden heruntergelassen, kein Mensch ist auf der Straße zu sehen.
»Unterdessen soll es IT -Experten in unterschiedlichen Ländern gelungen sein, Teile einer Schadsoftware zu analysieren. Deren Eigenschaften passen zu keiner der bekannten Hackergruppen, auch zur möglichen Herkunftsregion gibt es noch keine Erkenntnisse. Es scheint sich um eine Art intelligenten Trojaner zu handeln, der sich eigenständig weiterentwickelt und verteidigt.«
Ein Drogeriemarkt! Ich trete die Bremse durch und halte mit quietschenden Reifen vor dem Laden. Drinnen ist alles finster. Trotzdem steige ich aus, nehme mein Portmonee und gehe zur Tür. Sie öffnet sich nicht. Aber irgendwo weiter hinten im Laden brennt Licht. Vielleicht ist doch jemand da? Ich poche gegen die Scheibe. Nichts regt sich. Ich muss an die verschlossene Kinotür denken, gestern in Köln. Als ich mich umdrehte, stand Kalliope da. Ich drehe mich um. Kalliopes Auto steht in der Sonne. Ich wende mich wieder der Tür zu und bearbeite sie weiter mit sachten, aber hörbaren Schlägen. Endlich taucht zwischen den Gängen eine Frau im Kittel auf, sie drückt einen Knopf an der Wand und die gläsernen Türflügel schieben sich auseinander.
»Was soll das?«, fährt sie mich an. »Sehen Sie nicht, dass wir geschlossen haben?«
»Entschuldigen Sie bitte«, sage ich. »Ich brauche dringend etwas für meine Kontaktlinsen.«
Sie macht einen Schritt auf mich zu, mustert mich und sagt: »Ja, das brauchen Sie. Kommen Sie mit.«
Ich folge ihr in den Laden und durch die Regalreihen, bis sie stehen bleibt und eine Packung mit der entsprechenden Flüssigkeit herauszieht.
»Hier, bitte schön. Sie sollten aber die Linsen nicht gleich wieder einsetzen. Ich an Ihrer Stelle würde meinen Augen mindesten zwölf Stunden Pause gönnen.«
Ja, ich auch. Ich bin aber nicht an meiner Stelle, sondern ich bin bloß Habakuk. Yes! No! Shit! Sie hat mir gar nicht die Zugangsdaten gegeben. Ich muss noch mal zurück. Oder? Ich öffne mein Portmonee. Im Münzfach liegt der Chip, als wäre es gestern Morgen und mein großer Tag könnte endlich beginnen.
»Schenke ich Ihnen«, sagt die Frau. »Bis ich jetzt die Kasse eingeschaltet habe, dauert es mir zu lange. Und Sie sollten schleunigst hier verschwinden.«
»Bitte? Ich versteh nicht ganz.«
Obwohl wir ganz alleine in diesem Laden sind, wechselt sie in einen Flüsterton. »Seit gestern treibt sich hier eine selbst ernannte Bürgerwehr herum. Eigentlich sind das harmlose Deppen, Nachbarn aus dem Dorf, und solange man sie nicht provoziert, tun sie einem nichts, denke ich, jedenfalls nicht uns Dorfbewohnern. Aber bei einem Fremden, noch dazu – bitte verstehen Sie mich richtig! – einem Fremden, der ein bisschen südländisch aussieht, da …«
»Ich verstehe vollkommen. Danke für das Mittel. Und für die Warnung. Ich finde hinaus.«
Eigentlich hatte ich sie bitten wollen, ob ich kurz in ihren Personalraum gehen darf, um die Flüssigkeit sofort anzuwenden. Aber ich will ihre Gastfreundschaft nicht überstrapazieren. Als ich wieder hinaus in die Sonne trete, steht da nicht nur Kalliopes Wagen. An der Motorhaube lehnt Erik, der feixend sein Gewehr streichelt, der Sonnenbrillentyp hockt bereits auf dem Fahrersitz. Geistesgegenwärtig wende ich mich nach links und renne los. Und pralle schwer gegen Waldemar. Neben ihm steht Vera.
»Na, kleiner Dorfspaziergang?«
Bevor ich irgendwas sagen oder auch nur denken kann, liege ich mit dem Gesicht auf dem Boden, meine Nase schrammt über das Kopfsteinpflaster und Waldemar zieht etwas sehr Schmerzhaftes um meine Handgelenke, das sich dem leisen Ratschen zufolge wie ein Kabelbinder anhört. Veras Hand taucht in mein Gesichtsfeld und hebt die Packung mit der Kontaktlinsenflüssigkeit vom Boden auf, als sichere sie ein wichtiges Beweismittel.
»Und jetzt?«, fragt Waldemar. »Zum Keiler?«
»Nein. Ich fürchte, wir können uns im Zweifel auf Irmgard nicht verlassen. Wir bringen ihn zum Hof.«
10.09 Uhr
Vor mir auf dem Tisch steht diesmal keine Apfelschorle. Ich sitze auf einem groben Stuhl, leicht vorgebeugt, weil meine Hände noch immer auf dem Rücken gefesselt sind, die Haltung tut echt weh. Die Fragen, die sie mir stellen, sind wirr und ich antworte nicht. Was könnte ich auch sagen? Die Wahrheit vielleicht, das würden sie mir am wenigsten glauben. Oder doch, weil es verrückt genug klingt. Soweit ich ihr Gerede verstehe, halten sie Manfred inzwischen für einen Regierungsmitarbeiter, der wahlweise den Auftrag hat, die Bürgerwehr auszuforschen und ihre Arbeit zu behindern oder das Grundwasser des Ortes mit bewusstseinsverändernden Substanzen zu versetzen, um die Bewohner gefügig zu machen. Oder so. Es wäre zum Schreien komisch. Wenn es nicht zum Schreien wehtäte.
»Es nutzt nichts«, sagt Vera schließlich. Wie recht sie doch hat. »Bringt ihn rüber in den Kachelraum. Da wird er reden. Oder das Schweigen lernen.«
Der Sonnenbrillentyp, er heißt übrigens Bernie, zieht mich brutal am Ellbogen von dem Stuhl hoch, als könnte ich nicht selber aufstehen. Dann bugsiert er mich aus der Küche heraus, durch den Flur und ins Freie. Wir befinden uns auf einem kleinen Bauernhof, der wohl Vera und Waldemar gehört, wenn ich das richtig verstanden habe, die hier ökologische Landwirtschaft betreiben und Charolais-Rinder züchten. Neben dem Haupthaus und einem Stall gibt es ein kleineres Nebengebäude, das anscheinend den besagten Kachelraum birgt. Was immer das auch sein mag. Erik geht voraus, öffnet die Tür und ich habe kurz das Gefühl, ich würde mir in die Hose scheißen, so unvermittelt und gnadenlos packt mich die Angst. Ich sehe einen Stahltisch an der Wand und Eisenstangen unter der Decke, an denen Fleischerhaken hängen. Obwohl die Kacheln am Boden und an den Wänden blitzblank geputzt sind, kriecht mir der Blutgeruch sofort in Nase und Rachen, ich glaube, ich muss kotzen. Komme aber nicht dazu, weil sie mich weiterstoßen, ich stolpere über die Schwelle und Bernie hält mich wieder am Ellbogen, damit ich nicht falle, das fühlt sich an, als würden meine Arme auskugeln. Über dem Stahltisch sind Nägel in die Wand geschlagen, daran hängen Fleischermesser von jeder Größe. Sie werden sie benutzen, fein säuberlich der Reihe nach von klein nach groß, mit deutscher Gründlichkeit, und mich so säuberlich zerlegen wie sonst ihre Bio-Rinder an dieser Stelle.
»Zieht ihm die Schuhe und Strümpfe aus«, befiehlt Vera. »Wir fangen mit den Zehen an.«
»Ich weiß nicht, was ihr noch von mir wollt«, sage ich. Nein, ich spreche nicht, ich winsele. So schnell verliert man seine Würde. Der Anblick der Messer geht mir durch Mark und Bein – eine Redensart, aber die hat ihren Sinn. Mark und Bein, wie fühlt sich das an, wenn dir ein Messer durch den Knochen geht, am kleinen Zeh zum Beispiel? Jetzt kotze ich wirklich. Ein dünner schwarzer Strahl spritzt auf die sauberen Fliesen, Kaffee mit Magensäure, mehr hatte ich ja nicht zum Frühstück. Erik macht einen Satz zurück, weil ein paar Spritzer seine Hose treffen.
»Dreckskanake«, zischt er und versetzt mir eine Ohrfeige.
Das heiße Brennen auf meiner Wange tut gut, als hätte Erik in mir einen Schalter umgelegt.
»Ja, du Scheißkartoffel!«, schreie ich ihn an. »Fangt endlich an mit euer verfickten SS -Masche. Ihr habt doch euer Leben lang davon geträumt, einen wie mich zu Tode zu foltern. Ich hoffe, es macht euch richtig geil! Aber auf jedes Dreiunddreißig folgt ein neues Fünfundvierzig. Sie werden euch kriegen, egal wie lange es dauert. Hier wird alles voll von meinen DNA -Spuren sein, egal wie oft ihr mit eurer verfickten deutschen Scheißgründlichkeit putzt, denn …«
»Halt’s Maul!«, schimpft Vera.
»Ich werde hier so lange schreien, bis ihr mir die Zunge rausschneidet, ihr …«
»Halt dein verdammtes Maul«, ruft sie wieder. Nicht weil sie meine Tirade beenden will, sondern weil sie irgendwie nach draußen lauscht. Jetzt höre ich es auch. Ein Auto nähert sich. Oh Gott, das müssen Manfred und Kalliope sein. Sie kommen! Sie holen mich hier raus. Meine Retter. Wie auch immer sie mich gefunden haben, sie … Ich kriege einen Tritt in den Magen, keine Ahnung, von wem, und Vera kommandiert: »Der bleibt hier drin. Bernie, du passt auf, dass er keinen Mucks macht.«
Schon fällt die Tür zu. Ich richte mich mühsam auf und sehe, dass ich mit Pilotenbrillen-Bernie alleine im Kachelraum bin. In der Tür ist ein kleines rundes Fenster, wie ein Bullauge. Bernie presst die Nase gegen die Scheibe. Ich recke den Hals, um auch was zu sehen. Vera und die beiden Typen postieren sich im Hof, Erik hebt das Gewehr und Waldemar zieht seine Pistole.
»Vom Fenster weg«, zischt Bernie und schubst mich nach hinten.
Aber mein neuer Mut ist zu stark, ich will sehen, wie meine Retter ankommen und mit welchem genialen Trick Manfred die Hillbillys entwaffnet. Hatte er nicht gesagt, sie seien bloß Schwachköpfe? Also recke ich mich wieder zum Fenster – und erstarre. Das ist nicht Manfreds Porsche Cayenne, der jetzt auf dem Hof ausrollt, sondern ein roter BMW . Mit Hamburger Kennzeichen. Und dicken weißen Schrammen an der Seite. Ein Schlag ans Jochbein, ich taumle zurück.
»Vom Fenster weg, Kanake!«
Dumpf dringen Wortfetzen durch die Tür. Der harte Akzent von Anorakmanns Englisch, es klingt, als frage er nach mir: »A young guy, he looks like an Arab.«
Darauf Vera: »He is not here. Ask Manfred Morena.« Und, offenbar an ihre Kumpane gewandt: »Diese Vögel gehören garantiert auch zu Manfred. Der scheint ’ne richtige Armee zu haben.«
Dann werden die Stimmen aggressiv, bis schließlich alle durcheinanderschreien, ich recke mich wieder zum Fenster, wow! Ein echter Mexican Standoff, diesmal mit Waffen. Schnauzbart und Anorak haben Pistolen und zielen damit auf die Hillbillys, Erik hat sein Gewehr im Anschlag und richtet den Lauf gegen Anorakmann, Waldemar steht breitbeinig wie auf dem Polizeischießstand und hält seine Waffe mit beiden Händen in Schnauzbarts Richtung. Vera versucht mit beruhigenden Gesten zu deeskalieren, aber allen dreien steht die Panik ins Gesicht geschrieben. Und Bernie schwitzt. Trotzdem boxt er mich zum dritten Mal weg, sehr heftig, und ich fliege fast durch den Raum, pralle mit dem Hinterkopf gegen die Wand, genau mit meiner Platzwunde, ich sehe einen Augenblick lang nur Sterne und gehe zu Boden, dann fallen Schüsse, eins, zwei, drei.
»Scheiße, scheiße, scheiße«, stammelt Bernie, auch er zieht plötzlich eine Pistole, tritt gegen die Tür und rennt wie ein Urzeitkrieger brüllend nach draußen, noch ein Schuss, dann Stille. Die Tür, die er im Hinausstürmen weit aufgestoßen hatte, schwingt zurück und fällt wieder ins Schloss.
Atme, Mann!
Ich muss atmen.
Meine Luftröhre pfeift so laut, dass man es in der ganzen Eifel hören kann.
Ich starre die Tür an, sie starrt zurück, aber sie öffnet sich nicht.
Niemand kommt herein, give me that chip, niemand richtet seine Pistole gegen meinen Kopf und drückt ab.
Ich würde gerne beten, Al-Fatiha oder das Vaterunser oder das Sch’ma Jisrael oder irgendwas, aber nichts von dem hab ich je gelernt. Ich zähle bis zehn.
Bis fünfzig.
Bis hundert.
Nichts passiert.
Bei hundertsiebenunddreißig höre ich einen Motor starten, Reifen schliddern über den Hof und dann entfernt sich das Auto.
Ich robbe zur Tür. Stemme mich hoch, das dauert ewig, wenn man Beine aus Pudding hat, ich presse mich rücklings dagegen, kriege mit den gefesselten Händen die Klinke zu fassen und drücke sie runter. Auf dem Hof liegen die Leichen der vier. Ihr Pick-up und die Harley und Kalliopes PT Cruiser stehen da herum wie nicht abgeholt. Ich verharre eine Weile und rühre mich nicht. Als könnten sie jeden Moment wieder lebendig werden und sich auf mich stürzen. Aber sie sind tot. Starre Augen glotzen ungläubig himmelwärts, Arme und Beine sind seltsam abgewinkelt, so liegen sie da, bloß Waldemar hat noch seine Pistole in der Hand. Und ein Loch mitten in der Stirn. Wer da geschossen hat, der hat es nicht zum ersten Mal getan. Eine Fliege landet auf Waldemars Nase, krabbelt hoch und auf das Loch zu, um darin zu verschwinden. Ich krümme mich und kotze schon wieder. Ich hasse Kotzen. Mit auf den Rücken gefesselten Händen noch viel mehr. Ich würge und spucke und würde mir gern Mund und Kinn abwischen, stattdessen drehe ich mich um und schleppe mich zurück in den Kachelraum. Ich wälze mich irgendwie auf den Stahltisch hinauf, knie mich hin, Rücken zur Wand, und versuche an die Messer zu kommen.
Etwas Warmes läuft über meine Finger, dann – plopp, plopp – schlagen zwei dicke Blutstropfen hörbar auf der stählernen Arbeitsplatte auf. Die Messer sind so scharf, dass ich den Schnitt am Handballen anfangs gar nicht bemerkt habe. Trotzdem fummle ich weiter, bis ich eine der Messerklingen zwischen meine Haut und den Kabelbinder schieben kann. Ein Ruck, ein kurzer Knall, dann habe ich meine Hände wieder. Das Messer fällt scheppernd auf den Stahltisch. Ich lecke mein Blut ab und reibe meine Handgelenke. Meine Finger kribbeln und ich brauche eine Ewigkeit, um von dem Tisch runterzusteigen. Draußen hat sich schon eine ganze Wolke aus Fliegen auf die Leichen verteilt und lässt sich auch nicht aufscheuchen, als ich mich zu Waldemar hinunterbücke. Seine Finger sind schon eiskalt und fühlen sich wie Leder an, auch seine Pistole ist eiskalt und überraschend schwer, als ich sie aufhebe. Walther P99 – gängige Polizeiwaffe, wenn ich mich nicht irre. Sie liegt gut in meiner Hand, ruht fast darin, das Gewicht ist angenehm und strahlt etwas aus, was sich wie Stärke anfühlt, wie Macht, Influence, Bedeutungsschwere. Ich lege sie neben mich auf den Beifahrersitz im PT Cruiser, zu dem Päckchen mit der Kontaktlinsenflüssigkeit, das Vera wohl vorhin mitgenommen hat, als sie in Kalliopes Auto hierhergefahren ist. Der Schlüssel steckt noch im Zündschloss. Ich greife nach hinten, wo mein Hemd von gestern liegt, und winde es mir um die verletzte linke Hand. Angesichts der vier Toten, die hier in der Sonne liegen, habe ich nur die eine Sorge, dass ich Kalliopes Wagen mit Blutflecken versauen könnte. Es ist absurd und fühlt sich logisch an, und auch wie die P99 da auf dem Beifahrersitz liegt, hat etwas absurd Selbstverständliches. Ich sollte meine Kontaktlinsen spülen, aber vor allem sollte ich Kalliope und Manfred warnen. Ich starte den Motor und zugleich springt das Radio an, harte Musik knallt mir um die Ohren (Vera hat unterwegs den Sender verstellt), und die weckt mich aus dem Trancezustand auf, in dem ich mich offenbar befunden habe, denn mir ist auf einmal klar, wie sehr ich mich beeilen muss. Ich tippe im Navi auf das vorletzte Reiseziel, Manfreds Koordinaten, dann lenke ich den Wagen im Slalom um die gefallenen Helden der Bürgerwehr herum und durch das Tor auf die Straße hinaus, wo ich das Gaspedal durchtrete.
10.48 Uhr
Von dem BMW ist weit und breit nichts zu sehen, als endlich Manfreds Hütte aus dem Walddickicht auftaucht. Die Baustrahler flammen auf, als würden sie meine unerwartete Rückkehr feiern. Ich nehme die P99 vom Beifahrersitz, steige aus und will mich vorsichtig ans Haus heranpirschen, aber ich weiß gar nicht, wie das geht, also Pirschen meine ich, ich hab ja nicht mal als Kind Räuber und Gendarm gespielt. Aber da öffnet sich auch schon die Tür und Manfred steht da.
»Ho, ho«, macht er und hebt beruhigend die Hand, als sei ich ein durchgegangenes Pferd.
»Wo sind die? Sind die hier?«
»Nur wir sind hier«, sagt er, »Kalliope und ich. Nimm das Ding runter, Amir. Was ist passiert?«
Ich lasse die Waffe sinken. Kalliope taucht hinter ihm auf.
»Sie sind tot«, sage ich dumpf. »Alle vier.«
Kalliope schlägt eine Hand vor ihren Mund.
»Oh Gott, Amir, hast du sie …«
»Was? Nein, Mensch, ich doch nicht. Das waren unsere Verfolger von gestern. Die müssen jeden Augenblick hier sein.«
»Hier ist niemand«, versichert Manfred, »komm rein. Was hast du an der Hand? Bist du verletzt?«
»Aber die kommen bestimmt!«, beharre ich.
»Deshalb sollten wir lieber reingehen«, meint er. »Die Bewegungsmelder werden uns warnen.«
Ich folge den beiden ins Haus und berichte, was geschehen ist. Währenddessen desinfiziert und verbindet Manfred die Schnittwunde an meiner linken Hand.
»Halt gefälligst still«, sagt er.
»Ich halte ja still.«
»Nein, du zitterst.«
Stimmt. War mir überhaupt nicht aufgefallen. Ich presse meine Unterarme auf die Tischplatte und versuche, meine Hände ruhig zu halten.
»Wieso sind die hier?«, fragt Kalliope. »Woher wissen die, wo wir sind? Manfred – hast du irgendwas mit diesen Leuten zu tun?«
»Tja, ich weiß es ehrlich gesagt nicht«, antwortet er und zieht den Verband an meiner Hand stramm. »Jessica sollte eigentlich keine Ahnung haben, wo diese Hütte ist. Sie war nie hier und ich habe ihr bloß ganz allgemein davon erzählt; ich erwähnte ja, dass unsere Beziehung schon lange nicht mehr so … Oder sie haben euch irgendwie verwanzt? Euch einen Peilsender angehängt?«
Er schaut zu Kalliope, dann zu mir, dann wieder zu ihr. »Ihr seid doch gestern in Köln vor den beiden Männern geflohen, richtig? Es kam ja zu keinem Kampf, wenn ich das richtig verstanden habe, bloß ein Tritt von dir, das war die einzige Berührung, ja?«
»Nicht ganz«, sage ich und sehe wieder vor mir, wie Anorakmann gegen mich sackte und versuchte, sich an mir abzustützen, nachdem Kalliope seine Eier volley genommen hatte. »Fuck …«
Ich greife nach meinem blutverschmierten Hemd und fange an, es systematisch abzutasten. Ich fahre mit den Fingern in die Brusttasche. Da sind noch mein Landtagsausweis und diese Visitenkarte der Frau von gestern. Und … ein winziges rundes Ding. Ich ziehe es raus und lege es auf den Tisch. Es ist flach und glänzt, sieht fast aus wie eine winzige Knopfbatterie, kaum größer als ein Stecknadelkopf.
»Das da?«, wundert sich Kalliope. »Aber wie können sie uns ohne Internet anpeilen?«
»Wahrscheinlich eine simple Funktechnik«, meint Manfred.
»Ich Idiot habe sie hergeführt!« Ich bin aufgesprungen. »Ich bringe euch in Gefahr!«
»Sachte«, sagt Manfred.
»Ich bin so ein Riesenidiot«, jammere ich.
»Hör auf«, sagt Kalliope. »Du kannst doch nichts dafür und Selbstmitleid bringt uns jetzt eh nicht weiter.«
»Ach, toll«, entgegne ich, »und was bringt uns stattdessen weiter?«
»Konfrontation.« Manfred steht auf und nimmt das Ding zwischen Daumen und Mittelfinger. »Ich werde versuchen, mit denen zu reden. Wenn sie wirklich für Jessica arbeiten, werden sie es nicht wagen, mir irgendwas zu tun.«
»Und falls nicht?«, fragen Kalliope und ich fast gleichzeitig.
»Das Risiko besteht«, sagt er und lässt den winzigen Sender in seiner Hosentasche verschwinden. »Darum werde ich sie von hier weglocken.«
»Das ist zu gefährlich«, protestiere ich. »Das sind Profis, die haben null Skrupel. Du musst jetzt hier nicht den Helden spielen und dich – also, na ja – opfern.«
Da lacht er auf. »Wollte ich ein Held sein, wäre ich schon viel früher und höchstpersönlich gegen Jessicas Machenschaften vorgegangen, statt euch dafür einzuspannen. Oder ich hätte mich Olena und dem Globalen Kollektiv angeschlossen. Nein, keine Sorge, ich werde nicht den Helden spielen. Aber ich will sie von euch ablenken, weil ich euch das in gewisser Weise schulde. Ohne mich und diesen verdammten Chip wärt ihr nicht in diese Situation gekommen.«
»Ich bin aber dafür, dass wir trotzdem zusammenbleiben«, entgegnet Kalliope. »Alle drei.«
Ohne darauf einzugehen, greift Manfred in ein Bücherregal neben dem Kamin, schiebt ein paar Bücher zur Seite und betätigt einen dahinter versteckt liegenden Knopf. Da schwingt ein Teil des Regales zur Seite und gibt den Blick auf einen winzigen Raum frei, irgendwas zwischen Schrank und Abstellkammer.
»Darf ich vorstellen? Mein Panic Room. Für euch, falls die beiden Killer doch hier auftauchen.«
Kalliope schaut Manfred zweifelnd an. »Heißt das so, weil man da drin Panik bekommt? Da passen niemals zwei Leute rein.«
»Für eine Weile wird es gehen«, sagt Manfred. »Falls die hier auftauchen und das Haus verlassen vorfinden, werden sie höchstens ein wenig herumsuchen und dann weiter dem Funksignal folgen. Durch die Ritzen kommt genug Luft herein.«
Er schaut uns an wie ein Vater, der seine Kinder zum ersten Mal allein zu Hause lassen will. Fast komme ich mir in diesem Augenblick auch so vor: Bitte, Papa, geh nicht weg!
»Bis später«, sagt er.
»Nimm die lieber mit«, sage ich und deute auf die P99, die auf dem Tisch liegt.
Er schüttelt bloß den Kopf. »Wenn die so gut schießen, wie du sagst, hätte ich eh keine Chance. Aber ich will ja reden und nicht kämpfen. Das geht unbewaffnet besser, denke ich. Falls irgendwas schiefläuft – ihr findet mich am Eismaar, das ist ein kleiner See in der Nähe.«
Er nimmt seinen Autoschlüssel und geht hinaus, wir treten auf die Veranda und sehen ihm nach, bis sich der Porsche Cayenne im Wald verliert.
»Und jetzt?«, fragt Kalliope.
»Ist noch was vom Frühstück übrig?«
»Jetzt willst du plötzlich essen? Vorhin fandst du es eklig.«
»Jetzt auch, aber ich hab ein riesen Loch im Magen.«
Wir gehen hinein. Ich mache mir ein Brot, Kalliope setzt sich an den Tisch und schiebt die Waffe weit von sich fort.
»Das Ding macht mir Angst.«
»Mir auch«, sage ich kauend. »Aber gleichzeitig ist es auch ein irres Gefühl. Willst du sie mal in die Hand nehmen?«
»Nee, echt nicht.« Sie winkt ab. »Das ist so schrecklich. Ich kann noch gar nicht fassen, dass sie tot sind. Aber …«
»Ja?«
»Mann, Amir, ich bin einfach froh, dass sie dir nichts mehr antun konnten.«
Ich schweige und kaue. Und schlucke. Eigentlich habe ich echt keinen Hunger, aber meinem leergekotzten Magen tut es gut, was zu essen.
Und dann sage ich leise: »Als die vier mich vorhin in ihren Kachelraum brachten, war da erst so viel Angst und dann plötzlich so viel Hass in mir, und als ich sie dann da liegen sah … ein Teil von mir hat jubiliert. Das gruselt mich.«
»Ich glaube, das ist eine ganz natürliche Reaktion in einem extremen Moment«, meint Kalliope, »oder?«
Ich zucke mit den Schultern. Natürliche Reaktion. Archaisch. Urinstinkte. Daran habe ich gestern schon einmal denken müssen. Entwickeln wir uns alle zu Höhlenmenschen zurück, nur weil wir kein Internet mehr haben? An diesem Morgen kommt es mir fast so vor, als hätte ich längst schon vergessen, dass es je existiert hat.
»Ich versteh nicht, dass sie nicht in den Raum gekommen sind«, sage ich. »Sie haben die Hillbillys getötet und sind nach ein paar Minuten wieder gefahren, anstatt den Hof zu durchsuchen. Sie mussten doch davon ausgehen, dass ich irgendwo stecke.«
»Und wenn es doch nichts mit dir zu tun hat?«, überlegt Kalliope. »Nee, Unsinn, was sollten sie sonst wollen? Oder aber«, sie stülpt wieder die Unterlippe vor, anscheinend ein Zeichen, dass sie sich stark konzentrieren muss, »sie wollten wissen, was dein Ziel ist.«
»Du meinst – fuck, ja.« Ich lasse das Brot sinken, von dem ich gerade abbeißen wollte. »Sie haben mich heute Morgen schon verfolgt, mithilfe des Senders. Sie haben mitgekriegt, dass die vier mich geschnappt haben, und sind uns zu dem Hof gefolgt. Und da haben sie sie getötet, damit … ja, damit ich abhauen kann. Sie haben einfach nur darauf gewartet, dass ich wieder ins Auto steige, weil da ja noch mein Hemd mit dem Sender lag. Sie haben mit ihrem BMW hinter irgendeiner Ecke gelauert und sind jetzt auf dem Weg. Beziehungsweise hinter Manfred her. Sie wollen gar nicht uns, sie wollen ihn! Wir haben sie aus Köln hierhergeführt!« Ich haue mit der Faust auf den Tisch, und weil es die linke ist, sticht ein heißer Schmerz in die frische Schnittwunde. »Wir hätten ihn nicht gehen lassen dürfen.«
»Dann müssen sie schon gestern Abend in der Gegend gewesen sein«, überlegt Kalliope. »Warum haben sie nicht zugegriffen?«
»Weil … na, klar, die wussten, dass diese Hütte gesichert ist. Sie wollten ihn aufscheuchen und weglocken.«
»Dann ist Manfred in höchster Gefahr!«, ruft Kalliope. »Wir müssen hinterher. Wenn wir uns vorsichtig anschleichen, können wir vielleicht irgendwas tun, falls das mit dem Reden nicht klappt.«
Ich schiele zu der P99. Bin ich fähig, sie zu benutzen? Nicht mit entzündeten Augen. Ich stehe auf und gehe nach draußen.
»Hey, warte«, ruft Kalliope, »was hast du vor?«
»Ich hole bloß schnell mein Kontaktlinsenzeug, das ich vorhin … fuck.«
Die Baustrahler! Selbst am helllichten Tag blenden sie. Aus dem Haus höre ich das Piepen.
Schnell laufe ich wieder hinein, werfe die Tür zu, wir blinzeln durch eines der schmalen Fenster. Hoffentlich ist das bloß Manfred.
Der BMW taucht auf.
»Sie sind es«, flüstere ich. »Sie sind hier, warum folgen sie nicht Manfred, sondern sind jetzt hier?« Nichts ergibt Sinn.
»Ich geh da nicht rein.«
Kalliope hat sich umgedreht und zeigt auf die schmale Kammer namens Panic Room.
»Hast du Platzangst?«, frage ich.
»Es heißt Klaustrophobie und – ja, habe ich.«
Der BMW hält. Schnauzbart und Anorakmann steigen aus, sehen sich um, kommen aufs Haus zu.
»Schlechter Zeitpunkt für Phobien«, zische ich, ergreife ihre Hand und ziehe sie mit mir zur Kammer. Schnell stelle ich die Bücher im Regal wieder so hin, dass der Mechanismus zum Öffnen der Tür verdeckt ist, dann quetschen wir uns hinein. Ich betätige einen innen liegenden Schalter und die Regalwand schließt sich.
Wir sind eingepfercht. Stehen einander nicht einfach gegenüber, sondern kleben einander. Die Innenseite der Tür und die ganze Wand zum Raum hin sind mit Schaumstoff gepolstert, das soll vermutlich jedes Geräusch schlucken. Die Außenwand hingegen besteht nur aus dem rohem Holz und dazwischen gibt es tatsächlich ein paar Ritzen, wie Manfred gesagt hat, wir haben zumindest Luft. Und dünne Lichtfäden dringen hindurch. Auf Kalliopes Stirn glitzern Schweißperlen. Wie gut, dass ich vorhin geduscht habe, denke ich, als wäre das im Augenblick mein Problem. Verdammt, ich habe die Pistole auf dem Tisch liegen lassen. Aber das ändert jetzt wohl auch nichts mehr. Wir hören Schritte und Worte, ganz dumpf dringen sie durch die gepolsterte Tür, aber viel zu undeutlich, um irgendetwas zu verstehen. Trotzdem fällt mir wieder der harte Akzent von Anorakmann auf. Ist er Osteuropäer? Ein Freund von Olena? Oder ein Feind von ihr? Kalliopes Atem geht flach und schnell, sie schließt die Augen und schiebt ihre Unterlippe vor, konzentriert sich vermutlich darauf, nicht in Panik zu geraten. Ich lege einen Arm um ihre Hüfte, vielleicht beruhigt sie das, vielleicht engt es sie aber auch noch mehr ein, ich will halt irgendwas tun, um es für sie erträglicher zu machen. Beziehungsweise für mich selbst, denn solange ich mich auf sie fokussiere, kann ich vielleicht meine eigene Angst ignorieren. Ein Schleifen ist zu hören, als ob Stühle hin und her geschoben würden, dann wieder Worte. Kalliopes Brustwarzen sind stahlhart und bohren sich förmlich in mein T-Shirt. Ihr Atem wird flacher, bitte bloß nicht hyperventilieren. Sie windet sich ein wenig hin und her und ich nehme sofort meinen Arm von ihrer Hüfte, aber sie greift meine Hand und führt sie zurück an ihren Rücken, noch immer mit geschlossenen Augen, und durch die Bewegung ihres Beckens merke ich zu meinem jähen Entsetzen, dass ich die totale Erektion habe. Einer der beiden Männer ruft etwas, der andere antwortet direkt neben meinem Ohr: »I don’t think so.«
Kalliope zieht die Unterlippe ein und beißt darauf, ihre eine Hand hält immer noch meine Hand an ihrem Rücken und die andere Hand schiebt sich überraschend energisch zwischen unsere Körper und in meine Hose, sie fasst meinen Penis und tastet sich mit den Fingern vor, umschließt die Eichel und mir bleibt fast die Luft weg – und das ist gut so, denn da steht einer der beiden Killer direkt vor dem Bücherregal und wird im nächsten Augenblick den Mechanismus entdecken. Die Mischung aus Panik und Erregung bringt mich beinahe zum Explodieren, ich ziehe mit meiner freien Hand die von Kalliope aus meiner Hose, sie wehrt sich, es ist ein stummes Gefecht unserer Finger, und dann ist meine Hand auf einmal in ihrer Hose, in ihrem Slip, sie ist total feucht und mein Daumen umkreist ihre Klitoris, während auf der anderen Seite der Wand wieder gesprochen wird, diesmal etwas weiter weg, dann Tritte auf der Leiter zur Schlafstelle auf der Galerie hinauf, Tritte direkt über uns, Kalliope presst ihren Kopf in meine Halsbeuge und ihr Mund saugt sich fest, als bräuchte sie ihrerseits überhaupt keine Luft mehr. Sie bebt und ich drücke sie mit meiner anderen Hand an mich, als hätte ich Angst, dass sie andernfalls unser winziges Gefängnis sprengt, aber sie gibt nicht den allerkleinsten Laut von sich, nicht mal, als sie kommt. Mein Daumen hört auf, sich zu bewegen, auch Kalliope hört auf zu beben, die Tritte kommen zurück, die Leiter hinab, und wir kleben aneinander fest wie eine Skulptur, die ein geisteskranker Künstler aus einem einzigen Klumpen Lehm geformt hat. Ich fange in Gedanken wieder zu zählen an, das hat doch vorhin auch geholfen. Der Schnitt in meiner linken Hand pocht und meine Platzwunde am Hinterkopf pocht und mein Schwanz pocht auch und mein Magen rebelliert gegen Manfreds selbst gebackenes Brot und Kalliopes Locke kitzelt in meinem rechten Auge, ihr Schweiß rinnt in mein T-Shirt, das ist der allerschlimmste Tag meines Lebens und für einen winzigen Augenblick fühle ich mich vollkommen glücklich und eins mit ihr und mit mir selbst, als durch die Ritzen der Außenwand die Stimmen der beiden Männer dringen, sie sind draußen, gehen anscheinend ums Haus herum.
Dann steigen sie in ihren Wagen und fahren weg.
Mein Körper braucht sehr lange, um den Befehl des Hirns durchs Rückenmark an die Hände weiterzuleiten: Bitte die eine Hand von Kalliopes Rücken lösen und die andere Hand aus ihrem Slip nehmen und die Türe öffnen. Aber es geht dann doch, die Tür schwingt auf und eine Welle frischer Luft schwappt herein. Ich nehme Kalliope am Arm und bugsiere sie vorsichtig aus der Kammer heraus, erst dann schlägt sie die Augen auf, weicht meinem Blick aus, saugt die Luft ein, tiefer und noch tiefer, dann erbebt sie unter einem Hustenanfall, schüttelt sich, stürmt hinaus auf die Veranda und ich denke, dass sie jetzt bestimmt ebenfalls kotzen muss, stattdessen greift sie nach ihren Zigaretten, die da draußen liegen, zündet sich eine an und raucht in kurzen, hastigen Zügen.
In dem Raum hat sich auf den ersten Blick nichts verändert. Keine Stühle umgeworfen, keine Regale durchwühlt, selbst die P99 liegt an ihrem Platz. Ich nehme sie an mich und auch den Autoschlüssel und gehe hinaus.
Kalliope zieht noch zweimal hektisch an der Zigarette, dann pflückt sie den Schlüssel aus meiner Hand und ohne jedes weitere Wort steigen wir in ihren Wagen. Sie lässt den Motor an und ich tippe im Navi das Wort Eismaar ein. Das Handy wüsste wohl sofort, was gemeint ist, und würde nicht nur die Strecke anzeigen, sondern auch Fotos und Erfahrungsberichte von Leuten, die schon dort gewesen sind. Nices Ausflugsziel, man kann in dem klaren Wasser toll schwimmen, aber der Typ von der Pommesbude war unfreundlich, darum leider nur drei Sterne . So was halt. Dieses Navi hier hingegen scheint fieberhaft zu überlegen, schlägt mir alle möglichen Straßen vor, die so ähnlich heißen, findet dann aber einen gleichnamigen Point of Interest, knappe vier Kilometer entfernt, das muss es sein. Schon brettern wir durch den Wald und ich kann kaum das Navi an der Scheibe anpappen, weil ich mich mit der anderen Hand an den Haltegriff krallen muss. Wir schießen aus dem Wald heraus auf die Landstraße, biegen diesmal nicht Richtung Bernscheid ab, sondern in die andere Richtung. Kalliope beschleunigt auf hundertsechzig, hundertachtzig, aber nur kurz, dann tritt sie die Bremse durch, bevor wir einem Wohnmobil hinten reindonnern. Sie schaltet runter und überholt in einem halsbrecherischen Manöver, schaltet wieder hoch, bremst abermals, noch ein Wohnmobil, davor ein Kombi voller Gepäck bis unters Dach, als hätten gerade eben die Schulferien begonnen. Haben sie aber nicht, die beginnen erst nächste Woche. Theoretisch. Wieder überholt Kalliope, schon fliegt die Kurve auf uns zu, und wenn uns jetzt ein Wagen entgegenkommt, ist es um uns alle geschehen. Aber da kommt keiner entgegen, nur ein Schild: Wanderparkplatz Eismaar. Kalliope reißt das Lenkrad herum, wir folgen dem Weg und halten kurz darauf auf einem Parkplatz, wo drei Wohnwagen stehen und ein paar Autos, darunter der Porsche Cayenne. Der BMW ist nicht zu sehen.
Vor einem der Wohnwagen sitzt eine Frau in einem Sonnenstuhl, zwei kleine Kinder spielen neben ihr mit Dinosaurierfiguren. Wir steigen aus und die Frau fährt kreischend hoch, presst die Kinder an sich und ruft: »Bitte nicht, wir haben überhaupt nichts Wertvolles.«
Schamesröte schießt mir ins Gesicht, als mir die Waffe in meiner Hand bewusst wird. Ich schiebe sie sehr ungelenk in meine Hosentasche, hebe die Hände und sage: »Das tut mir leid, wir wollten Sie nicht erschrecken. Wir suchen einen Freund von uns, er ist in Gefahr. Haben Sie ihn gesehen? Etwa so groß, zirka fünfzig Jahre, graue Haare, etwa so lang.«
»Oder zwei Männer«, ergänzt Kalliope, »einer mit Schnauzbart – vielleicht bewaffnet?«
Die Frau macht ein entsetztes Gesicht und sagt: »Drüben beim Maar wurde vorhin geschossen. Du lieber Gott, ich dachte, das wären Jäger. Wir sind doch extra aus der Stadt raus, weil wir dachten, hier auf dem Land …«
Den Rest kriegen wir nicht mehr mit, weil wir schon den Wanderweg entlangrennen, durch einen Streifen von Büschen und Bäumen bis zum Ufer des beinahe kreisrunden Vulkansees.
»O nein, scheiße«, stößt Kalliope hervor und streckt den Arm aus.
Nicht weit vom Ufer treibt etwas an der Wasseroberfläche. Oder jemand. Ein lebloser Körper. Manfred.
Sie reißt sich das T-Shirt vom Leib, streift Schuhe und Hose ab und rennt ins Wasser hinein, prustet, steht bis zum Bauch, jetzt bis zum Hals im See und bekommt ihn zu fassen, dann schiebt sie ihn vor sich her aufs Ufer zu, ich habe auch Hose und Schuhe ausgezogen und wate ihr entgegen. Gemeinsam ziehen wir Manfreds Leiche aus dem Wasser und die niedrige Böschung hinauf. Seine Augen sind zu, das Gesicht wirkt wächsern wie eine Maske, obwohl er noch gar nicht lange tot sein kann. Erstaunlich, wie schnell alles Lebendige aus einem Körper weicht.
In seiner Stirn ist ein blutiges Loch.
»Scheiße, warum hast du nicht auf uns gehört!« Kalliope trommelt mit den Fäusten auf seine Brust ein. »Warum hast du …« Tränen laufen an ihren Wangen herab und vermischen sich mit dem Schweiß an ihrem Hals. Ich würde auch gern heulen, aber es geht nicht, nichts geht mehr mit meinen Augen.
»Was für einen Sinn hat das nur?«, frage ich dumpf. »Was haben die Schweine davon, Manfred zu töten? Etwa aus Rache? Lässt Jessica Morena ihren eigenen Mann ermorden, weil er sie verraten hat? Und was machen die Kerle jetzt? Haben sie ihren Auftrag erledigt? Oder wollen sie am Ende doch den Chip? Der ist doch jetzt total wertlos.« Ich drehe mich im Kreis, auch wörtlich, ich suche mit den Augen das Ufer des Sees ab und den Saum des Waldes. »Stecken die noch irgendwo und beobachten uns jetzt gerade?«
Kalliope antwortet nicht, ich führe eher ein Selbstgespräch, während sie über Manfreds Leiche kauert und stumm weint.
»Jessica muss das beenden«, sage ich und schaue in Manfreds wächsernes Gesicht. »Deine Frau muss diese Killer abschalten. Und dann muss sie uns Olenas Brief aus deinem Safe geben. Und wir müssen Olena finden, damit sie Herostratos abschaltet.«
Ich fühle in der Gesäßtasche meiner Hose den Schlüssel, den er mir am Morgen gegeben hat.
»Du bist ja besessen von dieser Olena«, stößt Kalliope hervor, zieht die Nase hoch und sieht mich an. »Fünf Menschen sind tot, aber du willst immer noch an deinem bekackten großen Rad drehen?«
»Dieses Rad«, sage ich leise, »das kommt mir inzwischen wie ein riesiger Mühlstein vor, der auf uns zurollt. Wir rennen durch eine enge Gasse und können nirgends raus und das Rad rollt hinter uns her und wir rennen nur weg. Es wird uns zermalmen. Wenn das Internet nicht zurückkommt, gibt es vielleicht Krieg. Und zwar nicht nur im Cyberspace. Wenn Olena wirklich eine Hintertür im Code von Herostratos eingebaut hat und verhindert, dass der Trojaner sich übermorgen von selbst abschaltet, dann muss jemand eingreifen. Das Rad stoppen. Und das sind wir. Verstehst du? Statt vor dem Rad wegzulaufen, müssen wir versuchen, aufzuspringen und es anzuhalten.«
»Wie bei einem Jump-and-Run-Spiel?«, murmelt sie und schaut wieder Manfred an, als sei es an ihm, dazu eine Einschätzung abzugeben. »Du willst gar nicht mehr selber das große Rad drehen, du willst es bloß stoppen, ja? Kein neues Internetzeitalter? Keine Ära Habakuk?«
Ich schüttle den Kopf. »Es soll einfach nur aufhören. Alles. Dass man uns verfolgt. Und die Cyberkalypse.«
»Wie willst du Jessica überhaupt dazu kriegen, ihre Killer zurückzurufen?«
»Ein Deal. Wir geben ihr den Chip, sie lässt uns laufen. Und gibt uns Olenas Brief.«
»Aberwitzig«, sagt Kalliope. »Und wenn die uns vorher kriegen? Bevor es zu irgendeinem Deal kommt?«
Wieder schaue ich mich um. Natürlich keine Spur von den Mördern.
»Hätten sie uns töten wollen, hätten sie mehrmals Gelegenheit dazu gehabt«, sage ich. »Auch jetzt gerade, zum Beispiel. Aber ich glaube, das wollen sie nicht. Sie wollen vielmehr sehen, was unsere nächsten Schritte sind. Dass wir zu Jessica fahren, erwarten sie ganz sicher nicht. Und es bleibt ja auch immer noch die Möglichkeit, dass sie wirklich nur durch uns auf Manfreds Spur kommen wollten. Dass sie ihren Job erledigt haben und wir sie nie wieder zu Gesicht kriegen … Wie auch immer, wir können uns nicht irgendwo verkriechen und warten, dass es von alleine vorbeigeht. Denn das wird es nicht. Ich geb zu, mein Plan ist wirklich aberwitzig. Aber mir fällt kein anderer ein. Dir?«
»Nee«, murmelt sie. »Es stimmt schon, was du sagst. Das Rad bleibt nicht von allein stehen Wir müssen es anhalten.«
Ich hocke mich zu ihr und streiche die Locke aus ihrer Stirn. »Sind wir noch ein Team?«
»Ja.« Sie steht auf. »Mehr denn je.«