9
14.07 Uhr
Ich sitze wieder am Steuer des PT
Cruiser und muss lächeln, als ich die Uhrzeit am Armaturenbrett sehe. Vor fast genau vierundzwanzig Stunden habe ich Kalliope getroffen. Seitdem bin ich bedroht und verfolgt und beinahe gefoltert worden und habe fünf tote Menschen gesehen. Wir gleiten durch die Cyberkalypse wie durch einen dieser irren Träume, die man eigentlich nur hat, wenn man tagsüber irgendwie auf dem Sofa eindöst, so aberwitzig und verstörend – und doch hat in so einem Traum oder Albtraum alles seine eigene zwingende Logik, die nicht hinterfragbar ist. Man wacht auf und wundert sich, wie man so was Groteskes träumen konnte. Aber solange man nicht aufwacht, ist es eben nicht grotesk, sondern folgerichtig.
Immerhin sehe ich inzwischen klar, denn ich habe endlich meine Kontaktlinsen gereinigt. Danach haben wir erst einmal die Camper am Eismaar davon überzeugen müssen, dass wir keine Mörder sind. Es sind Familien aus Köln, denen die Lage in der Stadt zu gefährlich geworden ist. Sie haben ihre wichtigsten Habseligkeiten gepackt und die Häuser verrammelt und sind losgefahren. (Offiziell seien die meisten Schulen zwar nicht geschlossen, aber es gehe kaum jemand hin, sagten sie.) Ohne allzu viel von unserer Geschichte preiszugeben, haben wir ihnen erzählt, dass wir verfolgt werden und nun dringend weitermüssen. Wir haben ihnen erlaubt, unsere Ausweise zu fotografieren, damit sie bei der Polizei unsere Namen angeben können. Als sie Kalliopes Perso in die Hand nahmen, rief eine Frau: »Jetzt weiß ich, woher ich dein Gesicht kenne – du bist Kalliope von Instagram!« Obwohl sich alles in ihr sträubte, ließ Kalliope ein paar Selfies mit sich machen und lächelte dazu; schließlich brauchten wir das Wohlwollen dieser Leute. Sie haben sich dann freundlicherweise bereit erklärt, sich um Manfred zu kümmern – also in die nächste Stadt zu fahren und die Polizei zu informieren, damit ihn wenigstens jemand abholt und kühl einlagert. Spätestens übermorgen, wenn Herostratos das Netz wieder freigibt, wird man nach uns fahnden, als Zeugen oder sogar als Verdächtige, dann werden wir alles aussagen und alles wird sich aufklären; Manfred wird ein ordentliches Begräbnis kriegen und wir werden dabei sein. Aber bis dahin sind wir auf uns allein gestellt.
Im Radio gibt es nichts Neues mehr. Keine Fortschritte beim Entschlüsseln der Malware, bitte keine Panik, bitte ruhig bleiben, bitte den Anweisungen der Behörden folgen, möglichst zu Hause bleiben und öffentliche Plätze meiden; vom Krieg ist weiter die Rede, niemand will ihn, trotzdem droht er, aber Genaues weiß man nicht … Kalliope hat auf Bluetooth umgeschaltet und spielt Musik von ihrer Playlist, klingt düster und zugleich chillig, sie nennt das Slow-Acoustic-Indie-Folk-Songwriting mit Streichern, irgendeine unbekannte lokale Band mit dem prägnanten Namen Who Is Afraid Of The Big Bad Wolf?
Berechtigte Frage. Die Musik passt zur Aussicht, wir sehen am Horizont schon die Stadt, die Domspitzen und der Fernsehturm bohren sich in den bleiblauen Hitzehimmel, über allem liegt das Flirren eines weiteren heißen Sommertages, das hat was Urlaubsmäßiges und kommt mir zugleich bedrohlich vor.
Has it always been that quiet?
, will der Sänger wissen. Da dreht Kalliope auf einmal den Ton aus und sagt zu mir: »Dir ist schon klar, dass das eine ganz normale körperliche Reaktion war, oder? So was kann vorkommen … sexuelle Erregung ausgelöst durch gesteigerte Angst, eine Art Kompensationsmechanismus. Ein rein biochemischer Vorgang.«
Natürliche Reaktion. Instinkte. Archaisch.
»Sicher.« Ich nicke. »Bei mir genauso.«
»Dann ist ja gut.«
Je näher wir der Stadt kommen, desto mehr Wohnwagen, Wohnmobile und vollgestopfte Autos kommen uns entgegen. Fast eine Art Flüchtlingstreck. Zumindest in der Gegend um Bernscheid werden sie von keiner selbst ernannten Bürgerwehr mehr behelligt werden, denke ich grimmig.
Eine Raststätte wird angezeigt. Unser Tank ist beinahe leer. Ich drossle die Geschwindigkeit, setze den Blinker und fahre ab.
Doch die Zapfsäulen der Tankstelle sind mit rot-weißem Absperrband gesichert, davor eine lange Warteschlange von Autos. Wir steigen aus und ich wende mich an ein paar Leute, die in einem kleinen Grüppchen beisammenstehen.
»Was ist hier los? Kann man nicht tanken?«
»Benzin, Diesel, alles leer«, antwortet eine Frau. »Es gibt keinen Tropfen mehr und sie können auch nicht sagen, wann Nachschub kommt.«
»Großartig«, brummt Kalliope und wir gehen zurück zum Auto. »Vielleicht haben wir Glück und unsere Reserve reicht bis … oh, Scheiße!«
Sie starrt den Wagen an, als sähe sie ein Monster.
»Was ist? Fällt dir gerade ein, dass du dringend zum TÜV
musst oder was?«
»Ja, so ähnlich.« Mit grimmigem Blick geht sie in die Knie und beugt sich unter das Auto.
»Was wird das?« Ich gehe auf der anderen Seite ebenfalls in die Hocke, da schnall ich es. »Wir Idioten! Natürlich, die haben vielleicht wieder einen Peilsender angebracht, während wir im Panic Room waren.«
Kalliope legt sich auf den Rücken und tastet mit beiden Händen über Kopf den Unterboden ab.
Ich schaue rüber zur Abfahrt, ob vielleicht in diesem Augenblick der rote BMW
auf den Rastplatz biegt. Da kommen aber nur ein Lkw aus Bulgarien und ein wuchtiger Jeep mit Bundeswehrabzeichen. Feldjäger
steht auf der Motorhaube.
»Hilf mir endlich«, knurrt Kalliope.
Ich lasse mich ebenfalls auf dem Boden nieder und wir tasten systematisch die Karosserie ab. Der Wagen liegt zu tief, um komplett drunterzukriechen, aber das hätten Schnauzbart und Anorakmann ja dann auch nicht tun können. Wenn da noch ein Peilsender ist, muss er irgendwo am Rand sein. Und tatsächlich. Unter dem hinteren Stoßfänger kriege ich was zu fassen. Stecknadelkopfgroß wie der andere, den ich in der Hemdtasche hatte. Jetzt klebt er an meinem Zeigefinger. Ich rapple mich auf und halte ihn hoch.
»Sie sind also wirklich noch hinter uns her«, sage ich.
Grübelnd betrachte ich das winzige Ding auf meiner Fingerkuppe.
Kalliope steht auf und klopft sich den Staub von der Hose.
»Schnips ihn einfach ins Gebüsch«, sagt sie, »und dann weg hier.«
»Oder …« Ich blicke mich um. »Oder wir schicken Manfreds Mörder auf eine kleine Reise.« Mein Blick bleibt an dem bulgarischen Lkw hängen. »Zum Beispiel nach Sofia.«
»Spinnst du?« Kalliope deutet auf den Fahrer, der gerade mit einem Handtuch und Kulturbeutel unterm Arm aus seiner Kabine klettert. »Willst du den Mann da zum Tode verurteilen? Wen sollen die noch alles umbringen?«
»Nee, stimmt. Die Killer brauchen ein paar ebenbürtige Gegner.« Ich warte ab, bis die vier Soldaten in Feldjägeruniform mit ihren umgehängten Maschinenpistolen den Jeep verlassen haben und Richtung Toiletten marschieren. Dann schlendere ich rüber und klebe den Sender mit einer schnellen Bewegung unter den Ersatzreifen am Heck.
Kalliope runzelt die Stirn, sagt aber nichts dazu. Wir steigen ein und fahren weiter. Bald schon leuchtet die Tankanzeige knallrot auf. Aber die Reserve reicht normalerweise für rund fünfzig Kilometer, damit sollten wir es schaffen. Zehn Minuten später taucht auch schon unsere Abfahrt auf, wo sich ein langer Rückstau gebildet hat. Im Schneckentempo rollt unser Wagen hinter den anderen her, und als wir wie in Zeitlupe um die Kurve fahren, sehen wir die Straßensperre. Immerhin sind es diesmal echte Polizisten, die hier kontrollieren. Manche Autos werden durchgelassen, andere werden direkt wieder zur Autobahnauffahrt dirigiert. Ich verkrampfe mich ein bisschen bei dem Versuch, möglichst unauffällig dreinzublicken, während die P99 im Handschuhfach blinkt und klingelt und einen Tusch spielt, aber natürlich nur in meinem Kopf.
»Guten Tag«, sagt einer der Beamten durchs Fenster, als wir endlich an der Reihe sind. »Sie haben Ihren Erstwohnsitz in Köln?«
Kalliope nickt an meiner Stelle.
»Zeigen Sie mir bitte Ihren Personalausweis.«
Zum zweiten Mal an diesem Tag zückt Kalliope ihren Perso, beugt sich über mich und reicht ihn dem Beamten heraus. Nach meinem Ausweis fragt er nicht. Anscheinend langt es denen, wenn zumindest eine Person im Wagen aus der Stadt stammt.
»Darf man ansonsten nicht rein?«, fragt Kalliope.
»Wir müssen ein bisschen aussieben«, sagt der Polizist, was die Sache nicht erklärt, sondern bloß noch rätselhafter macht.
Vielleicht ist eine Stadt im Ausnahmezustand ein Anziehungspunkt für allerlei zwielichtiges Volk, während andere Leute mit erhöhtem Sicherheitsbedürfnis sich lieber aufs Land begeben.
»Wie ist denn die Lage?«, fragt Kalliope.
»Stabil«, sagt der Polizist und gibt den Ausweis zurück. »Am besten begeben Sie sich auf direktem Weg nach Hause und bleiben erst einmal dort. Schalten Sie das Radio ein und warten Sie auf weitere Informationen.«
Wenn das das entsprechende Verhalten bei stabiler Lage sein soll, möchte ich nicht wissen, was der Beamte uns im Falle einer instabilen
Lage raten würde.
Man winkt uns durch und nach einer Weile erkenne ich, dass wir auf der Luxemburger Straße fahren, die ich gestern entlanggelaufen bin. Schon passieren wir das Kino. Kalliope wirft mir ein kurzes Weißt-du-noch?-Lächeln zu, als sei das eine schöne alte Erinnerung aus der Schulzeit. Fühlt sich komischerweise auch genauso an. Wir fahren eine Tankstelle an, aber auch hier gibt es keinen Kraftstoff mehr.
»Angeblich gibt es in ganz Köln nirgends mehr Sprit«, sagt der Tankwart und hebt wie endschuldigend die Hände. »Die Leute ham die halbe Nacht hier angestanden, um sicherheitshalber den Tank noch mal vollzumachen. Viele ham sich direkt zwei oder drei Kanister vollgemacht. Keine Ahnung, was die noch erwarten – also dass tatsächlich Krieg ausbricht oder was? Soll aber auch welche geben, die damit handeln. Also ’ne Art Schwarzmarkt. Natürlich zu Mondpreisen.«
»Und wo findet man solche Leute?«, frage ich und denke dabei nicht so sehr an den restlichen Weg bis zum Haus der Morenas, sondern an eine mögliche weite Reise auf der Suche nach Olena.
»Könn’ Se ja mal googeln«, sagt der Mann und lacht sich kaputt. »Nee, im Ernst, sehn Se, da drüben am Zaun?«
Dort hängt ein handgeschriebenes Plakat: Benzin/Diesel für Notfälle, Pohligstraße 256, bei Radermacher klingeln
.
»So weit kommt’s noch!«, schimpft Kalliope. »Gibt es wenigstens noch Zigaretten?« Sie zückt ihr Portmonee, doch der Tankwart hebt bedauernd die Arme und sagt: »Die waren noch schneller aus als der Treibstoff.«
»Dann stehen wir tatsächlich kurz vor der Apokalypse«, seufzt sie.
Wir steigen wieder ein und fahren weiter. Jedenfalls ein Stück, denn nach nicht mal fünfhundert Metern beginnt der Wagen zu stottern, bevor er langsam ausrollt. Ich lenke ihn gerade noch an den Rand der zweispurigen Straße. So weit das Auge reicht, herrscht Parkverbot.
Kalliope löst das Navi von der Scheibe und wischt mit dem Finger auf dem Display herum, um den Rest der Strecke zu studieren. Dann schaltet sie es erst mal aus.
»Wir laufen bis zur Hohenzollernbrücke«, verkündet sie, »das finden wir auch so. Und wenn wir über den Rhein drüber sind, machen wir es wieder an, vielleicht hat es dann noch genug Strom, um uns zum Ziel zu bringen. Sonst müssen wir halt fragen.«
Ich öffne das Handschuhfach und nehme die Pistole heraus, dann steigen wir aus und ich schiebe die Waffe auf meinem Rücken hinter den Hosenbund.
»Soll ich die etwa hierlassen?«, frage ich auf ihren verächtlichen Blick hin. »Stell dir vor, dein Auto wird abgeschleppt und aus Zufall findet jemand diese Waffe darin. Dann stehst du direkt unter Terrorverdacht oder was.«
»Ich glaube nicht, dass irgendjemand heute Autos abschleppt«, meint sie. »Aber bitte, wenn du unbedingt dein Spielzeug bei dir haben willst; ich bin ja nicht deine Mutti.«
Ich weiß selbst, dass es eine doofe Begründung ist. Noch vor ein paar Stunden hätte ich mich empört geweigert, so eine Waffe überhaupt anzufassen. Aber da hatte ich auch noch nicht die Leichen der vier Hillbillys gesehen und die von Manfred.
Wir laufen die Straße entlang. Hier sind wir gestern Richtung Krankenhaus abgebogen, heute gehen wir weiter geradeaus. Alles scheint ziemlich ruhig, ein bisschen wie an einem Sonntag. Die wenigen Leute, die unterwegs sind, haben es nicht eilig, das Leben läuft einen Gang langsamer als sonst. Aber das wirkt nur auf den ersten Blick entspannt. Die Leute weichen einander aus, sehen sich misstrauisch um, und mir fällt auf, dass wir das ebenfalls tun.
Die Straßen werden voller, je mehr wir uns der Innenstadt nähern. Da ist wieder der Barbarossaplatz, Polizisten regeln den Verkehr, und der läuft, anders als gestern, reibungslos. Vor einem Dönerladen hat sich eine große Ansammlung junger Männer gebildet, die mit Raubvogelblicken die Vorbeigehenden taxieren. Ich drücke meine Schultern durch und erwidere ihre Blicke und spüre unterm T-Shirt den Lauf der Waffe auf meiner Haut. Und Schweiß. Es ist wieder so heiß wie gestern, und in der Stadt fühlt sich die Hitze unangenehmer an als auf dem Land. Manchen Leuten steigt sie vielleicht auch zu Kopf. An der nächsten Kreuzung posieren drei Jungs vor einer Überwachungskamera, lassen ihre Hosen runter und präsentieren dem blinden Auge der Staatsgewalt ihre nackten Hintern.
Kalliope grinst. »Das würde Habakuk gefallen«, meint sie.
Die Jungs sehen uns und erkennen Kalliope offenbar, ziehen rasch ihre Hosen wieder hoch und kommen rüber zu uns, um sie nach einem Selfie zu fragen.
»Klar«, antwortet sie, »aber auch mit meinem Handy. Wenn das Netz wieder da ist, poste ich das auf meinem Insta-Kanal.« Die drei strahlen und fühlen sich offenbar total geehrt. »Aber nur, wenn ihr euch umdreht und noch mal eure Ärsche zeigt«, schiebt sie nach.
Da gucken sie konsterniert.
»Na, das sollte doch politischer Protest sein, oder nicht?«, fragt sie.
»Hä?«, macht einer. »Nee, nur ’n Joke halt.«
»Schade«, meint sie. »Was Politisches hätte ich gut gefunden. So style- und fashionmäßig habt ihr ja eher nicht so viel drauf.«
Damit lässt sie die drei stehen und geht weiter, ich mache ein Achselzucken in Richtung der Jungs, was irgendwie verständnisheischend sein soll, als müsste ich mich für sie entschuldigen. Was natürlich Quatsch ist. Es drückt vielleicht eher mein eigenes Unverständnis aus. Man könnte meinen, dass diese Frau an ihrer Kalliope-Habakuk-Schizophrenie irre geworden ist. Vielleicht weiß sie vor lauter Ironie selber gar nicht mehr, wer sie eigentlich
ist.
Wir passieren die Sportsbar, die gestern noch mit Happy Hour, solange wir offline sind
geworben hat. Heute ist sie geschlossen, so wie die meisten Läden in der Fußgängerzone. Vor einer Sparkasse stehen Menschen mit ratlosen Gesichtern herum, nicht weit davon entfernt schreit ein Mann einen anderen an: »Das war doch alles in der verfickten Cloud! Wir haben nichts mehr, gar nichts! Drei Jahre Arbeit komplett im Arsch! Ich habe von Anfang an gesagt, wir sollten nicht …«
Eine Frau schleppt ein Paket Waschmittel und jammert: »Wenn das Netz wieder da ist, bestell ich mir sofort einen Jahresvorrat. Selber einkaufen ist irgendwie total demütigend.«
Ihre Begleiterin brummt: »Weißt du, was ich noch viel schlimmer finde? Dass Alexa nicht mehr mit mir redet. Jetzt hab ich nicht nur einen Mann zu Hause, der die ganze Zeit schweigt …«
Von irgendwoher kommt Gesang, es klingt wie Kirchenlieder, aber durcheinander, als würden zwei verfeindete Chöre einen erbitterten Wettstreit austragen. Wir sind schon in der Nähe des Domes. Und dann sehen wir sie. Über den großen Platz vor der Kathedrale zieht eine Prozession, voran eine Frau mit einem großen Kreuz, dahinter eine Menschenmenge mit Leuten jeden Alters, auch viele Kinder darunter, einige schwenken Regenbogenfahnen, sie singen irgendwas von Frieden und Schalom, ein kleiner Junge trägt ein selbst gemaltes Plakat, auf dem in großen Buchstaben steht: Bitte kein Kriek.
Die meisten Passanten bestaunen den Zug neugierig, viele machen Fotos, manche klatschen zustimmend. Die Prozession zieht vorüber und gibt den Blick auf die zweite Gruppe frei, die sich im Halbkreis um das Portal aufgestellt hat, aus ihrer Mitte steigt schwarzer Qualm empor und im Näherkommen bemerken wir den beißenden Gestank von verbrennendem Kunststoff. Da steht eine große Mülltonne, aus der grünliche Flammen züngeln, und ein Mann in einer altertümlichen Kutte, vielleicht ein Mönch oder Priester oder was, lässt sich von den Umstehenden Smartphones und Tablets und Laptops anreichen, die er mit dramatischem Gestus in der Tonne versenkt. Seine riesige Hakennase ragt aus seiner Kapuze hervor und in seinen Augen lodert der Wahnsinn. Was die Leute singen, kann ich nicht verstehen, es ist vielleicht Latein oder Griechisch, Kyrie eleison,
es klingt flehentlich. Etwas abseits steht ein Kamerateam (Gibt es noch irgendwo analoges Fernsehen? Oder drehen die auf Vorrat?) und interviewt einen Mann in einer schwarzen Soutane mit einem lila Käppchen auf dem Kopf.
»Das müssen wir uns ansehen«, sagt Kalliope und zieht mich in Richtung der Menge, die ihrerseits von vielen Schaulustigen umringt wird.
Im Vorübergehen höre ich den Käppi-Mann sagen: »… will ich betonen, dass sich das Erzbistum Köln ausdrücklich von dieser Aktion distanziert. Unser Standpunkt ist in jeder Hinsicht …«
»Sammelt euch nicht Schätze auf der Erde«, ruft der Kapuzenheini und befördert ein weiteres Tablet in die Feuertonne, »sammelt euch Schätze im Himmel, so spricht der Herr! Seht die Vögel des Himmels, sie säen nicht und ernten nicht und der himmlische Vater ernährt sie doch! Schüttelt sie ab, die Diktatur des Digitalen, befreit euch aus der Knechtschaft der ständigen Selbstoptimierung!«
Zwei Helfer gehen umher und sammeln Geräte ein, einzelne Zuschauer lassen sich mitreißen und übergeben ihnen Handys oder iPods. Andere, die gerade fotografieren wollten, stecken ihre Handys erschrocken wieder ein, bevor man sie ihnen aus den Händen reißen kann.
Kalliope schiebt sich zwischen den Leuten hindurch und schaut fasziniert auf den schwarzen Qualm. Ein weiterer Helfer kippt Flüssigkeit aus einem Kanister in die Tonne, irgendein Brandbeschleuniger, um die Flammen weiter anzuheizen.
»Nährt das Fegefeuer der Eitelkeiten!«, ruft der hakennasige Kuttenträger. »Befreit euch von den digitalen Sklaventreibern!«
»Das ist doch Kalliope!« Eine junge Frau hat den Arm und den Zeigefinger ausgestreckt. »Kalliope von Instagram!«
Alle glotzen uns an. Beziehungsweise sie. Sogar das Singen hört für einen Moment auf. Einer der Helfer flüstert dem Kuttenmann etwas ins Ohr, der macht daraufhin einen Schritt auf uns zu.
»Halleluja, was für eine Fügung«, ruft er aus, »da ist eine echte Influencerin unter uns. Hab keine Angst, Schwester, vertrau nur auf den Herrn.«
Er streckt seine Hand aus und kommt weiter auf uns zu, und alle anderen, die um uns herumstehen, weichen unwillkürlich zurück. Obwohl wir selber uns keinen Millimeter bewegt haben, stehen wir plötzlich im Zentrum des Halbkreises. Auch das Fernsehteam hat Notiz von uns genommen. Sie lassen den Käppi-Typen stehen und der Kameramann hält voll auf uns drauf. Kalliope starrt den Kuttenmann an.
»Hast du dein Handy bei dir, Schwester? Gib es mir!« Obwohl er fast direkt vor uns steht, ruft er so laut, dass es auch alle anderen hören können: »Bisher hast du Eitelkeit und Konsumwahn gepredigt, aber heute ändert sich dein Leben von Grund auf. Setze ein Zeichen, Schwester, verbrenne das Gerät in diesem heiligen Feuer.«
Seine geöffnete Hand schwebt vor Kalliope in der Luft. Sie schaut darauf, als müsse sie sich mühsam orientieren, dann schüttelt sie den Kopf.
»Verbrennen!«, ruft jemand. »Verbrennen!« Er ruft es wie einen Rhythmus: »Ver-bren-nen!« Und andere fallen in seinen Ruf mit ein: »Ver-bren-nen! Ver-bren-nen!« Auch die, die ihre eigenen Devices ganz sicher nicht in der Feuertonne sehen wollen, grölen mit, sie filmen sogar, sie haben sich binnen Sekunden in eine geifernde Meute verwandelt, »VER
-BREN
-NEN
! VER
-BREN
-NEN
!«, und ich bin unsicher, ob sie wirklich nur Kalliopes Handy meinen oder vielleicht Kalliope selbst.
»Gib dein Scheiß-Handy ab, du Insta-Hexe!«, brüllt jemand und Spucke fliegt aus seinem Mund. »Leute wie du haben uns lange genug manipuliert!«
»Fürchte dich nicht, Schwester«, ruft der Kuttenmann und versucht, den Sprechchor zu übertönen. Kalliope greift nach meiner Hand.
»Wir gehen jetzt«, sage ich mit fester Stimme.
Wir wenden uns um.
»VER
-BREN
-NEN
!« Niemand weicht zur Seite, keiner macht uns Platz, um uns vorbeizulassen. Der Mob will die Show. Und wenn es nur um ein verdammtes Handy geht.
»Du wirst frei sein!«, ruft der Kuttenmann.
Er ist der Zeremonienmeister, er hat die Fäden in der Hand, er kann die Menge tanzen lassen, wie es ihm beliebt. Nicht nur seine Jünger, vor allem auch die Zuschauer. Die wenigen Überzeugten sind nie das Problem. Das Problem sind immer die vielen Mitläufer und Unbeteiligten, die nicht eingreifen, sondern geschehen lassen. Ohne ihren Meister aber sind sie alle nichts.
Ich lasse Kalliopes Hand los, hebe die Arme zum Himmel und rufe mit lauter Stimme: »Wahrhaftig, reiche Beute täuscht den hochmütigen Helden; er wird keinen Erfolg haben.
So spricht der Prophet Habakuk.« Ich zeige auf den Kuttenmann. »Wage nicht, dir das Amt des Propheten anzumaßen.«
Das Hakennasengesicht in der Kapuze nimmt einen sehr verdutzten Ausdruck an. Er versteht nicht, was ich damit sagen will. Ich verstehe es ja auch nicht, ich will ihn bloß irritieren und aus dem Konzept bringen. Und das funktioniert. Er lässt seine Hand sinken und überlegt, was er antworten soll. Dieser winzige Augenblick reicht aber schon, um den Bann von den Menschen zu nehmen, die Fäden erschlaffen zu lassen. Ich ergreife wieder Kalliopes Hand und wir gehen mit entschlossenen Schritten durch die Menge hindurch, die sich vor uns teilt wie einst das Rote Meer vor den Kindern Israels.
»So bleib doch, Schwester, wovor hast du Angst?«
Da dreht sich Kalliope noch einmal um und ruft: »Ich bin keine Schwester, Mann. Zum Glück bin ich Einzelkind!«
Sie glotzen uns nach, auch der Kameramann, aber niemand hat den Mut oder die Lust, uns aufzuhalten. Abseits steht der Käppi-Mann und schaut fast sehnsüchtig zu dem Kamerateam hinüber. Niemanden interessiert, wovon sich das Erzbistum Köln distanziert oder nicht. Seine Kirche, über Jahrhunderte wohl die mächtigste Influencerin der Welt, hat offenbar nicht nur lange schon die Deutungshoheit über die Menschen verloren, sondern zum Schluss auch über sich selbst.
Wir lassen den Dom hinter uns. Der Zugang zum Bahnhof ist abgeriegelt, einige Polizisten sichern die Absperrung, ohne sich für den Verbrennungsgottesdienst vor dem Portal zu interessieren. Seitlich an der Sperre vorbei gelangen wir auf die mächtige Brücke aus Stahlbögen, über die ich gestern mit dem Zug in die Stadt gekommen bin. Unter uns glitzert der Fluss und strömt gleichmütig dahin wie seit Jahrtausenden. Dem Fluss ist es egal, ob an seinen Ufern Handys und Computer verbrannt werden oder Hexen und Ketzer, ob die Flussfischer früherer Zeiten in ihren Kähnen hockten und ihre Netze flickten oder der Homo Digitalis am Zusammenbruch des Internets verzweifelt.
Mitten auf der Brücke bleibt Kalliope stehen und sagt: »Eine Sache frage ich mich schon die ganze Zeit. Schon bevor wir uns begegnet sind, schon als wir uns nur geschrieben haben.« Sie sieht mich an. »Warum behauptest du ständig, dass du nicht in der ersten Reihe stehen willst? Schon in einer deiner ersten Mails hast du mir erklärt, dass du dich für jemanden hältst, der im Hintergrund arbeitet. Wer hat dir das bloß eingeredet? Wieso versteckst du dich im Schatten irgendwelcher vermeintlich bedeutender Leute?«
»Ich … puh.«
Das hat mich noch nie jemand gefragt. Auch ich selbst habe mich das noch nie gefragt.
»Dein Auftritt gerade. Wie du diesem seltsamen Mönch die Tour vermasselt hast. Das war ganz großes Kino.« Sie gibt mir einen schnellen Kuss. »Danke dafür.«
Ich würde dazu gern was sagen, aber die Worte stellen sich nicht in die richtige Reihenfolge. Dass es doch völlig okay ist, im Hintergrund zu sein, würde ich sagen, oder dass sie nicht so tun soll, als könne man nur im Rampenlicht glücklich sein. Oder Einfluss ausüben. Influence. Mir klebt total die Zunge am Gaumen.
»Ich hab so was von Durst«, sage ich. »Lass uns drüben mal nach einem Kiosk suchen.«
»Nö, wir müssen auch gar nicht über persönliche Dinge reden.« Sie zuckt die Achseln und tut auf einmal beleidigt. »Wir sind ja nur Seite an Seite in Todesgefahr durch die Gegend gebraust und haben die Nacht zusammen verbracht und so was Ähnliches wie Sex gehabt, aber das ist ja natürlich noch längst keine Grundlage für ein einfaches persönliches Gespräch.«
Sie zieht das Navi aus ihrer Hosentasche und schaltet es wieder ein. Bis zum Haus von Manfred und Jessica Morena sind es noch neun Komma sieben Kilometer. Sie stöhnt auf.
»Das dauert locker zwei Stunden. Ja, lass uns was zu trinken kaufen.«
Sie schaltet es wieder aus und grinst mich an.
»Was machen eigentlich deine Augen?«, fragt sie. »Besser, oder? Ich frag mich, wie du wohl mit Brille aussiehst.«
Diese Frau verwirrt mich. Aber das heißt nichts, die meisten Frauen in meinem Leben verwirren mich. Einzige Ausnahme ist eigentlich Solveig mit ihrer bedingungslosen Geradlinigkeit.
Wir verlassen die Brücke, tauchen in das rechtsrheinische Köln ein und folgen dem Rhein nordwärts, verlassen dann die Uferpromenade und passieren ein paar eher heruntergekommene Straßenzüge. Ein großer Kiosk hat seine zweiflügelige Tür verheißungsvoll geöffnet, hier werden wir was zu trinken bekommen. Immerhin habe ich noch meine dreizehn Euro und Kalliope hat auch etwas Bargeld bei sich. Auf der Tür prangt ein Schild: Zutritt nur ab 18!
Drinnen sitzen viele Männer an Bistrotischen und rauchen. An den Wänden hängen etliche Flachbildschirme, natürlich alle schwarz, auf dem Tresen steht ein Kasten mit Tippscheinen zum Ausfüllen, aber keiner füllt welche aus, alle glotzen nur vor sich hin. Der Kiosk ist eines dieser verkappten Wettbüros, die sich als Café tarnen – ich kenne das Phänomen, weil es dazu kürzlich eine Debatte im Landtag gab. Immerhin sind die zwei Kühlschränke mit den gläsernen Türen noch halb voll. Die Männer heben wie ferngesteuert ihre Blicke und gaffen Kalliope unverhohlen an, einige beginnen zu tuscheln. Kalliope nimmt zwei Cola aus einem der Kühlschränke, ich greife mir zwei Flaschen Wasser und wir stellen sie auf den Tresen. Der dicke Typ mit Basecap hinter der Kasse steht von seinem Barhocker auf, guckt aber nicht uns an, sondern seine anderen Gäste, etwas Ängstliches flattert in seinen Augen. Ich sehe, dass ein paar von den Typen aufgestanden sind.
Ich zücke mein Portmonee.
»Hey«, sage ich zu dem Dicken. »Zwei Cola, zwei Wasser, was macht das?«
»Fünf Euro neunzig«, murmelt er, noch immer ohne mich anzusehen.
Die Typen kommen näher und umringen uns.
Einer sagt: »Du bist doch Kalliope, oder? Von Instagram, richtig?«
»Kann sein«, sagt sie knapp.
»Machst du ’n paar Selfies mit uns?«, fragt ein anderer.
Sie kommen unangenehm nah.
»Bin nicht im Dienst.«
Ich lege einen Zehn-Euro-Schein hin. Der Dicke öffnet umständlich die Kasse.
»Deine Haare sehen ja in echt so aus wie im Internet«, sagt ein dritter Mann und streckt die Hand nach Kalliopes Kopf aus, sie macht einen Schritt zurück. »Aber du könntest auf deinen Fotos ruhig mal ein bisschen öfter lächeln.«
»Na, jetzt ist sie ja live hier«, feixt ein vierter und schiebt sich zwischen sie und mich. »Komm, lächle doch mal.«
Sie macht noch einen Schritt zurück und stößt gegen einen weiteren Mann. Wir sollten verschwinden. Ich nehme die vier Flaschen und sage zu dem Dicken: »Stimmt so.«
Einer baut sich vor Kalliope auf, ein anderer sagt zu mir: »Zisch ruhig schon mal ab. Deine Freundin kommt später nach.«
Ich will ihn zur Seite schieben, da schlägt er mir mit dem Handrücken ins Gesicht, so schnell, dass ich nicht ausweichen kann, es nicht einmal sofort begreife.
»Hey, spinnst du?«, schreit Kalliope. Einer der Kerle hat ihr unters T-Shirt gegriffen.
Meine Lippe ist aufgesprungen. Ich tupfe sie mit dem Verband an meiner linken Hand ab. Scheiße – was soll ich tun? Wie kommen wir hier raus?
Der Dicke guckt sich um, dann sagt er: »Ich muss mal nach hinten. Ich bin gar nicht hier.«
Er will sich verpissen und nicht verantwortlich sein.
Da überkommt mich was, genau wie heute Morgen in diesem Kachelraum, und plötzlich fällt mir ein, was mich da am Rücken kratzt. Ich setze die vier Flaschen wieder ab und greife ganz langsam nach hinten an meinen Hosenbund.
»Hört auf!«, schreit Kalliope. »Ich werde euch alle anzeigen!« Da sind schon drei, vier, fünf Hände an ihrem Hintern, auf ihren Brüsten, auf einmal hab ich die P99 in der Hand.
»Flossen weg, ihr Wichser!«
Sie erstarren. Der Dicke hinter dem Tresen, der gerade abhauen wollte, hält inne und hebt sofort die Hände zur Decke.
»Rüber an die Wand dahinten«, kommandiere ich. »Alle.«
Meine Stimme zittert, aber nicht meine Hand, die ist völlig ruhig und dirigiert die Typen mit dem Lauf der Waffe in den hinteren Teil des Raumes, wo die Bistrotische stehen.
Kalliope ist leichenblass. Mechanisch nimmt sie die vier Flaschen vom Tresen und klemmt sie unter den linken Arm.
»Geht aufs Haus«, nuschelt der Dicke.
Kalliope angelt sich meinen Zehn-Euro-Schein.
»Wenn das so ist«, sage ich, »hätte ich gern noch ’ne Tüte Chips.«
Kalliope sieht mich entgeistert an. Ich weiß selber nicht, warum ich jetzt einen auf cooler Gangster machen muss. Das bin auch gar nicht ich, das ist die Waffe, die da aus mir spricht. Indem wir nicht einfach schnell abhauen, zelebriere ich mein neues Machtgefühl.
Der Dicke greift mit zitternder Hand zu einer Chipstüte im Regal. Ich beobachte ihn aus dem Augenwinkel, ohne meinen Blick von den Typen an der Wand abzuwenden.
»Nee, die nicht«, sage ich. »Lieber die ungarischen.«
Er schiebt die Tüte wieder zurück an ihre Stelle, zieht eine andere heraus und legt sie brav in Kalliopes vollgepackte Arme. Alles in Zeitlupe, alles in absoluter Totenstille, man könnte eine Fliege durch den Raum summen hören, aber da summt keine. Die Männer stieren uns an.
»Lächelt doch mal!«, zischt Kalliope. »Warum lächelt ihr denn nicht mal? Ihr seht viel hübscher aus, wenn ihr lächelt.«
Dann geht sie langsam hinaus. Ich folge ihr rückwärts, wobei ich mit dem Lauf der Pistole noch mal die Reihe der Männer abfahre und ihre hasserfüllten Blicke in mich aufsauge wie jede Menge Likes.
Dann sind wir auf der Straße, ich stecke die Pistole weg und wie auf Kommando fangen wir an zu rennen. Wir rennen die Straße hinab und die nächste hinauf, ohne auf das Navi zu sehen, einfach nur weg hier, bis wir einen belebten Platz erreichen. Ein kleiner Wochenmarkt ist hier aufgebaut, alles ist voller Menschen. Sie schlendern zwischen den Ständen herum oder sitzen auf den Bänken und lesen, Kinder spielen Fangen und an der nahen Straßenbahnhaltestelle sitzen ein paar Leute entspannt auf den Gleisen und trinken Bier.
Völlig außer Puste bleiben wir stehen und ich sehe, dass Kalliopes Beine nachgeben, sie lässt sich einfach auf den Bordstein sinken. Ich nehme eine von den Wasserflaschen und öffne sie. Durch das Rennen ist die Kohlensäure ordentlich durchgeschüttelt und der halbe Flascheninhalt schießt mir mit einer harten Fontäne ins Gesicht. Das tut irre gut.
Kalliope lacht, dann hält sie ihre Colaflasche mit weit ausgestrecktem Arm von sich weg, öffnet sie ganz vorsichtig und trinkt sie in einem Zug leer. Es folgt ein sehr beeindruckender Rülpser. Ich nicke anerkennend, lasse mich neben sie plumpsen und drücke meine zweite Wasserflasche gegen meine geschwollene Lippe.
»Du hast mich schon wieder gerettet«, sagt sie. »Zweimal innerhalb einer Stunde.«
»Dann sind wir ja quitt«, sage ich. »Der BMW
gestern zählt doppelt.«
»Na ja«, meint sie. »Wir hatten uns doch überlegt, dass die nicht ernsthaft versucht haben, dich zu töten. Insofern zählt das nicht richtig.«
»Machen wir jetzt hier eine Buchhaltung auf oder was?«, frage ich.
»Nee.« Sie öffnet ihre zweite Flasche, setzt sie an den Mund, nimmt sie ohne zu trinken wieder herunter und sieht mich an. »Mann, Amir. Ich hatte echt richtig Angst, gerade.«
»Ich auch«, gebe ich zu. »Was haben die sich gedacht? Haben die gedacht – guck mal, da kommt ’ne Tussi aus ’m Internet, da machen wir mal ’n kleinen Gangbang mit der, oder was? Die … die hatten überhaupt keine Hemmungen, kein Unrechtsbewusstsein, da war nicht das kleinste bisschen Empathie, die hätten dich alle gemeinsam vergewaltigt. Alles nur, weil sie sich in diesem Augenblick unbeobachtet fühlten? Weil sie dachten, die Polizei ist eh überfordert und ohne Handy kann niemand Hilfe holen? Und es wird niemals Konsequenzen haben? Ich meine – funktioniert diese ganze bekackte Zivilisation denn ausschließlich durch Kontrolle und Furcht vor Strafe? Werden ansonsten alle gleich zu Tieren?«
»Vielleicht haben sie einfach nur ihr wahres Gesicht gezeigt.« Sie macht ein verächtliches Geräusch. »Von wegen: Lächle doch mal.
Warum denken Männer immer, sie hätten ein Recht auf Zuwendung durch Frauen?« Sie boxt mich gegen die Schulter. »Was bringen euch eure Mütter eigentlich bei, he?«
Empörung regt sich in mir und ich will ihr widersprechen, weiß aber nicht, mit welchen Worten. Kalliope nestelt ihre Zigarettenpackung aus der Hosentasche, zählt die verbliebenen Stängel und kommt auf fünf.
»Wir hätten noch ein Päckchen Kippen mitnehmen sollen«, brummt sie und zündet sich eine an.
Ich öffne die Chipstüte.
Sie bläst eine Rauchwolke aus, schaut ihr nach und sagt: »Manchmal, wenn ich total depri bin, stelle ich mir vor, ich müsste sterben. Zum Beispiel an einer schlimmen Krankheit. Und dann male ich mir in Gedanken aus, wie meine letzten Selfies sein sollen und was ich dazu schreibe. Das hat was total Tröstliches irgendwie. Verstehst du? Die Vorstellung, ich würde öffentlich sterben, vor Publikum, mit all meinen Followern, das hat mir immer ein bisschen die Angst vor dem Tod genommen.« Ihre Augen füllen sich mit Tränen. »Wer so viele Follower hat, ist eigentlich unsterblich«, flüstert sie. »Solange dein Profil on ist, lebst du weiter. Aber es gibt kein Profil mehr, keine Follower, niemand hätte etwas mitgekriegt. Die hätten mich in irgendein Hinterzimmer gezerrt und zerfleischt. Keiner hätte meine Schreie gehört. Niemand hätte mit mir mitgelitten.«
»Doch, ich.«
Da schluchzt sie auf. »Ich will das Internet zurück. Sofort.«
Ich nehme sie in die Arme und sie weint hemmungslos. Ich halte sie, wiege sie ein bisschen hin und her, niemand beachtet uns. Ihre angerauchte Zigarette verglüht im Rinnstein.
Sie zieht die Nase hoch und lächelt. »Ja, du hättest mit mir gelitten.« Sie wischt ihre Tränen ab und greift in die Chipstüte.
»Ich glaube, ich könnte sie niemals benutzen«, sage ich. »Die P99, meine ich. Also abdrücken. Hätte einer von denen ebenfalls eine Waffe gehabt oder mich einfach nur so angegriffen, bloß mit den Händen, ich glaube, ich hätte die Knarre sofort fallen gelassen.«
»Das verstehe ich. Und ehrlich gesagt – ich bin ganz froh darüber.« Sie legt ihren Kopf an meine Schulter, diesmal ohne Klaustrophobie, ganz easy, als wären wir ein Pärchen. »Wir gönnen uns noch fünf Minuten Pause, bevor wir weitergehen, okay?«
»Okay.«
Ich streichle ihre Schulter und schaue dem Treiben auf dem Platz zu. Das ist ja interessant.
»Schau mal«, sage ich, »da die Einkäufer. Da bei den Marktständen.«
Eine Frau lässt sich gerade Gemüse abwiegen, kramt in ihrer Tasche und hält der Verkäuferin zwei Gläser Marmelade hin, sie diskutieren, die Frau packt die Marmelade wieder weg und holt eine Weinflasche hervor, die Verkäuferin nickt und packt das Gemüse in eine Tüte, reicht sie über die Theke und nimmt dafür den Wein entgegen.
»Tauschhandel«, sagt Kalliope. »Krass. Wahrscheinlich geht den Leuten langsam das Bargeld aus.« Sie steht auf und zieht ihr Portmonee aus der Hosentasche. »Ich hab zwar gerade nichts zum Tauschen, aber noch zwanzig Euro. Und ganz schön Hunger. Du auch? Ich lade dich ein.«
Ich zögere, weil ich wieder daran denke, dass wir Benzin kaufen müssen, wenn wir Olena suchen wollen. Denn die hält sich ganz sicher nicht in Köln auf. Vielleicht ja in Kiew? Bis dahin kann man mit dem Auto fahren, wir hätten zumindest eine theoretische Chance. Aber da kommen wir mit dem bisschen Bargeld auch nicht hin, wir bräuchten eh eine andere Lösung. Also nicke ich. Sie streckt mir die Hand hin und ich lasse mich von ihr auf die Beine ziehen. Kalliope kauft Fischbrötchen für uns und wir schlendern über den Wochenmarkt. Ich höre den Leuten ein bisschen beim Feilschen zu und denke an Theorien über Regionalwährungen, die ich mal gelesen habe.
»Dieser Tauschhandel ist eigentlich gar nicht schlecht«, sage ich. »Ein Wirtschaftssystem ohne Finanzindustrie wäre vermutlich viel gerechter. Im Großen funktioniert das wohl nicht, aber im Kleinen vielleicht schon.«
»Oder auch nicht«, meint Kalliope kauend und zeigt auf ein paar improvisierte Stände ganz am Ende des kleinen Marktes. Hinter Tapeziertischen sitzen drei Männer und eine Frau, bewacht von zwei finster dreinblickenden Gestalten, die ansonsten vermutlich nachts vor Clubs »die Türe machen«. Dort stehen Leute an, bieten Uhren und Schmuck feil, die in einer großen, gesicherten Kiste verschwinden, bevor aus einer stählernen Kasse Banknoten ausgezahlt werden. Pfandhaus Herbold,
steht auf einem improvisierten Schild. Und darunter: Bargeld sofort, Laufzeit bis Ende der Cyberkalypse, Zinsen 29 % zzgl. 9 % Gebühren.
»Der reinste Wucher«, sage ich.
»Den Kapitalismus kriegst du halt nicht so leicht tot.« Kalliope zuckt mit den Schultern. »Das müssen die Menschen irgendwann selber in die Hand nehmen. Zwangsbeglückung hilft da nicht. Weder durch den Kommunismus noch durch eine globale Hackerbande wie Olena und ihr Komitee.«
»Psst, nicht so laut«, mache ich unwillkürlich.
Kalliope lacht. »Denkst du, die beiden Killer haben sich da drüben unter dem Salat versteckt und belauschen uns?«
»Kannst du das ausschließen? Ich nicht. Ich schließe nie wieder irgendwas aus.«
18.23 Uhr
Vor allem können wir nicht ausschließen, dass Schnauzbart und Anorakmann die Verfolgung abgebrochen haben und stattdessen zu ihrer Auftraggeberin gefahren sind. Doch als wir den Seidenpfad erreichen, ist kein roter BMW
zu sehen. Andere Autos allerdings auch nicht. In so einer Gegend parkt niemand auf der Straße, denn die verstreut liegenden Anwesen verfügen über großzügige Garagen. Das Haus von Manfred und Jessica Morena ist ein lang gestreckter Bungalow aus Sichtbeton, der sich, soweit sich das von außen sehen lässt, ziemlich verwinkelt über ein großes Grundstück hinzieht. Jedenfalls gehen wir davon aus, dass es der Bungalow der Morenas ist, ein Namensschild gibt es nicht, weder am Gartentor noch an der Haustür. Ich erwidere den Blick der Kamera, die mich wahrscheinlich gar nicht sehen kann, weil sie offline ist, und drücke die Klingel, die kein Geräusch von sich gibt, weil sie sicher ebenfalls offline ist. Trotzdem drücke ich mehrmals drauf, Kalliope klopft, nichts passiert.
Aus Verdruss drücke ich gegen den Türknauf und mit einem leisen Klack öffnet sich die Tür.
»Hallo?«, ruft Kalliope in den Hausflur hinein und klopft nochmals. »Hallo! Ist jemand zu Hause?«
Wir wechseln einen Blick.
»Das ist eine Falle«, sage ich und klinge fast wie Admiral Ackbar in Episode VI
.
»Wir müssen trotzdem da rein«, sagt Kalliope.
»Ich hab ein ganz mieses Gefühl«, sage ich.
»Kannst du aufhören, diese Situation mit Star-Wars-Zitaten aufzuheitern?«
»Mann, ich hab Schiss! Ich mach doch so was auch nicht jeden Tag.«
»Denkst du ich? Aber ich geh da jetzt rein. Da drin ist die Frau, die uns durchs halbe Land hat verfolgen lassen. Die ihren Mann hat umbringen lassen. Ich will ihr endlich ins Gesicht sehen!«
»Okay.« Ich atme aus und ziehe die P99.
Sie schiebt sich lautlos in den Flur, ich folge ihr. Der Hausflur ist dämmrig, die Türen zu den einzelnen Räumen sind geschlossen, aber hinter der Ecke wird es hell, da fällt Licht aus dem Wohnzimmer herein.
»Hallo?«, ruft Kalliope wieder.
Keine Antwort.
Das Wohnzimmer ist riesengroß, dafür ziemlich leer. Ein paar Sessel stehen da, die wie vom Sperrmüll aussehen, ein Esstisch mit Stühlen, von denen keiner zum anderen passt, im Hintergrund die offene Küche mit einer großen Kochinsel, auf deren linker Seite ein richtiges kleines Blumenbeet eingelassen ist, wo Kräuter wachsen. Irgendwie passt hier nichts zusammen und gerade dadurch schon wieder sehr. Die bodentiefen Fenster geben den Blick auf einen verwilderten Garten frei, wo zwischen umgestürzten Bäumen Gräser und Bambusstauden wuchern. Alles wirkt irgendwie total gewollt verwahrlost und soll vielleicht Individualität ausdrücken, was weiß ich. An den Wänden hängen sehr abstrakte Bilder, sie sehen fast wie Aufnahmen von menschlichem Gewebe aus, Lungenflügel oder so was, verästelte Gefäße in schillernden Farben, irgendein Organismus, könnte aber auch eine Allegorie auf das Internet sein. Auf der Anrichte steht ein großer hölzerner Messerblock und mir fällt auf, dass eines der Messer fehlt. Vielleicht ist es bloß in der Spülmaschine.
Durch einen weiteren Durchgang verlassen wir das Wohnzimmer und sind wieder im Flur, der nun eine Kurve in die andere Richtung macht, da fliegt plötzlich eine Tür auf, ein Messer blitzt auf und eine Frau stellt sich uns entschlossen in den Weg.
»Stehen bleiben! Was machen Sie hier?«
Die Frau ist vielleicht Ende fünfzig, trägt einen strengen Dutt und ein enges Top, das ihre muskulösen Oberarme betont. Mit der möchte ich mich schon ohne Messer nicht anlegen, geschweige denn mit. Ich richte die Pistole auf sie und ein kleiner Teil meines Bewusstseins stellt fest, wie routiniert ich das mache. Die Frau lässt sich davon aber nicht beeindrucken. Die Klinge ihres Messers kreist angriffslustig.
»Sind Sie Jessica Morena?«, frage ich.
»Wer sind Sie?«, entgegnet sie. »Was wollen Sie?«
»Sie wissen genau, wer wir sind«, sage ich cool. Ich spüre wieder die Macht der Waffe. »Sie wundern sich vielleicht, dass wir noch leben. Oder haben Sie uns sogar erwartet?«
Ihre Gesichtszüge zucken leicht, als würde ich sie verwirren.
»Wieso … erwartet?«
»Die Tür stand offen«, sagt Kalliope.
»Ja, die verdammte Tür!«, schimpft die Frau plötzlich. »Lässt sich nicht mehr verriegeln. Weil das verdammte Smart Home Security System so programmiert ist, dass sich im Krisenfall alle Türen und Fenster öffnen. Falls der Strom ausfällt, gibt es eine Reservebatterie. Aber dass stattdessen das verfluchte Internet gleich ganz ausfällt, hat keiner geahnt. Und jetzt herrscht hier ein verdammter Tag der offenen Tür. Also zum letzten Mal – wer sind Sie und was wollen Sie?«
»Es sind zwei Dinge, die wir von Ihnen wollen«, sage ich. »Als Erstes geht’s um einen kleinen Deal. Sie kriegen Ihren verdammten Chip und dafür pfeifen Sie Ihre Killer zurück.«
»Was für einen Chip?« Die Kreise, die ihre Messerklinge beschreiben, beginnen zu eiern. »Was für Killer? Sie sind entweder schlicht verrückt oder Sie haben sich in der Tür geirrt.«
»Sie sind doch Jessica Morena, oder etwa nicht?«, frage ich und ziele mit der P99 auf ihren Kopf.
Und Kalliope sagt: »Wir reden von den Killern, die Ihren Mann getötet haben.«
»Was?«
Sie wird bleich. Anscheinend haben Schnauzbart und Anorakmann es ihr gar nicht gesagt. Hatten wohl gar keine Möglichkeit, ihre Auftraggeberin zu kontaktieren. Das Messer hört auf zu kreisen.
»Er ist tot!«, schreit Kalliope plötzlich. »Kapieren Sie das endlich? Manfred ist tot. Alles nur für diesen bekackten Chip!«
»Ich … weiß nichts von einem Chip!«
Sie lässt die Hand mit dem Messer sinken.
»Der Chip, den Manfred mir gegeben hat«, sage ich. »Um die Verbindung zwischen CAP
und der Agentur in St. Petersburg aufzudecken. Der Chip, wegen dem Sie uns die zwei Typen auf den Hals gehetzt haben. Die Kerle haben heute Vormittag Ihren Mann erschossen – und noch ein paar andere Leute.«
»Lächerlich.« Sie schüttelt den Kopf. »Ich weiß nichts von einem Chip. Und ich kenne auch keine – wie Sie sagen – Killer. Was ist mit Manfred?«
»Er ist tot, verdammt«, sagt Kalliope.
Wieder schüttelt die Frau den Kopf.
»Das kann gar nicht sein«, sagt sie. »Manfred ist doch gar nicht der Typ, der sich …«
… der sich ermorden lässt? Sie merkt selber, dass der Satz keinen Sinn ergibt. Aber wie soll man auch angemessen reagieren auf eine solch unglaubliche Nachricht?
»Wie ist das passiert? Was haben Sie damit zu tun?«
Mein Arm wird lahm. Sie scheint die Pistole in meiner Hand völlig zu ignorieren, ist in ihrer eigenen Verwirrung gefangen. Ich nehme die Hand runter, aber bleibe auf der Hut, falls sie uns nur austrickst und plötzlich doch mit dem Messer angreift.
Aber sie wirkt nicht wie jemand, der uns austricksen will. Der uns eine Falle gestellt hat. Oder Killer anheuert. Kann es denn sein, dass sie von alledem wirklich nicht das Geringste weiß?
Also fange ich an, von meinem Treffen mit Manfred in der Tiefgarage zu berichten. (Solveig lasse ich außen vor.) Ich erzähle, wie ich Kalliope/Habakuk den Chip übergeben wollte und wie der BMW
auf uns zuraste, wie wir verfolgt wurden, anschließend Shadow trafen und die Stadt verließen, um Manfred zu finden. Kalliope schildert unsere Begegnung mit Manfred und was wir über sein Treffen mit Olena wissen, allerdings ohne das Globale Komitee zu erwähnen, auch Olenas Verbindung mit der Cyberkalypse lässt sie weg. Sie erzählt, wie die Killer heute Morgen wieder auftauchten, dann schluckt sie kurz und beschreibt schließlich den Moment, als wir Manfreds Leiche im See gefunden haben.
Jessica Morena schaut an die Decke, dann geht sie ganz langsam an uns vorbei durch den Flur und ins Wohnzimmer mit der offenen Küche. Es ist, als hätten wir uns für sie in Luft aufgelöst. Sie legt ihr Messer neben den Herd, bückt sich zu einem Kühlschrank und holt eine Flasche Wodka heraus, nimmt ein Glas, schenkt sich ein und kippt es herunter. Wir folgen ihr vorsichtig. Ich schiebe die P99 zurück in den Hosenbund. Jessica gießt ein zweites Glas ein und sagt mit Blick auf den Garten: »Ich hab gar nicht gewusst, dass er noch Kontakt zu Gerd Schattmann hatte. Das hat er mir nie erzählt. Und dass er sich mit Olena Doroschenko getroffen hat …« Sie kippt das zweite Glas und sieht uns an. »Wo ist er jetzt?«
Kalliope berichtet von den Campern, die uns versprochen haben, sich um Manfreds Leichnam zu kümmern.
»Können Sie mir beweisen, dass das alles stimmt, was Sie da sagen? Können Sie irgendwie belegen, dass Sie sich das nicht alles bloß ausgedacht haben?«
»Ich habe den Chip, den Manfred mir gegeben hat«, frage ich. »Der Inhalt dürfte Beweis genug sein. Wollen sie ihn sehen?«
Jessica Morena winkt ab und zuckt mit den Schultern. Zuckt wieder und wieder, hört gar nicht mehr auf zu zucken, schlägt die Hände vors Gesicht und schluchzt. Im nächsten Moment greift sie wieder nach dem Messer, meine Hand schnellt zur Pistole, doch sie richtet die Klinge nicht gegen uns, sondern sticht wie von Sinnen auf die Bilder an der Wand ein.
»Du arrogantes Arschloch, wie konntest du mich so hintergehen? Und lässt dich dann einfach umbringen!«
Wir verfolgen ihren Ausbruch stumm und reglos. Ich versuche mir bewusst zu machen, wer sie eigentlich ist: Die Chefin von CAP
, Heerführerin der zigtausend Crowdies, die Frau hinter jenem Algorithmus, den ich noch vor wenigen Monaten um einen Score von 85 Punkten angebettelt habe. Sie zerhackt die Leinwände, bis die abstrakten Gewebeformen in Fetzen aus den Rahmen hängen. Mikrotasking.
Endlich hält sie inne.
»Entschuldigung«, murmelt sie, steckt das Messer in den Holzblock auf der Anrichte und gießt sich noch einen Wodka ein. »Wollen Sie auch einen?«
Wir schütteln beide den Kopf.
»Und was erwarten Sie jetzt von mir? Wollen Sie mich vielleicht erpressen, weil ich sensible Daten an die Russen verkauft habe? Das können Sie sich sparen. Seit der Cyberkalypse interessiert das niemanden mehr.«
»Habe ich doch schon gesagt«, antworte ich »Wir bieten Ihnen den Chip an als Preis dafür, dass Ihre Killer uns in Ruhe lassen.«
Das war zumindest unser Plan. Doch während meine Worte nachhallen, wird mir klar, dass unsere Annahmen völlig falsch gewesen sind. »Aber es sind gar nicht Ihre Killer«, stelle ich fest. »Sie haben überhaupt nichts von dem Chip gewusst. Sie haben nicht im Geringsten geahnt, dass Ihr Mann über Ihren Deal mit den Russen im Bilde war. Geschweige denn, dass er die Sache an die Öffentlichkeit leaken wollte. Darum haben Sie auch keine Killer auf uns angesetzt.«
»Richtig.« Sie lacht kurz auf. »Aber gute Idee, eigentlich.«
Es dauert einen Augenblick, bis ich wirklich begreife, dass der Chip wertlos geworden ist. Und dass wir die Killer auf die Art nicht loswerden.
Kalliope will es noch nicht ganz wahrhaben. »Die Cyberkalypse dauert nicht ewig«, sagt sie. »Wenn das Netz zurück ist, wird die Öffentlichkeit von Ihren Machenschaften erfahren.«
»Lächerlich.« Wieder lacht Jessica Morena auf. »Glauben Sie ernsthaft, das würde mir schaden? Selbst ohne Cyberkalypse – es ist den Leuten doch völlig gleich, was mit ihren Daten geschieht. Ja, es gäbe vielleicht einen kleinen Skandal, ein paar Meldungen auf den hinteren Seiten der Zeitungen, ein paar wütende Blogbeiträge und etwas Aufregung unter netzpolitisch interessierten Leuten. Ich würde vielleicht zu einer Anhörung in irgendeinen Bundestagssauschuss geladen und würde sehr demütig um Verzeihung für diese Panne bitten; ich würde Besserung geloben und meine PR
-Leute würden einen kleinen Datenschutzkodex entwerfen, mit dem künftig alles anders werden soll, und dann würde die Geschichte versanden.« Sie lächelt selbstgefällig. »Deutschland hinkt bei der Digitalisierung international dermaßen hinterher, dass es sich die Politik nicht leisten kann, eine erfolgreiche Firma wie CAP
kaputtzumachen. Sie sehen – ich habe es überhaupt nicht nötig, Killer anzuheuern.«
»Aber wer dann?«, fragt Kalliope. Sie fragt es nicht in Jessicas Richtung, sondern in meine.
»Das ist ja wohl Ihr Problem, nicht meines.« Da hat sie leider recht. »Ich kann jedenfalls sagen, dass meine Geschäftspartner in St. Petersburg nicht zimperlich sind. Also, wenn Sie nach der Auftraggeberin Ihrer Verfolger suchen, sollten sie lieber bei Olena Doroschenko nachfragen.«
Ich muss an den harten Akzent von Anorakmann denken. Ob sie Russen sind? Aber heute Vormittag im Blockhaus haben sie auch untereinander Englisch gesprochen. Stammen sie aus verschiedenen Ländern?
»Pff«, mache ich. Wir hatten einen richtig guten Plan. Und der hat sich gerade in Luft aufgelöst.
Kalliope denkt dasselbe.
Aber in unsere Gedanken hinein sagt Jessica Morena: »Und was ist das zweite?«
Kurz sind wir irritiert.
»Sie sagten, dass Sie zwei Dinge von mir wollen. Was ist das zweite?«
Olenas Brief. Über das Rätsel der Killer hatte ich das kurz vergessen.
Ich antworte: »Manfred hat uns gebeten, etwas aus seinem Safe zu holen …«
»Netter Versuch.« Jessica Morena lächelt schief. »Sie haben doch gehört, dass hier in diesem Haus zurzeit überhaupt nichts funktioniert. Nicht mal der verdammte Mixer oder der verdammte Toaster, denn die müssen ja zusammen mit der verdammten Türsteuerung und dem Wasserfilter vom Pool und hundert Millionen verdammten anderen Geräten permanente DD
oS-Attacken fahren.«
Ich greife nach hinten und Kalliope wirft mir einen erschrockenen Blick zu. Aber ich ziehe nicht die Pistole aus dem Hosenbund, sondern den Schlüssel aus der Gesäßtasche.
»Ach, so ist das.«
Sie ringt kurz mit sich. Sie will uns zwar loswerden, aber sie wüsste sicher auch gern, was ihr verstorbener Mann in seinem Safe aufbewahrt. »Gut, folgen Sie mir.«
Sie führt uns durch den verwinkelten Flur bis fast zum Ende und öffnet eine Tür.
»Das ist Manfreds Schlafzimmer«, sagt sie. »Also war
es jedenfalls.«
Sie schüttelt unwillkürlich den Kopf.
Der Raum ist spartanisch eingerichtet, das Bett fast eine Kopie von dem Bett im Blockhaus, in dem Kalliope und ich geschlafen haben. Außerdem gibt es einen Kleiderschrank und zwei Bilder, die denen im Wohnzimmer ähneln. Nur unzerfetzt. Die Tür zu einem Badezimmer steht offen.
»Komisch«, murmelt sie. »Dieses Zimmer hab ich seit Wochen nicht betreten. Seit Monaten eigentlich. Und jetzt … ach.« Sie nimmt eines der Bilder von der Wand. Darunter kommt ein Safe zum Vorschein.
Ich hebe den Schlüssel. »Darf ich?«
»Bitte.« Sie tritt zur Seite.
Ich schiebe den Schlüssel ins Schloss und öffne den Safe. Nichts liegt in seinem Innern außer einem ungeöffneten Briefumschlag. Ich nehme ihn heraus. Der Absender ist in kyrillischen Buchstaben geschrieben bis auf das letzte Wort, da steht in lateinischen Zeichen: UKRAINA
.
»Lächerlich«, sagt Jessica und mir ist nicht klar, ob sie damit den Brief meint oder die Tatsache, dass Manfreds Safe ansonsten absolut leer ist.
Ohne zu fragen, öffne ich den Umschlag und ziehe den Brief hervor.
Ja, Manfred,
vielleicht war es tatsächlich ein Fehler. Und wenn schon. Je ne regrette rien.
Die Tür steht dir weiter offen. Allerdings nicht in Kiew. Bevor Herostratos sein Feuer entzündet und das Netz in ein Inferno verwandelt, werden wir alle uns zurückziehen, jeder an einen anderen, seit Monaten gut vorbereiteten Ort.
Erinnerst du dich, wie ich dir sagte, dass am Ende immer die Freiheit siegt? Du glaubst nicht daran, ich aber schon. Weißt du, ich habe nicht nur in Berlin gelebt, sondern eine Weile auch in Frankreich. Ich war am Technik-Institut in Saint-Malo. Wenn man dort an der Pointe de la Varde die Klippen entlangspaziert, sieht man die Reste der Bunkeranlagen, die deine Vorfahren vor fast achtzig Jahren dort gebaut haben, um ihre faschistische Herrschaft über Europa zu verteidigen. Wenn du diese armseligen Betonruinen siehst und dahinter den schäumenden Ozean und darüber den endlosen Himmel, dann weißt du, dass keine Macht der Welt die Freiheit auf Dauer unterdrücken kann.
Cherchez la femme, mein Lieber Und pass auf dich auf.
O.
Jessica nimmt mir den Brief aus der Hand. Ich lasse es zu und sie überfliegt die Zeilen.
»Wer ist O-Punkt?« Ihre Stimme klingt schneidend. »Etwa Olena? Das wirkt ja fast, als hätten die beiden was miteinander gehabt.« Sie guckt mich an, ich gucke weg, sie stößt die Luft durch ihre Nase aus wie ein Pferd durch die Nüstern. »Lächerlich!«
Sie überfliegt den Brief ein zweites Mal und fragt: »Wissen Sie, wie sich das liest?«
Nein, ich möchte nicht mit ihr darüber sprechen, dass Manfred uns seine Affäre mit Olena gebeichtet hat. Doch das meint sie gar nicht.
Sie sagt: »Als ob Olena davon gewusst hat. Von der Cyberkalypse.« Sie dreht das Blatt hin und her, hebt den Umschlag auf, den ich aufs Bett geworfen hatte, und studiert den Poststempel. »Sie hat das gewusst, bevor es passiert ist. Und so, wie sie formuliert … muss Manfred es auch gewusst haben. Wer oder was ist Herostratos?
«
»So nennen sie diesen Trojaner«, sagt Kalliope.
»Unglaublich«, sagt Jessica. »Aber was hatte mein Mann mit diesem Herostratos
zu schaffen?« Sie hebt das Blatt hoch, als stünden wir vor Gericht, Beweisstück der Anklage. »Cherchez la femme.
Also hat Olena diesen Trojaner entwickelt? Oder was soll diese Redewendung besagen?«
»Dass Manfred nach ihr suchen soll«, sage ich achselzuckend. »Also ich war nie gut in Französisch …«
»Aber ich«, sagt Jessica. »Die Redewendung besagt, dass bei bedeutsamen Dingen oft eine Frau im Hintergrund die Fäden zieht.«
Im Hintergrund. Da haben wir’s wieder.
Kalliope sagt: »Olena hat Manfred wohl eine Mitarbeit an diesem … Projekt angeboten. Aber er hat abgelehnt.«
»Pah«, macht Jessica, »das sieht ihm ähnlich. Niemals wollte der für irgendwas Verantwortung übernehmen.« Sie lässt das Blatt sinken und legt unwillkürlich die andere Hand auf ihren Bauch. »Er wollte keine Kinder, weil die Firma angeblich wichtiger wäre. Und dann hat er mich mit der Firma sitzen lassen, wie andere Männer ihre Frauen mit den Kindern sitzen lassen. Und anstatt mich einfach machen zu lassen, hat er vorgehabt, mir auch noch in den Rücken zu fallen. So ein Arschloch.«
Ich schweige betreten.
Kalliope räuspert sich und sagt mit belegter Stimme: »Das stimmt nicht ganz. Heute Morgen hat er Verantwortung übernommen. Für Amir und mich. Hätte er das nicht getan, würde er noch leben.«
Jessica schaut sie an, dann mich, mit einem Blick, als wären Kalliope und ich jetzt plötzlich die Kinder, die Manfred und sie nie hatten. Dann wendet sie sich ab.
»Lächerlich!«
Wieder kommen ihr die Tränen.
»Es tut mir wirklich sehr, sehr leid, was geschehen ist«, sagt Kalliope leise. »Ich denke, wir gehen dann jetzt.«
»Ja.« Jessica nickt, ohne uns anzusehen.
»Dürfen wir den Brief mitnehmen?«, frage ich vorsichtig.
»Wozu?« Sie fährt herum. »Cherchez la femme, oder was? Wollen Sie Olena suchen? Sehen Sie in dem Geschreibsel einen Hinweis auf ihren Aufenthaltsort?«
Ich zögere und suche nach einer unverfänglichen Antwort. Aber das ist Unsinn. Stattdessen gehe ich in die Offensive und sage: »Ja, genau. Wollen Sie nicht mitkommen? Wir müssen Olena dazu kriegen, Herostratos abzuschalten. Sie können uns bestimmt helfen, Sie kennen Olena.«
Kalliope runzelt die Stirn.
Jessica schüttelt den Kopf. »Das verdammte Internet ist mir schnuppe. Und Olena erst recht. Nein, ich werde meinen Mann suchen. In die Eifel fahren und diese Camper finden und klären, wohin man ihn gebracht hat. Das ist es, was ich tun werde.« Sie wischt ihre Tränen weg. »Ich bin ihm nie nachgelaufen, echt nicht. Nicht als er noch lebte. Hier.«
Sie streckt mir den Brief hin. Ich falte ihn zusammen und stecke ihn ein.
Wir treten aus der Kühle des Bungalows ins Freie, noch immer liegt drückende Hitze über der Stadt. Kalliope zieht ihre viertletzte Zigarette aus der Packung und zündet sie an.
Sie inhaliert und murmelt: »Kackscheiße. Ich dachte, wenn wir aus dieser Tür lebend wieder rauskommen, dann wären wir den Chip und die Killer endlich los. Mann, Amir, wer sind die? Wer schickt die?«
»Olena?«, überlege ich. »Hat sie Manfred umbringen lassen, weil er zu viel über Herostratos wusste?«
Kalliope schüttelt den Kopf. »Dann hätte sie ihm doch diesen Brief nicht geschrieben.«
»Oder«, sage ich, »sie arbeiten für irgendwen anders aus dem Globalen Komitee.«
»Wieso das?«
»Na, Olena hat das Komitee hintergangen, oder? Indem sie bei Herostratos die Hintertür eingebaut hat.«
»Moment!« Kalliope lässt die Hand mit der Zigarette sinken. »Dann jagen sie weder uns, noch haben sie Manfred gejagt – sondern sie jagen Olena! Sie wissen nicht, wo sie steckt, aber sie dachten, dass Manfred es weiß oder wir. Und … dass wir sie hinführen?«
»Richtig!«, rufe ich aus. Alles ergibt auf einmal Sinn. Eine Woge aus Panik rollt auf mich zu. Doch dann fällt sie in sich zusammen. »Da können sie lange warten«, sage ich. »Vielleicht verfolgen die jetzt gerade immer noch den Bundeswehr-Jeep. Oder sitzen inzwischen längst im Knast. Oder sie haben sich eine Schießerei mit den Soldaten geliefert und liegen in einer Leichenhalle Seite an Seite mit Manfred.«
Kalliope zieht an ihrer Zigarette.
Dann sagt sie: »Saint-Malo. Bretagne, oder? Dort wartet sie auf ihn.« Sie pustet Rauch aus. »Olena tut mir fast leid. Sie erwartet Manfred. Stattdessen kommen wir.«
»Bleibt die Frage, wo wir Benzin herkriegen«, sage ich. »Beziehungsweise wie wir Geld auftreiben, um welches bei einem Schwarzmarkthändler zu kaufen. Sehr viel Geld vermutlich.« Ich trete missmutig gegen einen Laternenpfahl. »Ich kenne überhaupt niemanden hier in der Stadt. Wenn wir wenigstens in Düsseldorf wären – Solveig würde sicher alle Hebel in Bewegung setzen, um uns zu helfen. Man kann ja nicht mal telefonieren.«
»Ich kenne im Grunde auch niemanden hier«, sagt Kalliope.
»Ich weiß«, ich winke ab, »hast du mir ja erzählt.«
»Zumindest fast keinen«, schiebt sie nach. »Ich fürchte, mir fällt jemand ein, der uns vielleicht helfen kann.« Sie zieht ihr Handy hervor und wischt über den Bildschirm.
Ich schaue ihr über die Schulter und sehe, dass sie eine vCard öffnet. Enno Küsters, CEO
bei connecting_zed, Influencer-Agentur.
»Das ist der Typ, der mir vorgeschlagen hatte, mich und Habakuk gemeinsam zu inszenieren«, sagt sie. »Hab dir gestern unterwegs von dem erzählt. Der Idiot hatte ja keine Ahnung, dass ich das die ganze Zeit schon gemacht hab. Sein Büro ist irgendwo beim Mediapark, dafür müssen wir wieder rüber auf die andere Rheinseite.«
»Und inwiefern kann er uns helfen?«, frage ich.
Wir setzen uns Bewegung und Kalliope sagt: »Ich hab mich damals mit ihm getroffen. Der Typ ist noch total jung, gerade aus der Schule raus, falls er überhaupt einen Abschluss hat, keine Ahnung. Aber er verdient ein Schweinegeld mit seiner Masche, allen möglichen Senior Marketing Managern zu erklären, wie angeblich die Generation Z tickt. Die fahren da voll drauf ab. Und er hat natürlich haufenweise Influencer unter Vertrag. Der ist selbst erst achtzehn oder neunzehn und redet wie ein Vierzigjähriger, der wie ein Zwanzigjähriger rüberkommen will. Credibility schafft Brand Awareness,
bla bla, immer auf der Suche nach the next big thing.
«
»Und das solltest du
sein?«, frage ich. »The next big thing?«
»Ich und Habakuk, ja. Weil er meint, dass es mehr Storytelling braucht. Die audience
will es more edgy.
Der Beef zwischen mir und Habakuk sei dafür perfekt, weil das Identifikation schafft, und daraus kann man connectivity
herstellen …«
»Ich versteh kein Wort.«
»Denkst du, ich? Ich hab mich nur mit ihm getroffen, weil er so dermaßen scharf auf Habakuk war. Ich wollte halt abchecken, ob er mich nicht vielleicht durchschaut hatte. Hatte er aber nicht, der war einfach nur in seinem eigenen Film, dass Habakuk ja so ein schräger Vogel sei und in allem das Gegenteil von dem, wofür Instagram steht.« Kalliope lacht. »Damit lag Enno natürlich total richtig. Er meinte, Instagram wäre ja ursprünglich eine Plattform für Schnappschüsse gewesen, für ganz spontane Fotos, instant
halt, statt stundenlang Bilder durch Filter zu jagen. Und das würden die Leute bald wieder suchen.«
»Ich versteh immer weniger«, brumme ich. »Und am allerwenigsten, wie uns dieser Kerl jetzt helfen soll.«
»Am Ende unseres Treffens hat er was Krasses getan«, erzählt Kalliope. »Er hat einen Fünfhundert-Euro-Schein hervorgeholt und ihn auf den Tisch gelegt. Ich seh es noch genau vor mir. Neuen Klienten gebe ich immer ein kleines Handgeld mit,
hat er gesagt, ich will damit zeigen, dass Geld nicht so wichtig ist – dass wir vor allem Spaß zusammen haben wollen und das Geld von ganz allein kommt.
Er nannte das Fuck Off Money.
»Was meint er damit?«
»Na, dass man, wenn man Geld hat, auf alles scheißen kann, was einen nervt. Darum hab ich immer diesen Fünfhunderter bei mir,
hat er erklärt. Damit sage ich den Leuten: Arbeite für mich – und du wirst frei sein.
So fixt er sie an.« Sie lacht verächtlich. »Kann mir gut vorstellen, dass die meisten seiner Klienten nach diesen fünfhundert Euro nie wieder so viel Geld auf einmal gekriegt haben. Jedenfalls nicht von ihm.«
»Was für ein peinlicher Poser«, stoße ich hervor. »Du hast die Kohle doch hoffentlich nicht angenommen?«
»Natürlich nicht. Und im Grunde hatte er das Geld gar nicht mir
in Aussicht gestellt, nicht direkt jedenfalls. Ich glaube, er verstand das eher als so eine Art – wie soll ich sagen – Kopfgeld? Für Habakuk.«
»Und das willst du jetzt einlösen. Verstehe. Bloß – wir haben nicht seine Privatadresse. Nur die vom Büro. Was macht dich so sicher, dass wir ihn dort wirklich antreffen?«
»Leute wie Enno«, antwortet Kalliope, »haben kein anderes Zuhause als ihr Büro.«