Roberta erwies sich tatsächlich als der weltallerbeste Beinbruch-Abholservice, den man sich vorstellen konnte. Obwohl Polly es in der Eile nicht mehr geschafft hatte, ihr Winnies Ohrenwärmer aufzusetzen und Roberta mächtig frieren musste, trug sie die verletzte Elli ganz behutsam und vorsichtig durch den meterdicken Schnee. Und auf einmal wusste Polly, dass Adlerauge recht hatte: Roberta würde wirklich eine wundervolle Mama abgeben! Trotzdem hoffte Polly gerade nichts sehnlicher, als dass Schneeflöckchen nicht so bald eine neue Mama brauchen würde …
Ellis Zustand bereitete ihr Magenschmerzen. Hatte die Rentiermutter hinter dem Wasserfall noch ihre Kräfte mobilisiert, um sich bemerkbar zu machen, so baute sie jetzt rasend schnell ab. Erschöpft schaukelte sie auf Robertas Rücken hin und her, immer wieder fielen ihr die Augen zu.
Als Pekka, Polly, Roberta und Elli endlich die Wilde Weide erreichten, stürmte Schneeflöckchen aufgeregt auf die vier zu und zog Adlerauge dabei wie einen hilflosen Luftballon hinter sich her.
»Halt, halt, haaaaaalt! Das hier ist doch kein Rodeo-Wettbewerb!«, japste der kleine Flatterwicht, hatte aber gegen Schneeflöckchens Wiedersehensfreude nicht die geringste Chance.
Das Rentierbaby versuchte aufgeregt, zu seiner Mama auf den Elefantenrücken zu springen, aber Elli hob nur müde die Augenlider und schnaubte kurz liebevoll, als sie ihr Junges erkannte. Dann dämmerte sie wieder in einen unheilvollen Schlaf.
»Sieht nicht so aus, als würde sie sich freuen, ihr Baby wiederzusehen«, flüsterte Adlerauge eingeschnappt.
»Bei uns wäre der kleine Willi doch viel, viel besser aufgehoben!«
Wie um Adlerauge zu widersprechen, bäumte Schneeflöckchen in diesem Moment seinen Oberkörper auf und schüttelte den Fledermäuserich schnaubend von seinem Kopf.
Polly musste lachen, als Adlerauge quiekend durch die Luft flog und schließlich wie ein Tannenzapfen über die Schneedecke purzelte.
Vorsichtig hob sie ihren kleinen Freund auf. »Schneeflöckchen sieht das offenbar anders. Und außerdem würde er dir ganz schön auf der Nase rumtanzen, wenn du sein Papa wärst! Er ist ja noch nicht mal ausgewachsen!«
Es war zwar lustig zu sehen, wie eingeschnappt Adlerauge war, aber das täuschte Polly nicht über den Ernst der Lage hinweg, nein. Sie machte sich Sorgen, potzblitzgroße Sorgen sogar! Offenbar war Rentiermama Elli noch viel schwächer, als sie es erwartet hatten …
Auch Pekka war mehr als unglücklich. Als sie endlich den schützenden Stall auf seinem Hof erreichten, ließ er Elli von Roberta auf einem Bett aus allerfeinstem Stroh ablegen. Schnell schleppte er warmes Wasser und Decken heran und wickelte Elli liebevoll ein. Doch selbst als er ein paar Öllampen aus dem Haus geholt hatte, wurde Elli nicht munterer – und schlimmer noch: Ihr Körper wärmte sich einfach nicht auf!
Pekka vergrub sein bekümmertes Gesicht in den Händen. Polly konnte sehen, dass er den Tränen nahe war.
Nicht mal Schneeflöckchen, der immer wieder seine kleine Schnauze an der kalten Nasenspitze seiner Mutter rieb, konnte seine Mama vernünftig wärmen …
Schließlich schickte Pekka den Kleinen mit Adlerauge raus in den Hof und sank erschöpft zu Elli ins Stroh. »Ich weiß einfach nicht weiter …«
Polly biss sich beunruhigt auf die Unterlippe. »Aber du hast gesagt, es ist nur ein Beinbruch – und davon geht die Welt nicht unter!«
Pekka nickte matt. »Das stimmt, das Bein ist aber leider nur das halbe Problem. Viel schlimmer ist, dass Elli so stark unterkühlt ist. Wenn wir es nicht schaffen, sie von innen aufzuwärmen, dann …« Er konnte nicht weitersprechen.
Polly musste schlucken. »Dann verliert Schneeflöckchen doch noch seine Mama …?«
Pekka nickte. »Und nicht nur das! Elli ist mein bestes und wichtigstes Rentier – und morgen beginnt unsere große Reise …«
»Was denn für eine Reise?« Polly hob neugierig die Augenbrauen.
»Ach, ist nicht so wichtig …«, winkte Pekka ab.
Aber irgendwie wurde Polly das Gefühl nicht los, dass es eben doch wichtig war, potzblitzwichtig sogar. Nachdenklich kräuselte sie die Nase. »Vielleicht kenne ich jemanden, der Elli helfen kann«, verkündete sie schließlich.
Pekka blickte neugierig auf. »Wirklich?«
Polly nickte. »Aber dafür müssten wir noch mal raus in den Schnee …«