Kapitel 1

E zekiel und Laurel standen Rücken an Rücken auf dem Deck des Schiffes.

Ihre Augen glühten – seine rot, ihre grün – von der magischen Kraft, die durch ihre Venen floss. In dem dichten Wolkendunst, den die beiden erzeugten, um ihr Schiff vor neugierigen Augen zu tarnen, waren ihre Augen schauderhafterweise das Einzige, was Parker klar sehen konnte.

»Verdammt«, fluchte er anerkennend. »Sie haben’s echt drauf.«

»Jo«, brummte Karl und klammerte sich wenig begeistert angesichts der Turbulenzen an die Reling der Ungesetzlichen . »Die Wölkschen sind ja janz nett. Aber den Wind könnten se meinetwejen auch sein lass’n.«

Eingehüllt in den magischen Wolkendunst glitt die Ungesetzliche dahin – nur ab und zu geschüttelt von einem besonders heftigen Wind. Sie flogen seit Tagen zielstrebig gen Osten und hatten, seit sie Baseek verlassen hatten, schon eine beträchtliche Strecke zurückgelegt. Immer näher kamen sie dem mysteriösen Orakel und jener Schlacht, vor der Ezekiel sie gewarnt hatte. Die Zeit drängte, das wusste Parker. Aber er wusste auch, dass Hannah nur allzu bereit war, das Orakel warten zu lassen, wenn es unterwegs ein weiteres Unrecht wie in Baseek zu korrigieren gab.

Und genau so einen Umweg unternahmen sie gerade.

Karl krempelte die Ärmel seines karierten Hemds hoch und rümpfte die Nase.

»Könnten auch ruhisch bissl wenijer durchnässend sein, diese Wolken. Vielleischt gehe isch lieber wieder rein … Jedenfalls, wenn isch die Tür bei dem Dunst überhaupt finde!«

Parker nickte unkonzentriert, ohne dem Rearick wirklich zuzuhören. Er starrte durch die graue Wolkendecke in die Tiefe, obwohl er nichts erkennen konnte und spürte, wie sein Herz unangenehm heftig gegen seinen Brustkorb schlug. Er wusste nicht, was er erwartete, dort unten zu sehen, schließlich hockte Sal untätig neben ihm und schlug träge mit dem Schwanz.

»Sie schafft das«, murmelte Parker mehr zu sich selbst als zu dem Drachen, der seine Herrin jedoch sicherlich nicht minder vermisste.

»Hannah?«, raunzte Karl. »Natürlisch schafft se dat! Ist faustdick wie sonst wat und hat’s zäh hinter den Ohren.«

Laurels glockenhelles Lachen erhob sich über das Peitschen des Windes. »Ich glaube, du meinst das andersherum, Karl!«

»Konzentriere dich«, ermahnte Ezekiel sie. »Wir müssen sicherstellen, dass unsere Tarnung nicht zerfällt.«

Sie seufzte und wandte sich wieder ihrer Arbeit zu. Obwohl Parker kein Magieanwender war, hatte er genug Zeit mit ihnen verbracht, um zu verstehen, worum es ging: Anders als Hannah und Ezekiel, die alle drei Sparten der Magie nutzen konnten, war Laurel eine Druidin, die ausschließlich Naturmagie praktizierte. Obgleich sie eine erstklassige Kämpferin war, hatten sich im Verlauf ihrer Abenteuer einige Lücken in ihrer magischen Ausbildung gezeigt, die Ezekiel – stets der Lehrer – versucht hatte, zu füllen.

Tagelang hatten die beiden Sturmzauber geübt, mit mäßigem Erfolg.

Nur die stärksten Druiden vermochten das Wetter zu kontrollieren und Laurel war weit davon entfernt, zu ihnen gezählt zu werden. Aber der Meistermagier war so sehr darauf bedacht, ihr zur Entfaltung ihres vollen Potenzials zu verhelfen, dass er sie immer wieder zum Training aufforderte und strenger mit ihr war als je zuvor. Er hatte ihr von den Sturmkrähen erzählt, einer Gruppe von Naturmagiern, die weit im Norden des Arcadia-Tals lebten und sich auf die Kontrolle des Wetters spezialisiert hatten. Parker hatte bislang nur Ezekiel im Kampf Stürme heraufbeschwören sehen und konnte sich nur schwerlich vorstellen, wie eine ganze Sippe das hinbekommen sollte.

»Verdammt, Laurel! Ich sagte, konzentriere dich!«, rief der Alte, als er Laurel dabei erwischte, wie sie mit ausgestreckter Zunge einen Regentropfen zu fangen versuchte. »Ich schwöre: du bist sogar eine noch ungehorsamere Schülerin als Hannah.«

Parker seufzte unvermittelt. Hannah war erst seit ein paar Stunden fort, alles lief nach Plan, aber er sorgte sich trotzdem um sie. Das würde sich wohl niemals ändern, egal, wie mächtig sie schon war und noch werden würde – er hatte den Großteil seiner Kindheit und Jugend damit verbracht, Hannah den Rücken freizuhalten. Das ließ sich nicht so einfach abstellen, auch wenn sie jetzt nicht mehr lausige Brotlaibe stehlen mussten, um zu überleben, sondern am Schicksal der Welt mitwirkten.

Jene Hannah, die er damals nach ihren Streifzügen immer nur äußerst ungerne in das Haus ihres gewalttätigen Vaters hatte zurückkehren lassen, existierte nicht mehr.

Jetzt war sie das Verderben des tyrannischen Rektors, der Funke der arcadianischen Revolution, die Naturgewalt am Strand von Baseek, die hunderte von Rumtreibern vernichtet hatte. Auserwählt vom Gründer, um mit ihm das Orakel zu retten.

Längst war sie eine verdammte Legende geworden.

Parker stupste Karl leicht an, der entgegen seiner Behauptungen noch keinen Schritt von der Reling weggetreten war und sie stärker denn je umklammerte. »Du hast vermutlich recht. Bei Hannah kann nichts schiefgehen.«

Karl nickte grimmig. »Solange se nöscht vom Plan abweicht.«

»Genau, so kennen wir Hannah: Immer fein nach Vorschrift«, rief Laurel spöttisch und erntete dafür einen erneuten Tadel von Ezekiel und ein polterndes Lachen von Karl.

Parker jedoch kamen die möglichen Konsequenzen nur allzu ernst vor, wenn Hannah mal wieder entscheiden sollte, über den Tellerrand hinauszuschauen und sich in Ungerechtigkeiten einzumischen, an denen andere schulterzuckend vorbeigehen würden.

»Ach, verdammt. Hannah …«, murmelte Parker und starrte hinab ins dunkle Gewölk.

Sei vorsichtig da unten.

* * *

Der tintenschwarze Himmel war übersät von Sternen, die sich in alle Richtungen erstreckten.

Mit Ausnahme einer Stelle, wo eine gewaltige Wolke sich durch die ansonsten klare Nacht schob und das funkelnde Sternenlicht verdeckte. Hannah lächelte und dachte an ihre Freunde, die, genau wie vereinbart, in hunderten Metern Höhe über dem Lager schwebten.

Sie riss ihren Blick vom Himmel los und schob sich die Felswand entlang. Vom Deck der Ungesetzlichen aus und bei Tageslicht hatte diese Landschaft so übersichtlich gewirkt, aber jetzt sah sie, dass es nur mit dieser Erinnerung als mentale Karte ein wenig kompliziert werden würde.

Da sie keine Ahnung hatte, wie streng die Sicherheitsvorkehrungen sein würden, hatte sie beschlossen, sich zu einem Punkt in einiger Entfernung zu teleportieren und sich dann im Schutz der Dunkelheit anzupirschen. Parker hatte sich natürlich aufgeregt, dass sie nicht einmal Sal zum Schutz mitnehmen wollte, aber mit dem Drachen auf den Fersen hätte sie sich niemals unbemerkt anschleichen können.

»Außerdem«, hatte sie argumentiert. »Ist das genau die Art von Plan, die auch du dir ausdenken würdest, also tu mal nicht so!«

Sie zuckte leicht zusammen, als die Stille der Nacht von einer Männerstimme durchbrochen wurde. »Haltet die Klappe oder ich ziehe euch die Haut bei lebendigem Leibe ab!«

Die Stimme war rau und heiser, begleitet vom Knallen einer Peitsche.

Hannah schloss ihre Augen, damit das rote Glühen nicht ihren Standort verriet und fokussierte ihre Energie. Sie befand sich am Fuße der Felswand direkt unter dem Wachmann, der gebrüllt hatte und konnte auch die Präsenz von anderen Wachen spüren, doch sie lagen in einiger Entfernung und schliefen scheinbar. Der Wachmann musste also mit den Gefangenen gesprochen haben. Hannah verlagerte ihre mentale Energie von ihm weg und in Richtung Himmel.

Ich bin angekommen.

Wie sieht es aus?, antwortete Hadley sofort.

Hannah lächelte. Dunkel. Wahrscheinlich genau wie bei euch da oben. Wie geht’s Zeke und Laurel?

Diesmal ließ seine Antwort ein wenig auf sich warten und schon fürchtete Hannah, irgendetwas sei schiefgegangen. Sie hielt den Atem an.

Es geht ihnen gut , erklärte Hadley endlich. Laurel ist stärker, als sie selb st ahnt. Aber Gregory will trotzdem, dass du deinen Arsch so schnell wie möglich wieder hier hoch bewegst.

Warum das?, fragte sie.

Hat wohl Angst, dass Laurel Sal in deiner Abwesenheit wieder mit Kaffee füttern wird.

Hannah schmunzelte. Sie wünschte, die anderen wären bei ihr. Aber es standen Leben auf dem Spiel und diese Mission erforderte Heimlichkeit.

Behalte sie für mich im Auge, ja? Und Sal am allermeisten!

Wird gemacht, Captain. Viel Glück da unten, erwiderte Hadley galant.

Hab ich doch immer …

Sie hörte Hadleys warmes, gutmütiges Kichern in ihrem Kopf. Hm, klar. Immer. Versuch einfach, nicht alles abzubrennen, ja?

Sie rollte mit den Augen und konzentrierte sich wieder auf die anstehende Aufgabe. Leicht geduckt schlich sie an der Felsmauer entlang. Ein dichtes Gebüsch wuchs hier und hatte sich bis auf die in den Fels gehauene Treppe ausgebreitet. Hannah sandte ihre Naturmagie aus, um die Pflanze dazu zu bewegen, sie passieren zu lassen. Schließlich wären Geraschel oder lautes Knacken von Zweigen in dieser Situation fatal. Seltsamerweise reagierte der Busch nicht auf Hannahs stumme Bitte, also versuchte sie es ein zweites Mal, mit Nachdruck.

Endlich lehnte sich der Busch ein wenig von der Felswand sowie den Stufen weg und schuf somit eine Art grünen Torbogen, durch den sie lautlos hindurchschlüpfen und die Treppenstufen hinaufhechten konnte. Oben auf dem Felsplateau angekommen, ging sie hinter einem Baum in Deckung.

»Wo hält man euch gefangen?«, flüsterte sie und suchte von ihrem Versteck aus das Gelände ab. Am Lagerfeuer saß der einsame Wachmann, seine Waffe auf dem Schoß. Ihr kühles Metall reflektierte den Schein des Feuers und Hannah hoffte, dass sich der Kerl weniger seiner Waffe als vielmehr dem Bierkrug zu seiner Linken gewidmet hatte.

Sie beobachtete, wie er aufstand und etwas in die Dunkelheit hineinrief, das sie nicht verstehen konnte. Anscheinend waren die Gefangenen dort untergebracht.

Der Wachmann setzte sich wieder ans Feuer und nahm einen Schluck Bier.

Hannah atmete konzentriert durch. Na gut, auf geht’s!

Sie ging betont lässig auf ihn zu und pfiff dabei ein Kinderlied vom Boulevard. Sein Kopf fuhr zu ihr herum und er griff fahrig nach seinem Schwert.

»Für mich brauchst du nicht aufzustehen«, versicherte sie ihm. »Zumindest noch nicht.«

Er stand trotzdem auf und wedelte mit der Klinge in ihre Richtung. »Wer bist du? Wehe, du machst noch einen Schritt.«

Sie blickte wenig beeindruckt auf die Schwertspitze. »Also wirklich, Mann. Ist das eine Drohung oder freust du dich nur, mich zu sehen?«

Darauf schien ihm nichts einzufallen, denn er schwieg eine peinlich lange Weile, ehe er wiederholte: »Wer bist du?«

»Ich bin deine Überraschung.« Hannah öffnete den Haken ihres Mantels und ließ ihn zu Boden fallen. »Ich bin neu hier und der Boss hat mir gesagt, ich solle dir Gesellschaft leisten.« Sie schob schmollend die Unterlippe vor. »Es sei denn, du ziehst es vor, dich selbst nachts warmzuhalten.«

Der Blick des Wachmanns glitt ihren Körper hinunter und sie kämpfte gegen den heftigen Drang an, ihm eine reinzuhauen. Wenn es nach ihr ginge, hätte sie sich ja gar nicht erst auf dieses Rollenspiel eingelassen, aber die meisten Männer waren einfach solche Drecksschweine, dass diese Masche jedes Mal zuverlässig funktionierte.

Nur zu deutlich war ihr in Erinnerung, wie der Kerl vor wenigen Minuten die Peitsche hatte knallen lassen. Vielleicht würde sie dafür sorgen, dass er sie selbst zur Genüge zu spüren bekam, ehe all das hier vorbei war.

»Ach, so ist das?«, raunte der Wachmann. »Wird auch Zeit, dass man mich endlich mal angemessen behandelt. Immer die Scheiß-Nachtschicht, hier draußen mit diesem wertlosen Abschaum. Wenigstens scheint der alte Pislik endlich meine harte Arbeit anzuerkennen.«

Hannah lachte schnaubend auf, ehe sie sich zurückhalten konnte und hielt sich schnell eine Hand vor den Mund. Aber es war ihm nicht entgangen.

»Tut mir leid«, sagte sie eilig, »aber Piss-Lick? Das ist einfach ein lustiger Name, musst du zugeben! Aber nun zurück zum eigentlichen Thema.«

Sie trat näher an ihn heran und zwang sich, bei seinem Gestank von Bier und Zahnfäule nicht die Nase zu rümpfen. Sie legte ihm eine Hand auf die Schulter und lächelte. »Erzähl mir mehr von deiner harten Arbeit.«

»Ich kann’s dir auch einfach zeigen«, gab er zurück und streckte die Hand nach ihrer Lederweste aus. Fast hätte sie ihren Dolch gezogen und ihn in seine Hand gerammt, aber sie hielt sich zurück. Erst musste sie noch paar Informationen sicherstellen.

Sie wich seiner Hand aus und trat neckisch einen Schritt zurück. »Nicht so schnell. Ich will erst sichergehen, dass wir allein sind.« Sie schaute sich demonstrativ um. »Keiner deiner Kollegen versteckt sich in diesen Bäumen, richtig?«

Er grinste selbstgefällig. »Wieso? Bist du schüchtern?«

Sie zwang sich zu einem Lächeln, obwohl sie ihm nur allzu gerne auf die Stiefel gekotzt hätte. »So was Ähnliches.«

»Na gut«, meinte er. »Hier ist niemand außer mir und dem Scheißpack.« Er deutete abschätzig den Hang hinunter, doch in der Dunkelheit konnte Hannah niemanden erkennen. »Und um diese Zeit ist im Umkreis von einer Meile keine andere Wache postiert.«

»Oh, eine ganze Meile?«, gurrte Hannah. »Dann sind sie wohl …«

»In der Kaserne, am Eingang der Mine. Genau. Ich sitze hier draußen fest und bewache Schweinescheiße.«

»Dann habe ich dich also ganz für mich allein und deine Kollegen werden dich nicht schreien hören?«

Er nickte und leckte sich über die trockenen Lippen. »Genau.«

»Also, bist du bereit, für mich zu schreien, Soldat?«

Er griff nach seinem Gürtel und nickte wie ein Idiot. »Oh ja.«

»Gut. Zeit für’s Vorspiel.«

Hannah packte mit beiden Händen seinen Mantel und trat ihm mit dem Knie heftig in den Schritt, sodass er sich jaulend vornüber beugte. Sie nutzte die Gelegenheit und verpasste ihm einen Faustschlag ins Gesicht, der ein unschönes Knacken hervorbrachte. Er taumelte zu Boden.

»Zu leicht«, meinte sie und verpasste ihm zur Sicherheit noch einen Tritt gegen die Rippen. »Sieh mich an.«

Er gehorchte wimmernd. »Was zum Teufel soll das, du kleine Bitch?!«

Hannah schnalzte tadelnd mit der Zunge. »Wenn überhaupt, dann heißt es Princess Bitch für dich.« Sie hockte sich neben ihn. »Du wirst mir jetzt ein paar Dinge verraten, klar?«

»Ich bin nicht …«

Sie schlug ihm ins Gesicht, ehe er den Satz beenden konnte.

»Lass uns den langweiligen Teil überspringen. Ich habe das schon viel zu oft gemacht, verdammt. Warum ersparst du uns beiden nicht eine gute Ladung Stress und schüttest mir einfach dein Herz aus? Sonst muss ich es dir leider herausreißen. Wie viele Männer sind da oben bei den Minen?«

»Fick dich, du kleine …«

Ein weiterer Schlag ins Gesicht ließ ihn verstummen.

»Hör zu«, zischte Hannah, »meine Fingerknöchel brennen ganz schön, also werde ich dich nicht noch einmal schlagen. Das nächste Mal nehme ich meinen Dolch oder etwas Kreativeres. Vielleicht einen angespitzten Eissplitter? Ich habe mich noch nicht entschieden. Wie viele Männer seid ihr?«

Er blickte hinüber auf sein Schwert, das außerhalb seiner Reichweite auf dem Boden lag und dann wieder auf zu Hannah.

»Na gut.« Er seufzte. »Fünfzig oder so – je nachdem, wer für Besorgungen ins Dorf geschickt wurde. Sie sind alle bis auf die Zähne bewaffnet, wenn du also was planst, bist du aufgeschmissen.«

»So wie du?«, fragte sie mit einer hochgezogenen Augenbraue.

»Verdammt richtig«, spuckte er aus, drückte sich vom Boden ab und griff nach seinem Schwert. Er schwang es in ihre Richtung, aber die Klinge zerbröckelte, ehe sie sie treffen konnte, zu metallenen Flocken, die harmlos zu Boden segelten.

Entgeistert sah er zu Hannah hoch und stieß einen Schreckensschrei aus, als er ihre rot glühenden Augen bemerkte.

»Wow. Ganz tolles Manöver.«

Er öffnete seinen Mund, um zu schreien, aber Hannah rammte ihren Dolch in seinen Schlund, ehe ihm ein weiterer Laut entweichen konnte. Sein erbärmliches Gurgeln übertönte nicht einmal das Knistern des Feuers und binnen weniger Sekunden war er an seinem eigenen Blut erstickt.

»Verdammt«, fluchte sie, während sie sich am Feuer die Hände wärmte. »Ich hätte ihn zuerst sein eigenes Grab schaufeln lassen sollen. Daran muss ich nächstes Mal denken. Jetzt muss ich die Leiche verstecken.«

Sie durchsuchte ihn und fand einen großen Schlüsselbund, den sie wohlweislich einsteckte. Dann zerrte sie seinen blutüberströmten Körper in Richtung eines nahegelegenen Gebüsches.

»Dünger!«, verkündete sie und die Äste erwachten unter ihrer stummen, magischen Bitte zum Leben und zogen wie knochige Hände die Leiche in ihre Mitte, bis die blätterbeladenen Zweige sie gänzlich verdeckten. Hannah ging zurück zum Feuer und schaufelte Erde über die verräterische Blutlache, dann wandte sie sich um und ging zu der dunklen Stelle, wo die Gefangenen sein mussten. Ein Stück weit die Felskante hinunter tat sich eine dunkle Höhle auf, die von einem Metalltor verschlossen war.

Dahinter sah sie Menschen – eine kleine Gruppe verschiedenen Alters. Manche hatten zerschlissene Decken, andere zitterten in der Kälte mit nichts außer ihren Lumpen als Schutz. Sie schienen zu schlafen – oder vielleicht hielten sie die Augen auch nur geschlossen, weil sie der Realität für eine kurze Weile entfliehen wollten.

Sie alle sahen kräftig aus, wenn auch ausgemergelt und schmutzig. Genau wie Aysa hatte die Mehrheit dieser Menschen überlange Beine und Arme, was darauf hindeutete, dass sie aus dem Landstrich der Baseeki stammten – die Felsklippen und die Meeresküsten hatten sie über Generationen zu begabten Kletterern und Schwimmern geformt.

Ein Schauer lief Hannah über den Rücken, als ihr klar wurde, dass Aysa, das jüngste Mitglied ihres Teams, wahrscheinlich unter diesen Arbeitssklaven gewesen wäre, wenn ihr damals nicht die Flucht gelungen wäre. So, wie diese verwahrlosten Menschen aussahen, hatte Hannah den Eindruck, dass Aysa mit dem Verlust ihrer rechten Hand noch ganz gut davongekommen war.

Als sie gestern mit der Ungesetzlichen über dieses Gebiet hinweg geflogen waren, hatte Hannah die Sorge auf Aysas Gesicht gelesen. Das Mädchen hatte sie nicht darum gebeten, aber Hannah hatte sofort gewusst, dass sie ihr Versprechen einlösen würde, jenem Arbeitslager einen Besuch abzustatten, in das ihre junge Freundin damals beinahe verschleppt worden wäre.

Sie hatte Gregory herbeigerufen und ihn über die Kursänderung informiert. Mit einem Blick auf Aysas vor Freude glühende Miene hatte sie hinzugefügt: »Wenn Leute wie wir über solche Ungerechtigkeiten hinwegfliegen, gibt es bald keine Welt mehr zum Retten.«

Die Rumtreiber plünderten Baseek, Kofken und alle anderen Siedlungen in diesem Landstrich und verkauften ihre Gefangenen dann an Lager wie dieses, wo sie zu lebenden Arbeitsmaschinen degradiert wurden. Keines ihrer Teammitglieder hatte Zweifel daran erhoben, dass diese himmelschreiende Ungerechtigkeit einen kleinen Umweg auf dem Pfad zur Rettung der Welt absolut rechtfertigte.

Und nun sah sie sich den gequälten Seelen gegenüber, denen seit ihrer Gefangennahme die Menschlichkeit versagt wurde und Hannah wusste, dass ihre Entscheidung richtig gewesen war. Sie benutzte die Schlüssel der Wache, um sich in die Höhle zu schleichen. Keiner der Gefangenen schaute auch nur auf.

Da war eine freie Stelle auf dem Boden, zwischen einer älteren Frau und einem kleinen Mädchen, das kaum älter als zehn sein konnte. Hannah lehnte sich an die ungemütliche, kalte Wand und zog ihren Mantel über sich.