D ie Ungesetzliche flog weiter gen Nordosten, die Jannas-Minen hinter sich lassend.
Gregory war natürlich im Cockpit, aber der Rest der Crew lungerte auf dem Deck herum – mit Ausnahme von Ezekiel, der in seiner Kabine mal wieder versuchte, mit Lilith Kontakt aufzunehmen. Hannah lehnte sich an Sals Flanke, die sich mit seinem zufriedenen Schnarchen hob und senkte. Devin schlief ebenfalls, zusammengerollt zwischen Sals schützenden Pranken.
»Sieht ganz schön erschöpft aus, der gute Sal«, bemerkte Laurel. »Ich könnte ihm eine Tasse Kaffee brauen. Er hätte es sich redlich verdient.«
»Nein!«, protestierten alle anderen sofort lautstark.
Hannah grinste. »Lassen wir ihn sich einfach eine Weile ausruhen, Laurel. Ich weiß nicht, ob wir eine weitere seiner Kaffeepausen ertragen könnten.«
»Wo wir gerade davon reden, Dinge zu ertragen«, hakte Hadley ein. »Wir haben hier oben ganz schön lange gewartet, ehe wir was von dir gehört haben, Hannah. Was ist da unten genau passiert? Und was wurde aus dem Plan?«
Hannah erzählte ihren Freunden im Detail, wie sie sich unter die Arbeiter gemischt und die erste Hälfte des gestrigen Tages in den Minen zugebracht hatte. Als sie zu dem Teil über Warzengesicht und seine Schikanen kam, stockte sie. »Na ja. Sagen wir einfach, dass ich meinen Sinn für Gerechtigkeit nicht länger unterdrücken konnte … umgeben von all dieser Grausamkeit. Da kann man doch nicht still danebenstehen!«
Hadley musterte sie skeptisch, behielt aber seine Zweifel an der Ehrenhaftigkeit ihres Ausrasters für sich. Hannah entschied insgeheim ein wenig trotzig, dass er ruhig in ihren Erinnerungen kramen und herausfinden durfte, dass es vor allem an ihrem Stolz gelegen hatte. Sie bezweifelte stark, dass Hadley sich wortlos hätte begrapschen lassen.
Aysa lenkte das Gespräch in Richtung der ehemaligen Gefangenen, denn viele von ihnen waren tatsächlich vor Jahren in Baseek ihre Nachbarn gewesen oder Familienmitglieder von Freunden. »Ich danke dir, Hannah. Was wir heute getan haben, wird nicht alles ungeschehen machen, was mein Volk erleiden musste, aber es war ein Schritt in die richtige Richtung.«
Hannah nickte ernst. »Hoffentlich verbringen diese Drecksäcke die nächsten zehn Jahre damit, sich aus den Tunneltrümmern frei zu buddeln.«
Sie saßen eine Weile lang schweigend beisammen, bis Parker Hannah mit dem Ellbogen anstupste. »Also, Boss. Noch irgendwelche Stopps auf dem Weg? Ich meine, Arschlöcher gibt’s überall.«
Hannah sah zu ihm und dann in die Ferne, wo die Wolken den Horizont verschleierten. Sie wusste, dass es richtig gewesen war, das Arbeitslager bei den Minen zu zerstören, aber die Zeit drängte. Wenn Ezekiel recht hatte, wäre es fatal, weitere Stopps hinzulegen. Jetzt, wo er ihr die Führung überlassen hatte, lag es an ihr, diese schwierigen Entscheidungen zu treffen.
Unrecht gab es – wie Arschlöcher – überall, da hatte Parker schon recht. Das würde sie so oder so nie ändern können. Trotzdem empfand sie es als ihre Pflicht, die seltsame Macht in ihr dafür einzusetzen, es zumindest zu versuchen.
»Ganz ehrlich, Leute? Ich glaube nicht, dass ich einen Hilferuf ignorieren könnte«, gab sie schließlich zu. »Aber jetzt sollten wir erst einmal Lilith unterstützen. Wenn die Dunkelheit wirklich immer stärker wird, liegt es an uns, ihr das Licht zu bringen.«
»Nett jesacht, Mädschen«, schnaubte Karl. »Folgender Vorschlach: du bringst dat Lischt und isch bringe meinen mörderischen Hammer.«
»Und deinen mörderischen Mundgeruch!«, kicherte Laurel.
»Obacht, Laurel. Wir brauchen diesen Mundgeruch auf unserer Seite«, fiel Hannah mit ein. »Wenn Gregorys Berechnungen korrekt sind, brauchen wir noch zwei Tage, bis wir das Orakel erreichen. Dann müssen wir bereit sein. Ruht euch möglichst aus und sammelt eure Kräfte. Ezekiel hat immer noch keine Verbindung zu Lilith hinbekommen, deshalb können wir nicht genau wissen, worauf wir uns einlassen. Es könnte so ziemlich alles sein.«
»Jo, Captain! Dat trifft sisch jut. Isch bin nämlisch auch zu allem bereit«, behauptete Karl. »Und jehorsam wie isch nunma bin, befolge isch ma deinen Befehl und geb mir jepflegt die Kante, bevor isch schlafe wie ’n verdammtet Steinschen.«
* * *
Gregory hatte es sich auf dem Pilotensitz gemütlich gemacht und beobachtete, wie die mondbeschienene Erde unter ihm vorbeizog. Doch er durfte keinesfalls einschlafen oder das Schiff würde einen Sturzflug hinlegen. Er stieß ein herzhaftes Gähnen aus und rieb sich die Augen.
»Ich kann dir ’ne Ohrfeige geben, wenn du meinst, das hilft.«
Gregory wandte sich um und sah ihr jüngstes Teammitglied im Türrahmen lehnen.
»Nichts für ungut, Aysa«, entgegnete er und deutete auf ihre große Hand. »Aber ich glaube, du würdest damit eher das genaue Gegenteil bewirken und mich bewusstlos schlagen.«
»Na gut«, meinte sie und setzte sich auf den Platz, der für den Copiloten vorgesehen war. »Hör mal, warum lässt du mich nicht für ’ne Weile das Steuer übernehmen? Du siehst ziemlich fertig aus.«
»Lieber nicht«, antwortete er und schüttelte den Kopf. »Ist alles ziemlich kompliziert.«
»Willst du damit sagen, du hältst mich für zu dumm oder was?«
Er riss erschrocken die Augen auf. »Nein, ganz und gar nicht! Es ist nur …«
»Scheint so, als müsste ich dich doch ohrfeigen. In Baseek hatten wir vielleicht keine ausgefallene, arcadianische Technologie, aber wir sind Meister des Schiffbaus und der Schifffahrt. Ich bin schon oft Angeln gewesen. Wie viel schwieriger kann es schon sein, dieses Ding zu steuern?«
Er lächelte herablassend. »Es ist schon ein wenig komplexer als ein Ruderboot.«
»Tja, wirklich schade. Schließlich habe ich auf meinem Weg hierher eine einsame Druidin gesehen, die ganz allein herumsaß. Sah aus, als könnte sie etwas Gesellschaft vertragen.«
»Warte.« Mit einem Schlag fühlte er sich viel wacher. »Wirklich?«
»Was soll’s? Du bist ja nun mal viel zu beschäftigt mit deiner wichtigen Arbeit hier… Vielleicht schaue ich mal, ob ich Hadley dazu bewegen kann, ihr Gesellschaft zu leisten …«
»Okay«, sagte Gregory und sprang auf. »Weißt du was, ich könnte wirklich eine kurze Pause gebrauchen. Bist du sicher, dass du das hinbekommst?«
Sie grinste. »Mit Links. Wortwörtlich.«
Gregory nahm sich noch die Zeit, ihr die grundlegenden Bedienelemente zu erklären und ergänzte das mit ein paar ›Diesen Knopf auf keinen Fall berühren‹-Warnungen. Dann rannte er förmlich aus dem Cockpit und hinaus aufs Deck, aber hier waren nur noch die anderen. Laurel hatte sich wohl irgendwo unter Deck begeben. In der Messe, dem Essbereich des Schiffs, fand er sie im Schneidersitz auf einer Bank vor, ein dampfendes Getränk in der Hand.
»Ist es das, wofür ich es halte?«, erkundigte er sich und setzte sich neben sie. »Ist die Luft auch rein?«
»Entspann dich«, gab sie zurück und gab ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange. »Sal ist auf einer nächtlichen Jagd. Es droht uns keine weitere Kaffee-Karambolage.«
»Nun, wenn das so ist …« Gregory nahm den Becher entgegen und genehmigte sich ebenfalls einen Schluck. Sie saßen eine Weile lang schweigend da, leicht aneinander gelehnt.
»Ich habe dich heute vom Cockpit aus beobachtet. Du hast erstaunlich gekämpft.«
Gregory wunderte sich ein wenig, als ein unsicherer Blick auf ihr sonst so strahlendes Gesicht trat. »Danke, aber ich war ziemlich schlampig. Gut genug, um diese Trottel zu erledigen, aber mein Lehrer damals im Dunklen Wald hätte sich für mich geschämt.«
»Sah für mich ganz anders aus. Ich fand, du wirktest wie eine Naturgewalt.«
»Ihr Arcadianer und eure Schmeicheleien. Ich wette, das ist ein richtiger Standard-Anmachspruch.«
Er lachte und bemerkte erleichtert, dass sich ein Lächeln zurück auf ihre Lippen stahl. Sie sah so unbeschreiblich schön aus, wenn sie lächelte.
»Glaub mir, du bist die Allererste.«
»Gut«, sagte sie und nickte so heftig, dass ihr Pferdeschwanz wippte. »Denn falls sich herausgestellt hätte, dass du in Arcadia eine geheime Freundin hast, hätte ich längst Gras über ihr Gesicht wachsen lassen.«
»Ihh.«
»Und Unkraut über deinen Arsch.«
Jetzt konnte er sich nicht mehr zurückhalten und prustete drauflos vor Lachen. Die Vorstellung war einfach zu komisch.
»Funktioniert Naturmagie überhaupt so?«, fragte er kichernd, woraufhin sie nur mit den Schultern zuckte.
»Wahrscheinlich nicht. Aber ich würd’s gerne mal ausprobieren.«
»Wenn das so ist, sollten wir mit Rücksicht auf die Sicherheit meiner hundert Geliebten in Arcadia besser nicht so schnell dorthin zurückkehren. Vielleicht nie wieder.«
Laurel nahm einen langen Schluck Kaffee und legte nachdenklich den Kopf auf seine Schulter. »Wärst du traurig, wenn du nie wieder nach Arcadia zurückkehren würdest?«
Gregory dachte darüber nach, aber nur kurz. »Nö. Ich war nicht gerade glücklich dort, ehe ich in die Rebellion verwickelt wurde. Meine Mutter war ’ne große Adrien-Anhängerin und ist kurz nach seinem Tod geflohen. Wirklich gut, dass du sie nie wirst kennenlernen müssen. Mein Dad kann von mir aus in seiner Gefängniszelle verrotten. Ich habe alles, was ich brauche, genau hier.«
Er legte sanft einen Arm um ihre Schulter und beugte sich zu ihr herunter. Ihre Lippen waren sanft und gleichzeitig so fordernd, dass es eine Weile dauerte, bis er sich wieder von ihr zu lösen vermochte.
»Gute Antwort«, kommentierte sie beiläufig, während ihm noch der Kopf schwamm. Er beugte sich vor, um sie erneut zu küssen, aber da tauchte plötzlich ein buschiger, orangener Schwanz aus ihrem Hemdkragen auf. Kurz darauf streckte Devin ihren Kopf heraus und schnüffelte mit bebender Nase in der Luft herum.
»Oh, Mann«, murmelte Laurel. »Das ist nicht gut.«
»Was denn genau?«
»Es gibt nur eine Sache, die Devin so in Aufregung versetzt und die ist groß und grün und kann fliegen. Sal ist zurück.«
Gregory sprang auf die Füße. »Mist! Schnell, trink den Kaffee aus! Auf ex!«
* * *
Hannah saß an der Reling, mit Parker an ihrer Seite. Sie genoss das silberne Mondlicht und betrachtete verstohlen von der Seite sein Profil.
Jahrelang hatte er in ihren Augen wie jeder andere Straßenjunge vom Queens Boulevard ausgesehen, aber das vergangene Jahr hatte ihn reifen lassen, wie sie es auch bei sich selbst beobachtet hatte.
Er öffnete gerade den Mund, aber, bevor er etwas sagen konnte, erhob sich ein Brausen von schlagenden Flügeln in der Luft und Sal kam im rasanten Sturzflug heruntergesaust. Trotz den ausgespannten Flügeln wurde er nicht langsamer und so legte er eine kleine Bruchlandung auf dem Deck hin und stolperte – sehr zu Hannahs Verwunderung – nicht, wie sonst immer, auf sie zu, sondern durch die Doppeltür, die ins Innere des Schiffs führte. Fast so, als wartete dort drinnen eine besondere Leckerei auf ihn.
Nur Sekunden später waren Gregorys gedämpfte Flüche zu hören.
Hannah sah zu Parker und gemeinsam brachen sie in lautes Gelächter aus.
»Mit allem, was du jetzt weißt, was würdest du tun, wenn du fünf Jahre in der Zeit zurückgehen könntest?«, fragte er schließlich völlig ohne Kontext und Hannah schnaubte amüsiert. »Mann, so wie du das sagst, könnte man glauben, die Frage wäre genauso simpel, wie was es zum Abendessen gibt!«
Sie überlegte kurz. Die richtige Antwort war natürlich, dass sie nichts ändern würde. Jedes einzelne Ereignis der letzten Jahre hatte sie zu dem gemacht, was sie heute war. Aber das war die langweilige Philosophenantwort.
»Mal sehen … ich wüsste schon, dass ich zaubern kann, aber niemand sonst. Ich wäre demnach eine knallharte Ungesetzliche, hm?«
»Gut möglich.« Parker sah interessiert zu ihr herüber.
»Tja, dann hätte ich erstens Adrien ausgeschaltet. Damals wäre es einfacher gewesen, weil er nicht damit gerechnet hätte. Ich würde ihn von seinem albernen Türmchen schubsen – und diesen Doyle, seinen Assistenten mit dem Stock im Arsch, gleich hinterher.«
»Nicht schlecht. Aber dann hätten dich die Jäger damals nicht in die Enge getrieben.«
»Nö«, stimmte Hannah zu.
»Und du hättest Ezekiel nie getroffen.«
»So weit, so gut.«
»Und wir wären jetzt nicht auf diesem Schiff – ganz zu schweigen von unserer Mission, Irth zu retten.«
»Hey, nicht so schnell! Vielleicht hätte ich Zeke ja unter irgendwelchen anderen Umständen kennengelernt. Unser Treffen war doch sicher vom Schicksal vorherbestimmt oder so – beweis du mir mal das Gegenteil!« Sie lehnte sich zurück und grinste ihn herausfordernd an.
Parker lachte. »Ich bin mir nicht mal sicher, ob ich an das Schicksal glaube.« Er fuhr sich mit der Hand durch die Haare, wodurch sie nur noch wirrer in alle Richtungen abstanden. Sie widerstand dem Drang, ihre Hand nach diesen dunklen, widerspenstigen Strähnen auszustrecken.
»Und zweitens?«, hakte er nach.
»Ist doch klar. Ich hätte schon vor Jahren mit meinem heißen, besten Freund rummachen können. All diese vergeudete Zeit …« Sie zwinkerte ihm zu und er lehnte sich ein wenig tiefer zu ihr herunter. »Aber nach deiner Logik waren wir vielleicht ja auch vom Schicksal vorherbestimmt. Macht es da einen Unterschied, wann wir über unseren Schatten gesprungen sind?«
Hannah senkte den Blick. »Parker«, flüsterte sie in zerknirschtem Tonfall, »ich habe von Gregory gesprochen.«
Parker hielt kurz überrascht inne, dann lachte er keckernd drauflos, bis er Seitenstechen bekam. »Was denn?«, kicherte sie. »Unter dem krausen Haar und dem ganzen Mathezeugs … ich meine: Laurel versteht das.«
»Klar«, räumte er ein, »Gregory ist so heiß wie ein Vulkan.«
Sie lehnte sich näher an ihn heran, sodass er jetzt ihren kühlen Atem auf seiner Haut spüren konnte. »Du hast Glück, dass Gregory jetzt vergeben ist und ich meine Chance bei ihm verpasst habe. Jetzt muss ich mich mit irgendeinem dahergelaufenen Typen vom Boulevard abfinden.«
»Dabei gibst du dich doch immer so volksnah«, stichelte Parker und zog sie an sich.