I ch … ich raff’s nicht.«
Hannah schaute sich erneut im Raum um, in der Erwartung, Hadley würde hinter einem der komischen Apparate hervorspringen und sich totlachen. Aber ihr Blick blieb immer wieder an dem schwarzen Kasten vor ihr hängen.
Tief in ihrem Inneren wusste sie, dass das Ding die Wahrheit sagte.
»Ich kann deine Verwirrung verstehen«, entgegnete Lilith. »Ich bin nicht gerade so, wie die Legenden besagen. Aber ich versichere dir: Ich bin diejenige, die du sehen wolltest.«
Hannah machte einen zögerlichen Schritt auf das Gerät zu.
»Aber was bist du?«
»Ich werde so ehrlich zu dir sein, wie es mir möglich ist, Hannah von Arcadia. Aber ich habe auch genug Erfahrung damit, Fremden meine Erscheinung zu erklären, um zu wissen, dass die Wahrheit in diesem Fall ein wenig zu kompliziert ist. Ich werde dir also meine Geschichte erzählen, jedoch in Worten, die dir bekannt sind. Ist das ein akzeptabler Kompromiss?«
Hannah überlegte kurz und nickte.
»Dann darf ich davon ausgehen, dass du mich nicht in Brand steckst?«
Hannah brauchte eine Sekunde, um zu verstehen, dass das Orakel einen Scherz gemacht hatte. Sie lächelte schief. »Keine Versprechungen.«
Das Gerät schien ein wenig heller zu leuchten. »Na gut. Ich werde mich bemühen, von jeglichem Dreckskerl-Getue abzusehen.«
Hannah staunte nicht schlecht.
»Habe ich das im richtigen Kontext benutzt?«, erkundigte sich das Orakel. »Ezekiel hat mich über dein exotisches Vokabular aufgeklärt.«
Hanna lächelte breiter. »Ja, ich würde sagen, du hast den Dreh raus.«
»Gut. Bitte lass es mich wissen, wenn ich eines dieser Wörter im falschen Zusammenhang gebrauche, damit ich mich in Zukunft korrigieren kann. Wenn die Datenänderung einmal gespeichert wurde, werde ich einen Fehler nicht wiederholen. Du solltest es dir ein wenig bequem machen. Es ist eine lange Geschichte.«
Hannah fiel ein Stuhl auf, der direkt neben Lilith stand und sie nahm darauf Platz.
»Nun, Hannah, ob du es glaubst oder nicht: Was ich bin, ist leichter zu erklären, als wer ich bin. Ich bin ein Mensch. Genau wie du will ich das Beste für diese Welt, auch wenn ich meine Ziele nicht immer erreiche.«
Die mechanische Stimme barg einen Hauch von Traurigkeit und vor Hannahs innerem Auge sah sie, wie Adrien den Boulevard in die Luft sprengte. Sie wusste genau, wie es sich anfühlte, wenn man auf dem Weg zur Verbesserung der Welt Niederlagen einsteckte.
»Tut mir ja leid, wenn ich das so sage«, setzte Hannah mutig an, »aber du siehst nicht wirklich wie ein Mensch aus.«
Lilith lachte wieder. »Das ist eine gute Beobachtung. Ich fürchte, die technische Erklärung für meinen jetzigen Körper würde für dich nicht viel Sinn ergeben. Es war selbst deinen Vorfahren unbegreiflich und die waren an ähnliche Geräte gewöhnt. Die einfachste Antwort ist wohl, dass ich in einer Art hochentwickelter Maschine lebe. Ich hatte einmal einen eigenen organischen Körper, aber das war vor mehreren Leben. Bevor ich auf deinen Planeten kam.«
»Warte … was? Du bist von einem anderen Planeten?«
»Richtig«, fuhr Lilith fort. »Du hast sicher die Legenden gehört über die Matriarchin und den Patriarchen. Darüber, wie sie aufbrachen, um in den Sternen das Böse zu bekämpfen?«
»Ja«, bestätigte Hannah. »Aber ich habe immer angenommen, das sei Pferdescheiße.«
Die Maschine seufzte. »Trotz all meiner Jahre auf deinem Planeten kann ich die Obsession deines Volkes mit Fäkalien immer noch nicht nachvollziehen. Aber ich kann dir versichern, dass diese Legende die volle Wahrheit beinhaltet. Die beiden zogen aus, um gegen ein Volk von großer Stärke und Bosheit zu kämpfen. Mein Volk.«
»Dein Volk?«
»Ja. Die Kurtherianer. Ich könnte dir viel über uns erzählen, aber ich fürchte, das würde mehr Zeit kosten, als wir gerade haben. Die kurze Antwort ist, dass wir uns in das Schicksal deines Planeten eingemischt haben. Also hat sich die Matriarchin in unseres eingemischt.« Die Maschine hielt inne, dann hellte sich ihre Stimme vor Freude auf. »Ich beneide die Narren nicht gerade, die sich ihr in den Weg gestellt haben.«
Hannah dachte an all die Legenden, die sie als Kind gehört hatte und an das, was ihr Ezekiel anvertraut hatte. Sie erkannte eine grundlegende Wahrheit.
»Die Matriarchin«, sagte sie fast im Flüsterton. »Ihr habt sie erschaffen?«
»Ja«, bestätigte Lilith. »Nicht ich, aber einer von meinem Volk. Wir haben die Helden und Monster eurer alten Welt erschaffen. Es war ebenfalls unsere Technologie, die den Wahnsinn erschuf.«
Hannah schauderte. »Der Wahnsinn hätte fast die gesamte Welt zerstört. Er hat das Chaos hinterlassen, in dem wir uns heute befinden. Wie konntet ihr nur so etwas tun?«
Trauer erfüllte die Stimme des Orakels. »Mein Volk – trotz unseres großen Wissens gab es Dinge, die wir nicht vorhersehen konnten. Dinge, die ich nicht rechtzeitig erkannt habe. Ich habe mein Leben der Aufgabe gewidmet, die Fehler meines Volkes zu beheben. Unsere Technologie mag zwar zum Wahnsinn geführt haben, aber somit auch zu der Kraft, die durch deine Adern fließt.«
Hannah nickte. »Das Zeitalter der Magie.«
Lilith seufzte erneut. »Ich habe Ezekiel schon oft gesagt, dass ich dieses Wort nicht mag. Was wir tun, ist keine Magie. Es ist Wissenschaft jenseits eures Verständnishorizonts. Die Kraft, die durch die Adern aller Menschen fließt, ist das Ergebnis von Technologie, genau wie mein jetziger Körper. Diese Technologie ermöglicht den Zugang zur Aetherischen Sphäre, deren Energie …«
»Ja, ja. Nenn es, wie du willst«, unterbrach sie Hannah, »aber mir kommt es wie Magie vor.«
»Ich habe dich nicht hergebeten, um über Terminologien zu diskutieren, sondern weil du begreifen musst, wie besonders du bist.«
Hannah schüttelte den Kopf. »Das sagt mir Zeke auch immer. Ich habe ein paar Fähigkeiten, die wir noch bei keinem anderen Magier gesehen haben. Gut. Aber du hast es selbst gesagt: Diese magische Technologie – oder was auch immer – steckt in jedem. Das heißt, ich bin unterm Strich nichts Besonderes.«
»Aber genau das ist der Punkt.« Die Maschine schien fast zu zittern vor Aufregung. »Jeder hat die gleichen Werkzeuge in sich, obwohl die meisten nie zu einem Bewusstseinsstadium durchdringen, in dem sie es erkennen oder gar kontrollieren können. Aber noch nie hat jemand getan, was du geleistet hast. Ich habe Ezekiel in die Welt hinausgeschickt, um Leute zu finden, die mehr Gaben haben als er und die mehr Vorstellungskraft haben als das, was mir meine jahrelange Erfahrung gegeben hat. Er kam mit dir zurück. Er erzählte mir von deinem fliegenden Reptil. Was du an den Ufern von Baseek getan hast. Du hast gewöhnliche Werkzeuge genommen und etwas völlig Neues daraus erschaffen.«
Hannah stand auf und begann aufgeregt, hin und her zu gehen.
»Zeke erzählt mir das schon seit Monaten, aber ich verstehe es nicht wirklich. Ja, gut, ich gebe zu, dass Sal verdammt cool ist, aber ich weiß nicht mal, wie ich das gemacht habe. Ich kann ja nicht einfach mit den Fingern schnippen und einen Drachen erschaffen. Die physikalische Magie liegt mir einfach wegen meiner Natur. Ich werde stetig besser in Natur- und Mentalmagie, aber ich werde nie das Niveau von Laurel oder Hadley erreichen. Dabei sind die beiden noch nicht mal die stärksten Magier, da, wo sie herkommen.«
Lilith hielt kurz inne, als überlegte sie, was die beste Formulierung sei.
»Weißt du, warum sich diese getrennten Schulen der … Magie gebildet haben? Es war, weil die Menschen ihr volles Potenzial nicht ausgeschöpft und sich in Zwist ergangen haben. Die Unterteilungen, die du erwähnt hast – physische, mentale und Naturmagie – sind willkürlich und nicht einmal sehr genau. Sind nicht Bäume und Steine physische Objekte? Ist der Geist nicht ein Teil der Natur? Und das Wetter – es ist nicht lebendig, genauso wenig wie ein Stein. Diese Unterteilungen wurden nicht von mir gelehrt. Menschen limitieren sich selbst nur allzu gerne, sortieren sich in Kategorien ein, die ihnen Zugehörigkeit versprechen … doch sie begrenzen damit auch ihren Horizont. Aber du … als du deine Kraft zum ersten Mal eingesetzt hast, hast du einen anderen Zugang gefunden, der dich nicht einschränkt.«
Hannah dachte zurück an jenen Tag auf dem Boulevard, als ihr Bruder spastisch zuckend in ihren Armen gelegen hatte und die seltsame, heilende Kraft aus ihr herausgeflossen war.
Plötzlich wurde ihr klar, worauf Lilith hinauswollte.
»Oh, Scheiße«, stöhnte Hannah verdrießlich. »Sag es nicht. Bitte nicht …«
»Dein Zugang ist die Liebe.«
Hannah rollte mit den Augen. »Das ist ziemlich kitschig für eine hyperintelligente … was auch immer du bist.«
»Wie ich bereits sagte, fasse ich die Dinge in Worte, die dir verständlich sind. Aber ich lüge dich nicht an.«
Hannah rang die Hände. »Was soll das heißen? Was willst du von mir?«
»Ich will, dass du diese Welt so sehr liebst, wie du deinen Bruder geliebt hast. Ich möchte, dass du diese Welt genug liebst, um zu tun, was nötig ist, um sie zu retten.«
Hannah ließ sich seufzend wieder auf den Stuhl fallen. »Ich weiß nicht, ob ich so viel Liebe in mir habe, aber ich werde es versuchen.«
»Ich …« Lilith brach abrupt ab und ihre Lichter begannen, unruhig zu flackern. Hannah befürchtete schon, es habe sich in ihrem System irgendein Fehler ergeben, doch dann sprach sie wieder. »Ein weiterer Spalt hat sich aufgetan. Schon wieder ist ein Skrim durchgekommen.«
Hannah sprang auf die Füße und teleportierte sich mit rot funkelnden Augen fort aus der Höhle.
* * *
Mit einem Lichtblitz erschien Hannah in der Stadtmitte von New Romanov, auf einem großen Platz direkt vor Olafs Haus. Einige Menschen liefen zielstrebig umher, mit Waffen oder anderen Utensilien zur Hand. Andere scheuchten die Kinder von der Straße und zogen sie in Richtung der Höhlen. Karl kam an ihr vorbeigerannt.
»Was ist los?«, rief Hannah. »Wo ist Olaf?«
»Ist zum verdammten Spalt jelaufen. So ’n Mädschen hat uns erzählt, dat noch ein Monster unterwegs is, aber diesmal hat et wohl ’nen kleijnen Schaden.«
Hannah runzelte die Stirn und Karl fuhr fort: »Dat Teil greift nöscht die Stadt an, sondern ein Dörfschen im Norden.«
Hannah stieß einen schrillen Pfiff aus und Sal kam schwanzwedelnd von einem Dach gesprungen und landete vor ihr.
»Spielzeit ist vorbei, Monsterchen. Lass uns gehen!«, rief Hannah und schwang sich auf seinen Rücken. Der Drache erhob sich in die Luft. »Nach Norden!«
Mit kräftigen Flügelschlägen schraubte sich Sal höher, bis die Häuser unter ihnen winzig klein aussahen, dann schwenkte er um den riesigen Berg herum und glitt über den Fichtenwald hinweg. Es folgten kahle Hügelländer mit weiteren, kleineren Wäldchen, bis endlich einige bestellte Felder in Sicht kamen. Olaf hingegen hatten sie unterwegs nicht gesehen. Entweder hatte er einen gewaltigen Vorsprung oder er war ein schneller Bär. Sie befürchtete schon, Sal die falsche Richtung gewiesen zu haben, doch da sah sie es endlich.
Sie konnte den Anblick kaum in Worte fassen.
Eine Rauchsäule stob von der Erde in den Himmel, wie ein schwarzer Blitz, der für immer in der Luft hing. Als Kind hatte sie einst einen großen Riss in der Stadtmauer Arcadias entdeckt und genauso sah das hier aus, nur mitten in der Luft.
Sie erschauderte bei dem Gedanken, was auf der anderen Seite des Risses liegen mochte.
Sal setzte zur Landung an und Hannah sprang, sobald es möglich war, auf den Boden und lief auf eine baufällige Hütte zu, die hier stand. Kaum hatte sie diese erreicht, trat Olaf daraus hervor. Er schlüpfte gerade in ein übergroßes Hemd und steckte es sich in eine für seine langen Beine viel zu kurze Hose.
»Die Nacktheit nach der Verwandlung ist der Fluch, der mit meiner Gabe einhergeht«, begrüßte Olaf sie und versuchte, seine Sorge mit einem Lächeln zu überspielen. »Meine Leute und unsere Nachbarn waren so lieb, mir Kleiderpakete an den verschiedensten Orten zu hinterlassen.«
Hannah deutete auf den furchtbaren, finsteren Riss am Himmel. »Was ist das?«
»Wir nennen es einen Spalt.« Seine Stimme war beinahe ein Knurren. »Er verbindet unsere Welt mit jenem Ort, wo diese Biester herkommen – die Skrims.«
Hannah ging zögerlich einen Schritt näher an die Stelle heran, wo der Spalt den Himmel zerriss. Es lag ein fauliger Geruch in der Luft – und der Gestank nach verbranntem Haar. Es war, als würde in der Ferne Donner grollen.
»Aber … aber wohin führt es?«
»Wenn du mich fragst zur Hölle«, grunzte Olaf. Er wandte sich ab und begann, den Boden abzusuchen. »Ich bin sicher, das Orakel wird dir eine technischere Erklärung geben können.« Er ging um die Hütte herum und ließ den Blick umherschweifen.
»Ist ein seltsamer Ort für ein Ferienhaus«, merkte Hannah an.
»Es ist unser Außenposten. Einige unserer Leute wechseln sich hier ab. Wenn etwas durchkommt, rennen sie wie der Teufel zurück nach New Romanov und melden es.« Er schaute nach unten und schüttelte den Kopf. »Mika hatte heute Mira eingesetzt und sie ist nur ein Kind, aber wir dachten nun einmal, dass es heute unmöglich wieder passieren kann.«
»Was denn, Olaf?« Er suchte nun beinahe manisch und reagierte nicht auf ihre Frage. Also stellte sich ihm Hannah in den Weg. »Was zum Teufel hätte heute unmöglich passieren können?«
»Ein Skrim-Angriff. Normalerweise kommt nur alle paar Monate mal einer durch. Zwei im selben Monat ist fast unerhört, aber innerhalb von zwei Tagen? Das ist noch nie geschehen.«
Hannah fand einen Fußabdruck, der so groß war, dass Sal sich darin zusammenrollen konnte. Sie war keine Spurenleserin, aber er gehörte offensichtlich zu einer noch größeren Kreatur als jene, die sie gestern besiegt hatten. »Ich habe gefunden, was du suchst!«, rief sie Olaf zu und er war binnen Sekunden an ihrer Seite und hockte sich auf den Boden.
»Bei Walhalla«, stöhnte er und fuhr mit der Hand den Rand des Fußabdrucks entlang. »Es ist gigantisch .«
Sein Blick schweifte gen Norden, eine Ader pulsierte sichtbar auf seiner Stirn. Hannah wusste, dass Olaf eine furchtbar schwierige Entscheidung treffen musste. Das Monster jagen oder zurück zu Lilith gehen und sie beschützen?
»Wie lautet dein Befehl?«, fragte Hannah – entschlossen, ihm zu folgen.
Er schüttelte gequält den Kopf. »Ich kann New Romanov nicht ungeschützt lassen, nicht bis wir mehr über diesen Vorfall wissen. Wir müssen mit Lilith sprechen und zwar schnell!«
»In Ordnung, aber du fliegst mit mir.« Sie deutete auf Sal. »Ich wette, mein Drache ist schneller als ein durchschnittlicher Bär.«
»Wen nennst du hier durchschnittlich?«
Sie klopfte ihm auf die Schulter, setzte sich zwischen Sals Flügel und bedeutete Olaf, es ihr gleichzutun. »Dann musst du dich nicht schon wieder anziehen.«
Olaf nahm schmunzelnd hinter ihr Platz und hielt sich an Sals Rückenstacheln fest, wie Hannah es vormachte. Zum Glück war der Drache groß genug, um sie beide zu tragen – aber nur knapp. Hannah war aufgefallen, dass seine Wachstumsschübe in den letzten Wochen immer weniger und weniger geworden waren. Womöglich hatte er endlich seine finale Größe erreicht. Sie tätschelte Sal ermutigend am Hals.
»Komm schon, Monsterchen. Du schaffst das.«
Als sich der Drache in die Luft schraubte, deutete Hannah hinter sich auf die viel zu kurze Hose, die Olaf notdürftig angezogen hatte und meinte: »Ich glaube, Karl wird froh sein, seine Hose zurückzubekommen.«
Olafs bellendes Lachen wurde nur halb vom Flugwind verschluckt.