K arl, Ezekiel und Hannah folgten Olaf und Mika in Richtung der zerstörten Stadtmauer von New Romanov. Wie sie so über die Trümmer hinweg schritt, taten Hannah die Menschen von New Romanov leid. Egal ob Krieger oder Kind: Dieses Volk hatte sich ganz und gar dem Orakel verpflichtet, der Hüterin der Zukunft Irths. Von Ezekiel mal abgesehen, wusste niemand, dass sie überhaupt existierten. Es war eine undankbare Aufgabe, doch elementar wichtig für die Welt.
Selbst die hart arbeitenden Leute vom Boulevard zechten hin und wieder eine Nacht in einer Taverne durch oder legten sich für eine Stunde auf dem Rasen des Kapitolparks hin. Aber dieses Volk lebte zu gefährlich und das Risiko war zu hoch, um sich lange auszuruhen.
Hannah tippte Mika auf den Arm. »Ich glaube, bei der Vorstellungsrunde hat Karl die ganze Aufmerksamkeit ganz gewieft an sich gerissen, deshalb habe ich mich dir noch gar nicht vorgestellt.« Sie streckte ihr im Gehen die Hand hin. »Ich bin Hannah.«
Die Frau nickte und drückte Hannahs Hand kurz und fest. Ihre Augen waren von sehr intensivem blau, wie Hannah bewundernd feststellte. Die langen, blonden Krauslocken hatte sie heute zu einem kompliziert aussehenden Flechtzopf gebunden, der bis zu ihrem Hintern hinunterreichte. »Und ich bin Mika«, sagte sie. Ihre Stimme hatte einen angenehm sonoren Klang. »Ich bin froh, dass du und dein Team hier seid, Arcadianerin. Vielleicht können wir New Romanov und ganz Archangelsk ein wenig Stabilität bringen, wenn wir zusammenarbeiten.«
Hannah wägte kurz ab, stellte ihre Frage dann aber genauso plump, wie sie gemeint war.
»Du und Olaf – ihr seid ein Ding, hm?«
»Ein Ding?«
»Ja, du weißt schon. Ein Paar.« Hannah spürte, wie ihr Gesicht warm wurde. Dann stieß Mika ein tiefes, melodisches Lachen aus und Hannah lief noch röter an.
»Na ja«, lachte Mika. »Seit Jahren sind Olaf und ich einfach da . Keiner hat je gefragt, als was wir unsere Beziehung deklarieren. Aber in erster Linie sind wir Kameraden, die für die Sicherheit Liliths kämpfen.«
»Ah, verstehe. Tut mir leid, dass ich …«
»Und wir sind ein Liebespaar.«
»Ah, ja. Also doch! Habe ich mir nämlich schon gedacht«, meinte Hannah feixend. »Also ich urteile null, aber ist er nicht viel älter als du?«
Mika legte den Kopf schief und grinste. »Olaf ist einige Jahrhunderte älter als ich, Hannah. Aber das ist kein Nachteil. Es stimmt zwar, dass ich nicht gerade seine erste Liebe war, aber Männer reifen durch Erfahrung und lernen, wie sie Frauen behandeln sollten. Wenn du weißt, was ich meine …«
Hannah kicherte. »Na, das nenne ich wirklich einen Vorteil.«
»In der Tat. Aber ab und zu bringe ich dem alten Herrn schon noch neue Tricks bei.«
Mika wackelte mit ihren hellen Augenbrauen und Hannah sah zu Olaf hinüber, der mit Ezekiel voranging. Dahinter stapfte Karl drein, gefolgt von Sal, dessen Stachelschwanz vor Aufregung hin und her peitschte.
Nach Urai zu fliegen oder zu teleportieren, hätte ihnen einige Stunden erspart, aber schließlich konnten sie nicht zu hundert Prozent sicher sein, dass Mikas Heimatdorf auch wirklich das Ziel des Monsters war. Auf diese Weise würden sie es sehen, falls es sich über ein anderes Nachbardorf hergemacht hatte. Sie folgten also den riesigen Fußabdrücken, die Olaf gefunden hatte. Zumindest deren Größe nach zu urteilen, würde dieses Monster nicht zu übersehen sein.
Olaf ging ein wenig vornübergebeugt, so angespannt waren seine Schultern. Wenn Hannah ihm vor einem Jahr in Arcadia begegnet wäre, hätte sie ihn auf nicht älter als fünfunddreißig oder vierzig geschätzt. Aber die Tatsache, dass Olaf vor dem Zeitalter des Wahnsinns geboren worden war, schockierte sie immer noch. Generell hatte sie über Werwesen noch viele Fragen, aber sie waren mittlerweile bei dem Spalt angekommen, also würden sie auf ein anderes Mal warten müssen.
»Scheisse «, murmelte Karl, als er des dunklen Risses in der Luft ansichtig wurde. »Was ist dat denn schon wieder für ’n Ding?«
Ezekiel legte den Kopf schief, als würde er stumm eine mathematische Gleichung durchgehen, die Karls Begriffsvermögen überschritt. »Diese Frage ist nicht leicht zu beantworten. Aber der Spalt nutzt eine ähnliche Kraft wie Hannah und ich, wenn wir teleportieren. Wir nutzen unsere Magie, um von einem Ort zum anderen zu springen. Der Spalt erlaubt es den Skrims, das Gleiche zu tun, wenn auch in einem viel größeren Ausmaß.«
»Und dat Orakel hat diese Lücke vorher jeschlossen jehalten, oder wat?«
Ezekiel seufzte. »Eigentlich ist selbst mir unbegreiflich, was sie da tut. Vielleicht kann Gregory es besser nachvollziehen. Aber kurz gesagt: So wie der Spalt mit aetherischer Energie erschaffen wurde, flickt sie ihn auch wieder mit aetherischer Energie zusammen. Es ist ein kosmisches Tauziehen. Lilith hält die Tür zu, während ihre Feindin auf der anderen Seite mit aller Kraft versucht, sie zu öffnen.«
»Verdammisch«, fluchte der Rearick. »Da bin isch aber ma escht froh, dat wir ’n Teil – äh – isch meine natürlisch eine Dame wie sie auf unserer Seite haben.«
»Genug geredet«, unterbrach Olaf grimmig. »Es ist Zeit, sich zu sputen. Der Skrim hat einen erheblichen Vorsprung. Er wird alles vernichten, was sich ihm in den Weg stellt und nur das wird ihn verlangsamen. Es verschafft uns einen traurigen Vorteil.« Er blickte pointiert auf Karls kurze Beine herunter. »Vielleicht solltest du den Drachen reiten, Freund.«
Karls Gesicht lief feuerrot an. »Na hömma! Isch komm’ schon zurescht! Wenn meine Beijne erstma in Bewegung kommen, müsst ihr am Ende noch auf der Echse hinterherreiten!«
Sal kam näher an den Rearick heran, der ihn sanft wegstieß und den Kopf schüttelte.
»Nöscht für unjut, Kumpel, aber ’n Mann hat seijnen Stolz.«
Olaf nickte. »Dann sieh zu, dass dein Stolz mithalten kann.« Den Spuren am Boden folgend, führte er sie weiter in Richtung Norden. Karl fiel hinter ihm in eine Art Laufschritt und grummelte in seinen Bart.
* * *
Nachdem Hannah und die anderen zum Spalt aufgebrochen waren, ging Gregory schnurstracks zu Lilith. Er ließ die Stadt mit ihren alten Gebäuden und lächelnden Gesichtern hinter sich und stieg in die Tunnel hinab. Die abgeschliffenen Kanten, die von der Technologie einer anderen Welt zeugten, fühlten sich unnatürlich glatt unter seinen Fingern an. Aber darauf achtete Gregory nicht.
Seine Gedanken waren bei ihr.
Zu sagen, er sei in das Orakel vernarrt, wäre eine Untertreibung gewesen.
Sein ganzes Leben lang hatte Gregory seinen Vater von den technischen Wundern der alten Welt sprechen hören. Damals konnten Menschen in Metallvögeln durch die Luft fliegen. Sie konnten binnen Sekunden Nachrichten rund um die Welt schicken. Sie hatten die Waffentechnologie, um ganze Planeten zu zerstören.
Aber Lilith übertraf alles, was Menschenhand in der alten Welt geschaffen hatte. Sie war aus einer ganz anderen Welt. Jahrhunderte alt und dennoch unvergleichlich brillant, war sie das, was einer leibhaftigen Göttin am nächsten kam.
Und sie brauchte seine Hilfe.
Dieser Gedanke reichte aus, um ihm Schwindel zu bereiten.
Trotz allem, was er in den letzten Monaten durchgemacht hatte, trotz der vielen Zeit, die er täglich mit Hannahs und Ezekiels Magie umgeben gewesen war, war ihm dieses Ausmaß von Macht immer noch ein wenig unheimlich. Ehe er die metalleingekleidete Höhle betrat, stellte er sich kurz vor, was der alte Gregory an seiner Stelle getan hätte. Dieser Typ wäre mit Sicherheit glatt ohnmächtig geworden.
Er aber holte tief Luft und trat ein.
»Gregory«, begrüßte ihn die Maschine mit ihrer blechernen Stimme. »Ich hatte gehofft, mit dir allein sprechen zu können. Willkommen.«
»Ha-Hallo, Frau Orakel.« Gregory wollte sich verbeugen, besann sich aber in letzter Sekunde anders, sodass er in einer seltsamen, halb gebeugten Position verharrte.
»Mich Lilith zu nennen, wird in Zukunft am effizientesten sein. Bitte mach es dir bequem. Wir können alle weiteren Formalitäten überspringen, da Ezekiel mir schon viel über dich erzählt hat. Er ist ziemlich beeindruckt von deinen technischen Fähigkeiten.«
Gregorys Gesicht lief feuerrot an, während er sich auf den Stuhl zubewegte.
»Er übertreibt gerne.«
Sie hielt für eine Sekunde inne, als würde sie nachdenken – oder nachrechnen. »Nein, ich glaube nicht, dass das korrekt ist. Er lügt mich nicht an. Seinen Erzählungen nach zu urteilen, hast du dein Fachwissen bereits mehrmals unter Beweis gestellt. Du hast es geschafft, das Luftschiff flugtüchtig zu machen und um die halbe Welt zu steuern und nun behauptest du sogar, mir helfen zu können. Ist das denn wahr?«
Er schluckte schwer. »Ich glaube schon, Ora… Lilith. Aber damit ich nichts kaputtmache, wäre es erst mal hilfreich, zu verstehen, was dich derzeit antreibt.«
»Sicherlich. Die Technologie, in der ich untergebracht bin, wird von einer aetherischen Maschine betrieben. Sie ist im Prinzip ähnlich wie die Nanozyten in deinen Venen. Die Maschine bezieht und nutzt Energie aus der aetherischen Sphäre. Aber dies ist eben nur begrenzt möglich. Im Gegensatz zu sogenannten Magieanwendern kann ich mich nicht einfach ausruhen und auftanken .«
Er nickte bedächtig. »Also ist es richtig, dass dir nur noch Energie für einige Tage bleibt?«
»Ja«, bestätigte sie. »Meine ursprünglichen Schätzungen gingen von einer viel längeren Lebensdauer meiner Energiequelle aus, aber nach dem letzten Weltkrieg und dem Zusammenbruch der alten Welt war es die pragmatischste Option, meine Maschine ebenfalls für die Energieversorgung New Romanovs zu verwenden. Selbst dann wären mir noch Jahrhunderte geblieben, aber das Schließen der Spalte hat diese Rechnung hinfällig gemacht. Die Energiemenge, die nötig ist, um einen Spalt zu schließen, ist gewaltig. Ich habe ein langes Leben gelebt, die meiste Zeit davon gefangen in diesem Metallrahmen. Ich fürchte den Tod nicht mehr wie früher, aber es gibt noch so viel Arbeit für mich zu tun – so viele Fehler, die ich korrigieren muss. Wenn du also einen Weg finden kannst, mein Leben zu erhalten, wäre ich dir sehr dankbar.«
»Na ja, ich habe vorerst nur eine Idee.« Gregory griff in die Tasche seiner Jacke und zog einen voll aufgeladenen Amphorald heraus, der in etwa so groß war wie seine Faust und bläulich glühte. »Ich hoffe, dass die hier funktionieren.«
»Faszinierend«, stellte sie fest. »Ezekiel erwähnte diese Amphoralde bereits und ich hatte gehofft, einen von ihnen analysieren zu können. Bitte lege ihn auf die Fläche zu deiner Rechten.«
Gregory sah so etwas wie ein Metalltablett, das auf einem Tisch in der Nähe stand. Darüber schwebte eine Art Licht, aber er konnte weder Kabel noch Stecker dieser mysteriösen Lampe entdecken. Als er den Amphorald ablegte, strahlte das Licht rot und das Tablett begann leise zu surren.
»Könntest du mir erklären, wie sie hergestellt werden, während meine Analyse läuft?«
»Sicher«, sagte Gregory und ließ sich endlich auf den ihm vor Minuten angebotenen Stuhl fallen. Immerhin war dies ein Themengebiet, wo er sich auskannte. »Sie werden in der Bergkette südlich von Arcadia abgebaut, in den sogenannten Heights. Soweit ich weiß, ist das die einzige Stelle auf der Welt, an der Amphoralde vorkommen. Magieanwender können diese Steine mit ihrer Magie aufladen. Dann, mit der richtigen Technik, kann diese Energie auf kontrollierte Weise weitergeleitet werden. Magitech ist natürlich weit weniger vielseitig als Magie – es gibt nur begrenzte Möglichkeiten, die Energie aus einem Amphorald einzusetzen – aber so kann jemand, der seine magische Kraft nicht zu nutzen weiß, dennoch magische Dinge tun.«
»Interessant.« Die Maschine blinkte. »Meine Analyse ist abgeschlossen und es bestehen mehrere Ungenauigkeiten in deiner Erklärung.«
Gregory blinzelte schockiert. Beinahe hätte er sie korrigiert, ehe ihm wieder einfiel, dass er ja mit dem Orakel sprach und nicht mit irgendeinem Mitglied seines Teams.
»Wie bitte?«, brachte er heraus.
»Diese Ungenauigkeiten sind natürlich nicht deine Schuld. Ein Teil davon liegt vereinfachenden Erklär-Mustern und dem Aberglauben des arcadianischen Volks zugrunde. Ich war überrascht, als Ezekiel mir das erste Mal von Magitech erzählte. Meine geologischen Aufzeichnungen über die Ressourcen eures Planeten sind recht umfangreich und Amphoralde sind darin nicht vermerkt – geschweige denn andere Materialien, die aetherische Energie speichern können.«
»Was sind sie denn?«, fragte Gregory.
»Gewöhnliche Edelsteine, ähnlich den Smaragden. Man findet sie überall auf der Welt und handwerklich sind sie von geringer Bedeutung. Oder vielmehr waren sie es, bis dein Volk entdeckte, wo ihre Einsatzmöglichkeiten liegen.«
Gregory runzelte die Stirn. »Möglichkeiten? Mehrzahl? Du meinst, für mehr als nur Energieversorgung?«
»Korrekt. Wenn Magieanwender ihre Kraft in die Steine kanalisieren, ordnen sie deren molekulare Struktur neu an und erschaffen dabei ein neues Element, das es auf eurem Planeten vorher nicht gab. Es ist ein Akt der Alchemie – ein ähnlicher Prozess, wie wenn ein Magier Holz in Glas oder Stein in Brei verwandelt. Aus gewöhnlichen Edelsteinen werden eben Amphoralde, die Energie speichern können.«
Gregory dachte über ihre Worte nach. Es mochte ja sein, dass arcadianische Magier all die Jahre lang unwissentlich die Kernstruktur von Amphoralden verändert hatten. Aber wenn das stimmte …
Er verlagerte sein Gewicht unbehaglich zur Seite. »Ich habe diese Kristalle schon mal mit Energie versorgt. Mehrmals. Also muss auch ich sie verändert haben. Aber bei allen anderen Objekten ist es mir so gut wie nie gelungen, ihre Kernstruktur zu verändern. Ich bin richtig schlecht in physischer Magie.«
»Offensichtlich ist dies ein Irrtum. Das ist nun schon das zweite Mal, dass du deine Fähigkeiten in meiner Gegenwart geringschätzt. Stell dir vor, was du erreichen könntest, wenn deine Selbsteinschätzung zutreffender wäre?«
Gregory senkte den Kopf. Sein ganzes Leben lang war er als Versager bezeichnet worden und allmählich hatte er angefangen, es zu glauben. Nun erzählte ihm die wahrscheinlich größte Intelligenz des Planeten, dass dem nicht so war.
Er spürte, wie die Tränen in seinen Augenwinkeln brannten und musste sich räuspern.
»Gehe ich recht in der Annahme, dass die Amphoralde dich am Leben erhalten könnten?«
Lilith hielt kurz inne, als führe sie binnen Sekunden tausende von Berechnungen durch.
»Ja und nein. Die Theorie ist gut, aber wir müssen einen Weg finden, deine Energie mit meiner zu verbinden. Ich sollte genügend Material herumliegen haben, aber die Konstruktion wird Zeit in Anspruch nehmen. Zudem ist die Kraft, die ich aufbringe, viel größer als Magitech. Selbst hundert solcher Amphoralde würden mich bestenfalls für ein oder zwei Wochen am Leben erhalten.«
Gregorys Mundwinkel zuckten. »Zufälligerweise weiß ich, wo wir tausende dieser Steine finden können, mit Strom versorgt und einsatzbereit. Ich kann die Zeit erheblich verkürzen, die es normalerweise brauchen würde, dir einen neuen Kern zu bauen. Aber ich werde etwas Hilfe brauchen.«