P arker konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen, während er auf Olafs Anwesen zuging. Die Frühlingssonne erhellte den klaren, blauen Himmel, unter dem die Bewohner New Romanovs ihren Aufgaben nachgingen. Sie alle engagierten sich für den Wiederaufbau der Mauer und gaben sich ganz der Hoffnung hin, ihre Stadt möge eines Tages wieder Frieden erfahren.
Einige Männer und Frauen mit schweren Steinhämmern winkten Parker im Vorbeigehen zu und eine Gruppe älterer Damen sah lächelnd von den Webarbeiten für die Sicherungsnetze hoch zu ihm. Doch er spürte geradezu überdeutlich, was hier noch fehlte. Hannah.
Wenn er brutal ehrlich zu sich selbst war, dann musste er sich eingestehen, dass er ihre Rückkehr zunächst vor allem deshalb herbeigesehnt hatte, damit sie auch ja mitbekam, wie toll er seine Sache hier machte. Aber mittlerweile war dies das Geringste seiner Probleme. Er sorgte sich fürchterlich um sie. Er Trottel war einfach davon ausgegangen, dass sie binnen weniger Stunden mit einem triumphalen Grinsen auf dem Gesicht wieder vor ihm stehen würde. Die durchaus realistische Möglichkeit, dass sie sich auf der Jagd nach dem Skrim schwere Verletzungen oder Schlimmeres zuziehen konnte, war ihm nicht in den Sinn gekommen. Nicht ernsthaft, zumindest.
Doch immerhin war sie diesmal nicht auf der Jagd nach menschlichen Verbrechern gewesen, sondern nach einem verdammten Monstrum aus dem tiefsten Höllenschlund einer fernen Welt.
Er drängte seine Angst mit Mühe beiseite und hielt sich stattdessen vor, wie stark und erfahren ihre Begleiter waren … von ihren eigenen Fähigkeiten ganz zu schweigen.
Vor der Veranda saß Hadley im Schneidersitz auf einem von der Sonne beschienenen Stein und musterte seelenruhig die älteren Männer und Frauen, die vor Olafs Anwesen allerlei lange Tische aufstellten. Er hob lässig eine Hand.
»Na, wie geht’s unser aller Lieblingsmotivationstrainer?«, fragte er und stand mit einem breiten Grinsen auf. »In dieser Stadt mussten wir gar nicht erst auf meinen alten Drachenangriff-Trick zurückgreifen, hm?«
Parker nickte, gegen seinen Willen ein wenig ergriffen bei dieser Erinnerung. »Wir haben viel gesehen und viel geschafft seit diesem Tag auf dem Boulevard.«
Er verschränkte herausfordernd die Arme. »Aber Schwärmereien über die guten, alten Tage bringen dich auch nicht weiter, Freundchen! Was faulenzt du hier in der Sonne, während alle anderen das Essen vorbereiten? Wenn die Arbeiter in ein paar Stunden ihre Werkzeuge niederlegen, werden sie hungrig genug sein, um einen ganzen Lykanthropen zu vertilgen!«
»Aber ich habe doch versucht zu helfen!«, protestierte Hadley, »Nur haben mir die werten Herrschaften immer wieder gesagt, ich solle meinen hübschen jungen Arsch aus dem Weg schaffen. Deshalb, äh … beaufsichtige ich das Ganze jetzt.«
Parker verdrehte die Augen, konnte sich aber ein Lachen nicht verkneifen.
Wenn er in den letzten Monaten, in denen sie so viel gemeinsam durchgestanden hatten, eins über den Mystischen gelernt hatte, dann, dass Hadley ein unverbesserlicher Luftikus war: Im einen Moment riskierte er sein Leben für ihre Mission und im nächsten baumelte er kopfüber von einem Geländer, weil es ihm gerade so in den Sinn gekommen war.
»Na ja. Immerhin scheint unter deiner beflissenen Aufsicht ja alles gut zu laufen«, befand Parker versöhnlich und beobachtete, wie Tabletts mit Essen, große Tonkrüge und gefährlich hohe Tellerstapel herbeigetragen wurden.
»Tja, was soll ich sagen? Es ist eine Gabe«, witzelte Hadley.
Plötzlich ertönte aus dem Süden ein furchtbarer Lärm, ein tiefes Grollen, das sie alle herumfahren ließ. Parker schirmte seine Augen gegen die Sonne ab und suchte nach dem Ursprung des Geräuschs, doch der Himmel war unverändert klar und sonnig.
»Keine einzige verdammte Wolke am Himmel! Vielleicht sollten wir das Essen trotzdem nach drinnen verlegen, sicherheitshalber.«
Hadleys Blick wanderte über den Horizont und die Silhouette des großen Berges, ehe er schließlich auf Parker landete. »Ich glaube nicht, dass das eben ein Donnergrollen war.«
Seine Augen glühten weiß auf und von einer Sekunde auf die andere verlor Hadleys Gesicht jeglichen schelmischen Ausdruck. »Ich spüre kognitive Aktivität da draußen«, informierte er Parker in neutralem Ton, den Blick starr geradeaus gerichtet. »Aber es ist alles sehr schwammig – ich kann keinen einzigen verständlichen Gedanken abfangen. Was auch immer da ist, es ist definitiv nicht menschlich.«
»Lykanthropen?«, schlussfolgerte Parker, als die Augen des Mystischen wieder normal wurden. Er nickte, das Gesicht voller Sorge. »Ja.«
Parker seufzte tief. Dabei war die Arbeit an der Mauer gerade so gut verlaufen. Er hoffte inständig, dass dieser Angriff nicht wieder alles zerstören würde.
»In Ordnung. Vielleicht kannst du für eine Weile Laurels Posten übernehmen, während sie und ich den Mistbiestern entgegengehen. Sollte nicht allzu lange dauern.«
Hadleys Augen verengten sich. »Parker, du schätzt die Lage falsch ein. Da draußen sind Dutzende von ihnen.«
* * *
Gregory saß auf einem kleinen Hocker und seine Finger glitten wie von selbst über die Kabel in dem Gerät, das auf der Werkbank vor ihm lag. Er dachte lieber nicht allzu genau darüber nach, welche enorme Relevanz diese Kreation für das Wohl der gesamten Welt hatte … er konnte viel gleichmäßiger atmen, wenn er sich einredete, es handele sich bloß um eines von vielen Bastelprojekten in der alten Heimwerkstatt seines Vaters.
Doch es ließ sich nicht ignorieren, dass dies die technisch anspruchsvollste Knobelaufgabe war, die er je zu lösen versucht hatte. Wenn er bei den Wartungsarbeiten aus Versehen die Ungesetzliche in die Luft gejagt hätte, dann hätte er wenigstens nur sich und seine Freunde in den Tod gerissen. Hier ging es nun aber um Lilith und ihr Überleben war untrennbar verknüpft mit dem Überleben der gesamten Menschheit.
Er ertappte sich dabei, wie unnatürlich schnell und laut er Luft einsog und fuhr sich mit beiden Händen über die schweißnasse Stirn.
»Du machst das außerordentlich gut«, versicherte ihm Lilith. »Es gibt keinen Grund zur Panik. Deine Hände sind durchaus in der Lage, mich zu reparieren.«
Gregory lief ein wenig rot an. »Das lass mal nicht Laurel hören.«
»Weshalb nicht? Rein logisch betrachtet … oh. Ich verstehe. Entschuldige bitte. Ich bin nun schon so lange körperlos, dass ich die biologischen Implikationen und seltsamen Redewendungen der Menschen nicht mehr automatisch berücksichtige.«
Er lächelte schwach. »Glaub mir: Dazu muss man nicht körperlos sein. Ich bin auch der Allerletzte, der ein anzügliches Wortspiel kapiert, während sich alle anderen schon drüber totlachen.« Er biss sich auf die Unterlippe und verflocht zwei winzige Drähte miteinander. »Was ist eigentlich mit dir passiert? Also – mit deinem Körper, meine ich.«
»Das ist eine lange Geschichte, in der meine eigene Naivität die Hauptrolle spielt. Im Gegensatz zu dir habe ich meine Fähigkeiten stets überschätzt und somit viel Leid verursacht … im Vergleich ist mein aktueller Zustand noch das am wenigsten tragische Ergebnis. Vielleicht werde ich dir eines Tages die ganze Geschichte erzählen, aber für den Moment soll dir genügen, zu wissen, dass das Streben nach Wissen noch größere Fallstricke birgt als das Streben nach Macht.«
Sie schwieg eine Weile und Gregory beschloss, sie nicht zu nerven.
»Gregory, ich habe theoretische Simulationen mit dem Amphorald durchgespielt, den du mir gegeben hast. Das Ergebnis meiner Analyse ist wirklich bemerkenswert. Zu welchen Schöpfungen deine Leute trotz ihres stark begrenzten Verständnisses der physikalischen Prinzipien des Aetherischen fähig waren … Sehr beeindruckend. Die menschliche Technologie, die du noch an vielen Stellen in New Romanov vorfinden wirst, hat mittlerweile größtenteils den Geist aufgegeben und ich glaube, dass deine Magitech einige dringend benötigte Verbesserungen mit sich bringt. Vielleicht könntest du die Bürger meiner Stadt bei Gelegenheit mit deinen Konstruktionen ausstatten? Ich bin sicher, sie würden es zu schätzen wissen.«
Gregory war begeistert von dieser Aussicht. »Na klar! Es gibt so viel, was wir tun könnten. Aber ich kann der Ungesetzlichen nicht noch mehr Amphoralde entnehmen, sonst bleibt sie für immer auf dem Boden. Wer weiß, wie lange wir hier bleiben können? Bestimmt könntest auch du ein paar tolle Sachen entwerfen.«
Der Computer schwieg eine Weile lang, ehe er antwortete: »Ich werde nicht ewig hier sein. Ich brauche Leute wie dich, die anstatt meiner hier weitermachen.«
Gregory runzelte verwirrt die Stirn und wollte um eine Erklärung bitten, aber Lilith fuhr schon fort. »Was den Amphorald-Mangel angeht, habe ich eine Lösung. Weißt du …«
Sie hielt mitten im Satz inne – so abrupt, dass Gregorys Herz fast stehen blieb vor Angst, ihr könne in diesem Moment der Strom ausgegangen sein. Hatte er etwas falsch gemacht, das falsche Teil abgeklemmt?
Er sprang auf. »Lilith?«
Doch da war ihre Stimme wieder, blechern und ernst. »New Romanov wird angegriffen.«
* * *
Nicht zum ersten Mal wünschte sich Parker, Hadley möge mit seinen Vorhersagen falsch liegen. Spätestens, als er die wilde Masse an Lykanthropen mit gewetzten Klauen, triefenden Mäulern und manischen Augen auf die behelfsmäßig zusammengehaltene Stadtmauer zurennen sah, verfluchte er das Talent seines Freundes innerlich.
Er schickte einen Energieschuss in das Gewimmel von zottigen Buckeln hinein und ein klägliches Jaulen wurde laut, das jedoch die anderen Lykanthropen keinesfalls langsamer werden ließ. Parker sah hinüber zu Curtis, der mit einem Dolch auf jene Lykanthropen einstach, die es geschafft hatten, die Mauer zu erklimmen und nun mit ihren grässlichen Mäulern direkt vor ihnen auftauchten.
»Ist das normal?«, rief Parker gegen die Kakophonie aus Jaulen, Knurren und Angriffsschreien der Bürger New Romanovs an. Curtis zog seinen Dolch aus der pelzigen Brust eines Lykanthropen und fuhr eilig herum, um den nächsten zu erwischen.
»In all meinen Jahren«, keuchte er, »habe ich sie noch nie so gesehen. Sie sind einsame Wesen, Einzelgänger. Sie jagen höchstens mal in Zweier- oder Dreiergruppen, aber das da unten müssen ja an die Hundert sein!«
Parker stieß seinen Speer in den Bauch eines Lykanthropen, der an Curtis vorbeigekommen war und wandte sich dann zum Gehen. Er musste Laurel finden.
Am anderen Ende der Mauer, vorbei an unzähligen Leichen von Lykanthropen und wehrhaften Menschen, die ihre unermüdlichen Angreifer mit Speeren, Mistgabeln und Schwertern auf Abstand hielten, fand er sie endlich. Sie stand gefährlich nahe am Mauerrand und ermutigte gerade eine mächtige Eiche, sich als zusätzliche Barriere samt Wurzeln um diesen Teil der Mauer zu schlingen. Das war ein schlaues Manöver, denn hier fehlte ein großes Stück Mauer, das sie noch nicht vollständig hatten auffüllen können. Er wollte gerade nach ihr rufen, da kam ein Lykanthrop über den Rand der Mauer geklettert, riss mit seinen Tatzen einen jungen Bogenschützen in die Tiefe und sprang dann auf der anderen Seite der Mauer herunter. Parker sah entsetzt zu, wie er sich einer Gruppe von Kindern näherte, die von einer alten Dame gerade in Richtung der Höhlen gebracht wurden.
Parker fluchte verzweifelt als ihm klar wurde, dass er mit seinem Speer nicht bis zu ihnen schießen konnte – und selbst dann wäre das Risiko zu hoch gewesen, eines der Kinder zu treffen. Er sah sich schon um, wo entlang der Mauer die nächste Holztreppe nach unten führte, da bemerkte er, dass sich jemand dem Lykanthropen mit erhobenen Armen in den Weg stellte.
Es war Hadley.
In einer Tour fluchend, hastete Parker das Baugerüst hinunter, zwei Treppenstufen auf einmal nehmend, aber er wusste, dass er sie nicht rechtzeitig erreichen würde und dass Hadley keinerlei Kampfmagie besaß. Er hasste und bewunderte seinen leichtsinnigen Freund gleichermaßen dafür, dass er sich dem Monster trotzdem entgegenstellte.
Als Parker auf dem Boden ankam, sah er gerade noch, wie der Lykanthrop mit seinen blitzenden Klauen auf Hadley losging. Doch unmittelbar, bevor er ihn erreichte, schlug das Biest plötzlich einen linken Haken und rannte jaulend davon, auf das andere Ende der Stadt zu.
Parker kam schlitternd vor Hadley, der alten Dame und den Kindern zum Stehen. So blass hatte er den Mystischen noch nie gesehen.
»Hast du seinen Verstand kontrolliert?«, fragte Parker schwer atmend – gleichermaßen erleichtert und verwirrt.
»Nein.« Hadleys Augen glühten weiß in dem Versuch, die Kinder zu beruhigen. Die alte Frau senkte dankbar den Kopf und tätschelte seinen Arm, ehe sie die Kinder wegführte.
»So funktioniert meine Magie nicht. Ich dachte, es wäre um mich geschehen. Warum also hat er uns in Frieden gelassen?«
Eine melodische Stimme hinter Parker ließ sie beide zusammenzucken. »Weil er Angst hatte.«
Parker fuhr herum und entdeckte Laurel, die ihm gefolgt sein musste.
»Wie meinst du das?«
Sie stemmte ihre Hände in die Hüfte. »Meine Magie funktioniert zwar bei denen nicht, aber ich erkenne Angst, wenn ich sie sehe. Diese Lykanthropen haben uns nicht angegriffen. Sie waren auf der Flucht vor etwas. Etwas, das sie aus dem Wald vertrieben hat.«
»Was meinst du mit ›waren‹?«, fragte Parker mit Blick zur Mauer, doch tatsächlich kämpften die Menschen nicht länger, sondern klopften einander auf die Schultern oder warfen die Kadaver ihrer pelzigen Gegner über die andere Seite der Mauer.
»Sie haben sich so schnell in alle Himmelsrichtungen verstreut, wie sie gekommen sind.«
Hadley runzelte die Stirn, als die Bürger New Romanovs um sie herum und auf der Mauer schon zu Jubelgesängen ansetzten. »Ich verstehe das nicht. Lykanthropen sind bösartige Killer. Was könnte sie erschrecken?«
Plötzlich fühlte sich Parker schmerzhaft an den ersten Betrug erinnert, den er und Hannah jemals begangen hatten. Er war gerade mal sieben oder acht Jahre alt gewesen, als auf dem Boulevard eine Gruppe von Teenagern angefangen hatte, Kinder zu schikanieren, ihnen Essen oder selbstgebasteltes Spielzeug zu klauen. Hannah wollte dem ein Ende setzen, also hatte er sich einen Plan ausgedacht: Parker hatte die Schläger provoziert und war dann weggerannt, so schnell er konnte. Zwar kannte er den Weg über die Dächer des Boulevards schon damals gut, aber irgendwann holten ihn die Teenager ein. Sie waren nicht zimperlich mit ihm umgesprungen, hatten ihn grün und blau geschlagen und in einer stinkenden Gasse liegen gelassen. Doch in Wahrheit hatte er lediglich auf Zeit gespielt, während Hannah in das Hauptquartier der Mobber eingestiegen war und sämtliches Diebesgut – und mehr – zurückgeklaut hatte.
»Es ist ein Trick«, sagte er tonlos und starrte ins Leere. »Alles war ein einziger, verdammter Trick!«
Er fuhr herum zu Hadley, der vorrausschauend Parkers Gedanken gelesen hatte und leise fluchte.
»Los«, rief Parker. »Warne sie, schnell! Ich werde tun, was ich kann.«
Hadley machte sich auf den Weg Richtung Berg, während Parker wieder das Baugerüst hinauflief, dicht gefolgt von Laurel. »Hey! Magst du mir vielleicht mal sagen, was hier los ist? Denkst du, die Lykanthropen wollten uns austricksen?«
»Nicht sie«, korrigierte Parker grimmig. »Die Skrims.«
Noch während er sprach, erschütterte ein furchtbares Brüllen die gesamte Stadt. Laurel keuchte auf, als zwei große, rote Körper sich über die Baumkronen erhoben und zielstrebig auf die Mauer zuhielten, die Hörner wie Rammböcke gesenkt.
* * *
Hadley lief so schnell, wie ihn seine Beine tragen konnten. Er kam an Stadtbewohnern vorbei, die eben noch jubiliert hatten und sich nun verwirrt umsahen. Doch sie würden noch früh genug erkennen, welche Gefahr ihnen blühte.
Abgeschottet in einer Höhle hingegen, gestaltete sich dies sicherlich schwieriger. Also rannte Hadley gezielt durch die Straßen der Stadt bis in den Schatten des Berges und den klaffenden Höhleneingang hinunter. Hinter sich hörte er ein fürchterliches Krachen und ein Brüllen, das ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ.
»Scheiße, Scheiße, Scheiße«, flüsterte er, während er in die Dunkelheit hinabrannte.
Am Ende des langen Tunnels erreichte er endlich Liliths Höhle. Er sprang hinein, ohne langsamer zu werden, besaß aber immerhin noch genug Geistesgegenwart, um dem Schraubenschlüssel auszuweichen, der seinen Kopf nur knapp verfehlte.
»Entschuldigung«, rief Gregory, als er Hadley erkannte und ließ mit zitternden Fingern das Werkzeug sinken. »Ich dachte, du wärst ein Lykanthrop.«
Hadley kam schnaufend zum Stehen. »Glaub mir: Damit wärst du noch ganz gut dran im Vergleich zu dem, was uns blüht.«
»Skrims«, schlußfolgerte Lilith. »Sie greifen die Stadt an.«
»Ja«, bestätigte Hadley. »Und Parker glaubt, dass sie hinter dir her sind.«
»Das verstehe ich nicht«, keuchte Gregory.
»Wir sind an der Nase herumgeführt worden«, erklärte Lilith sachlich. »Der große Skrim, der nach Norden zog, war lediglich ein Ablenkungsmanöver, um unsere stärksten Kämpfer fortzulocken und mich verwundbar zu machen. Sobald ich zerstört bin …«
»Bleibt nichts mehr, das den Spalt in Schach hält«, ergänzte Gregory bedrückt. »Sie werden dann in voller Zahl hierherkommen können.«
»Parker tut natürlich, was er kann, aber ich weiß nicht, ob das ausreichen wird«, gestand Hadley. »Gibt es irgendetwas, was wir tun können? Hast du, Lilith, irgenwie Zugriff auf irgendwelche Waffen?«
»Leider nicht. Es scheint, ihr zwei seid alles, was mir als Schutz geblieben ist.«
»Scheiße«, fluchte Hadley und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Dafür sind wir so ziemlich die unqualifiziertesten Leute überhaupt.«
»Möglich«, stimmte Gregory zu und hob wieder seinen wuchtigen Schraubenschlüssel. In seinen Augen lag eine Entschlossenheit, die nur reinster Verzweiflung entsprungen sein konnte. »Aber du übersiehst, dass wir eigentlich genau die Richtigen sind für das, was getan werden muss. Folge mir.«
Gregory stürmte aus dem Raum, Hadley dicht auf den Fersen. Er bog links ab, rannte eine Weile geradeaus und dann wieder links, hinein in einen kleinen Arbeitsbereich. Dort lagen auf zusammengezimmerten Werkbänken die Kanonen der Ungesetzlichen.
»Schnell! Hilf mir, das auf einen dieser Wagen zu laden«, rief Gregory. »Ich habe zwar alle Amphoralde herausgenommen, aber die Mechanik ist noch in Ordnung. Wenn ich das also mit dem Amphorald-Kern verbinde, den ich für Lilith neu gebaut habe …«
»Dann kannst du sie in die Luft jagen! Genial , Gregory!«
Die beiden Männer eilten je zu einer Seite der Kanone, umfassten die breite Kante und stemmten sich mit aller Macht dagegen, aber die massive Metallkonstruktion rührte sich kaum genug, um von der Werkbank zu gleiten.
»Wir sind nicht stark genug, um das zu heben«, musste Hadley widerwillig eingestehen.
»Nicht zu zweit«, murmelte Gregory. »Wir brauchen ein weiteres Paar Hände.«
»Mit einem Paar kann ich nicht dienen«, kam plötzlich eine Stimme aus dem Tunnel, »aber ich bin immer noch stärker als ihr beiden Hungerhaken zusammen.«
»Aysa!«, riefen die beiden erleichtert.
»Kein Grund, gleich rumzuweinen, ihr Trantüten! Es gilt, ’ne Kanone zu positionieren!«
Die Baseeki kam an ihre Seite gerannt und stemmte mit der beeindruckenden Kraft ihres linken Armes die Kanone so weit in die Höhe, dass Gregory und Hadley sie nur noch auf den Karren schieben mussten. Es gelang ihnen, die Kanone unter minimaler Erschütterung auf dem Wagen zu platzieren und in Liliths Kammer zu manövrieren.
Dort angekommen verschwendete Gregory keine Zeit und kramte einige Kabel aus der Fassung des würfelförmigen Amphorald-Kerns, den er mit Aysas Hilfe gebaut hatte.
»Das wird jetzt eine Weile dauern, fürchte ich. Ihr zwei müsst mir Zeit verschaffen.«
»Wie viel Zeit?«, fragte Hadley, während er sich schon zum Gehen wandte.
»Keine Ahnung«, rief Gregory den beiden hinterher. »So viel wie möglich! Das Schicksal der ganzen Welt steht auf dem Spiel.«
* * *
Die Skrims sahen jenem Exemplar, das sie am Tag ihrer Ankunft in New Romanov bekämpft hatten, sehr ähnlich, doch gleich zwei von diesen Riesenmonstern nebeneinander zu sehen, sorgte für eine ganz neue, grauenhafte und angsteinflößende Perspektive auf die Mächte, die hier im Spiel waren.
Parker wunderte sich nicht länger, dass die Lykanthropen die Flucht ergriffen hatten. Diese Monster waren ein lebendig gewordener Albtraum.
Laurel war die Erste, die sich aus der Schockstarre löste und mit ihrer Seilklinge angriff. Die bohrte sich tief in das rote Fleisch des Skrims, der sich soeben mit den Vorderpranken auf die rechte Seite der Mauer stützte. Das Biest brüllte markerschütternd und riss den oberen Teil der Mauer ein, als wäre es eine Sandburg. Nun griffen auch Curtis und die anderen Bürger an, feuerten ganze Salven von Pfeilen ab. Doch es blieben zumeist Streifschüsse und die Treffer, die zwischen den dicken, roten Schuppen stecken blieben, schienen den Skrims wenig auszumachen.
Curtis ließ nicht nach und feuerte seine Leute an, nicht aufzugeben. Das entfachte auch in Parker neue Hoffnung. Er zielte mit seinem Speer und schoss in die Schulter des zweiten Skrim, ehe der eine Pranke über die Mauer setzen konnte. Zwar entlockte es ihm nur ein widerwilliges Knurren, doch die Schuppen an der getroffenen Stelle waren kohlschwarz angelaufen und zumindest für den Moment unternahm das Monster keinen weiteren Versuch, über sie hinweg zu trampeln. Stattdessen beobachtete es sie aus glühenden Augen.
Das ist doch schon mal ein Fortschritt, dachte Parker und zielte wieder auf dieselbe Stelle, was den Skrim diesmal dermaßen provozierte, dass er mit einem Prankenhieb die Mauer entlangfuhr. Zwei Männer, die sich nicht rechtzeitig geduckt hatten, wurden in die Tiefe geschleudert und schlugen mit einem unschönen Flatsch auf dem Boden auf.
Der Kampf gegen die Skrims entwickelte sich zu einem Katz-und-Maus-Spiel: Wenn sie sich vorübergehend in Sicherheit wiegten, feuerten Curtis, Laurel, Parker und die anderen drauflos mit allem, was sie hatten – bis einer der Skrims zum Gegenangriff überging und sie sich so schnell wie möglich aus der Gefahrenzone bringen mussten, nur um dann wieder einen geeigneten Angriffsmoment abzuwarten. Laurel tobte mit ihrer Seilklinge wie ein Wirbelwind und war so flink, dass sie von den Pranken der Skrims nicht einmal gestreift wurde. Parker rief sich sein Training mit Karl wieder in Erinnerung und versuchte, mit seinen Angriffen die Schwachstellen der Biester herauszufinden. Das Problem war nur, dass er auch nach mehrmaligem Hin und Her keine erkennen konnte.
Zumindest, bis Curtis ein Glücksschuss gelang und sein Pfeil direkt in die Wange des größeren Skrim einschlug. Der Schmerz und die Wut in dem Schmerzensschrei des Monsters erschütterten die Mauer in ihren Grundfesten und nun griff es so schnell an, dass eine ganze Gruppe Männer von seinen Klauen zerfleischt wurde.
Parker hielt seinen Speer hoch und schoss mehrmals auf das Ungetüm ab – alles, um es abzulenken. Doch nun beugte sich das Vieh zu ihm herunter und Parker blieben nur noch seine Straßeninstinkte, die ihn förmlich anschrien, er solle den Schwanz einziehen und weglaufen.
Den Prankenschlägen des Monsters immer nur um Haaresbreite entgehend, ließ er sich an einer Holzstange des Baugerüsts bis nach unten gleiten. Kaum war er auf dem Boden angekommen, setzte der Skrim beide Vorderbeine über die Mauer und zerstörte das Baugerüst auf der inneren Seite vollständig.
Gewissensbisse ließen Parker trotz des furchtbaren Anblicks, wie der Skrim über die Mauer auf ihn zu stapfte, innehalten. Er hasste sich dafür, dass er die anderen auf der Mauer allein ließ, aber wenn man bedachte, dass er damit die gesamte Angriffskraft des zweiten Skrims auf sich nahm, schien es dann doch wieder wie ein fairer Deal.
Den Schutz der hohen Gebäude suchend, lief Parker in die Gassen der Stadt hinein und betete, dass er New Romanov mittlerweile gut genug kannte, um sich nicht in eine Sackgasse zu manövrieren. Wäre dies Arcadia gewesen, hätte er sich darüber keine Gedanken gemacht, aber so spürte er, wie er es mit der Angst zu tun bekam.
Er bog schlitternd nach rechts ab, was sich als Fehler herausstellte: Vor ihm waren zwei Gebäude so eingestürzt, dass sie die Straße komplett blockierten.
Er rang nach Luft und drehte sich auf dem Absatz um, den Speer im Anschlag.
Schon kam der Skrim um die Ecke gestapft und blieb wie zum Sprung gespannt stehen, als er Parker sah. Er fletschte sein riesiges Maul, sodass seine Stoßzähne wie bei einem höhnischen Lächeln aufblitzten.
Parker feuerte einen Schuss auf die Brust des Monsters ab, doch das Viech schüttelte nur gereizt den Schädel und zog die Lefzen noch breiter. Jetzt war Parker ganz sicher, dass das Ding grinste.
Er sah sich verzweifelt um nach irgendetwas, das ihm einen Vorteil verschaffen konnte, aber da war nichts. Er feuerte erneut drauflos und traf das Biest an der Schläfe, doch wieder schien es kaum Schmerzen zu empfinden, obwohl seine Schuppen an der Einschlagstelle verkohlt aussahen.
Der Skrim hob seine rechte Pranke, um Parker in Grund und Boden zu stampfen, doch da wickelte sich von hinten ein Seil um sein Vorderbein, sodass er perplex innehielt. Das Seil löste sich und peitschte mit einem Knall stattdessen um seinen massigen Hals, wo es mitsamt Klinge hängen blieb. Der Skrim wandte den Kopf hin und her, röhrte und versuchte, sich zu befreien, doch Laurel zog das Seil mit aller Kraft fest, als hinge ihr Leben davon ab. Hinter ihr erkannte Parker Curtis und seine Leute. Sie alle zerrten, als hinge die Welt davon ab.
Aber das Tauziehen hielt nicht lange an, der Skrim war zu stark und riss seinen Hals nach vorne, sodass Laurels Füße an Halt verloren.
Der Skrim streckte seinen Hals so weit aus, bis sein riesiges Fratzengesicht auf einer Höhe mit dem Parkers war. Das Vieh hatte gewonnen und wusste es.
Mit einem weiteren, wölfischen Grinsen setzte es zu einem triumphalen Brüllen an und Parker akzeptierte die Aussicht, gleich mit Haut und Haar verschlungen zu werden. In einem letzten, verzweifelten Manöver riss er seinen Speer senkrecht nach oben und registrierte kaum, dass er die Kehle des Skrims durchbohrte und einen Schwall dickflüssigen, dunklen Blutes auf die Pflastersteine niederregnen ließ. Der manische Blick in den Feueraugen des Skrims war allein auf ihn fixiert und er las darin die reinste Verwirrung.
Parker lächelte. »Hättest du nicht gedacht, hm? Lutsch daran , du Höllenviech!«
Dann drückte er auf Abzug und eine blaue Welle der Energie entlud sich in die klaffende Wunde des Monsters. Es stieß ein schrilles Jaulen aus und brach dann über der Waffe zusammen.
Curtis kam herbeigerannt und legte Parker eine Hand auf die Schulter. »Gut gemacht! Aber viel Glück dabei, deinen Speer da heile wieder rauszubekommen, Parker.«
Die Männer und Frauen, die ihn und Laurel unterstützt hatten, lagen sich gegenseitig in den Armen und stießen Triumphschreie aus, ehe sie zurück zur Mauer liefen. Ein junger Mann hatte sich auf die Knie fallen lassen und kicherte aufgekratzt.
»Habt ihr das gesehen? Ich schwöre, ich habe Licht aus seinem Arsch kommen sehen! Der beste Tag meines Lebens!«
Parker ignorierte sie alle und ging direkt auf Laurel zu. »Der andere Skrim … Habt ihr ihn aufhalten können?«
Sie schüttelte grimmig den Kopf. »Er kam an mir vorbei. Ich musste eine Wahl treffen: Dir den Arsch retten oder ihn verfolgen. Ich habe dich gewählt.«
»Aber das Orakel!«, keuchte Parker und spürte, wie sich sein Magen umdrehte. »Und Gregory! Er ist auch bei ihr.«
Laurel lächelte schmal. »Eben. Ich vertraue ihm. Das solltest du auch.«