Jim riss die Eingangstür auf und stürmte ins Haus. Sein Termin mit dem neuen Klienten hatte viel zu lange gedauert, und nun zählte jede Minute. Er erreichte das Wohnzimmer und sah sich um. Sugar und Cicero lagen ausgestreckt auf der Couch.
Sie hoben die Köpfe, wedelten kurz mit dem Schwanz – reagierten sie höflichkeitshalber? – und ließen sich wieder in ihre entspannten Positionen zurückfallen.
»Wo ist denn euer Frauchen? Nora! Nora?«
Konnte es sein, dass sie endlich einmal seinem Rat gefolgt war, sich zum Ausruhen hingelegt hatte und dabei eingeschlafen war? Noras Tag hatte früh begonnen – erst das wöchentliche Online-Meeting mit Aria von der NY Woman, danach die Arbeit bei Lilly.
Die Aufgaben in der Werbeagentur bereiteten Nora Freude, doch er beäugte sowohl ihren Enthusiasmus als auch die Entwicklung skeptisch. Wenngleich die momentane Situation für alle schwierig war und jede helfende Hand gebraucht wurde, durfte man seine eigenen Grenzen und die Gesundheit nicht geringschätzen. Niemand trug Schuld an der Verkettung unglücklicher Zufälle, und die Hauptbetroffenen tatkräftig zu unterstützen, war Ehrensache – Nora schoss jedoch weit über das Ziel hinaus.
Bereits der Einzug der beiden syrischen Mädchen Amira und Samara bei Lilly und Pamela hatte einen Mehraufwand nach sich gezogen. Jetzt allerdings herrschte an mehreren Fronten das blanke Chaos, und Nora steckte voller Begeisterung mittendrin. Sie riss ein Projekt nach dem anderen an sich und bearbeitete jedes einzelne mit Übereifer. Die propagierten wenigen Stunden pro Woche waren zu mehreren Stunden täglich angewachsen. Dabei sollte sie nach ihrem Herzinfarkt jeglichen Stress vermeiden.
Leise öffnete Jim die Schlafzimmertür. Das Bett war unberührt. Wo steckte Nora? Er zog sein Handy aus der Manteltasche und wählte ihre Nummer.
Sie meldete sich nach zweimal Klingeln mit einem zerknirschten »Oje!«.
»Oje? Wir müssen dringend zum Flughafen. Wo bist du? Als wir vor drei Stunden telefoniert haben, sagtest du, du wärest fast fertig mit der Arbeit und würdest gleich losfahren.«
»Ich habe die Zeit vergessen. Entschuldige, Schatz. Lilly war wegen Samaras neuerlicher Panikattacke hypernervös. Es war unmöglich, sich neben ihr zu konzentrieren. Also habe ich sie kurzerhand heimgejagt. Sam Springfields neue Kampagne – du weißt schon, diese ›Wildnistour de luxe‹ – liegt aber noch zur Endkontrolle. Morgen findet die Präsentation statt.«
Jim runzelte die Stirn. Warum hatte Nora Lilly weggeschickt? Alles war organisiert. Pamela, die Molly und Nat ursprünglich vom Flughafen abgeholt hätte, kümmerte sich um Samara, während Nora und er die Flughafentour übernahmen. So weit der Plan, bis seine geliebte bessere Hälfte das Zepter an sich gerissen hatte.
»Jim, nun sei nicht sauer. Lilly und Pamela brauchen unsere Hilfe. Sie haben es verdammt schwer«, fügte Nora hinzu.
Wenigstens deutete sie sein Schweigen richtig. Er stöhnte auf. »Du verfällst in alte Muster. Machst du so weiter, hast du bald NY Woman-Niveau erreicht. Schonung und Ruhe sind jedoch das Wichtigste für dich.«
»Ach was. Ich strotze vor Energie, und meine Werte sind nahezu perfekt. Reden wir bitte am Abend darüber? Eigentlich sollte ich jetzt nämlich …«
»Jaja. Widme dich der ›Tour de luxe‹. Ich fahre allein zum Flughafen. Bis später.« Jim steckte das Handy zurück in die Manteltasche.
Dass Nora die Retterin in der Not spielte, war nur eine Seite der Medaille. Er kannte sie zu gut. Ihr ganzes Leben hatte sie auf der Überholspur zugebracht und sich als Chefredakteurin bei der NY Woman im wahrsten Sinne des Wortes verausgabt. Der Herzinfarkt hatte sie zwar auf den Boden geholt, doch die Arbeitswut steckte in ihr. Sie war Teil ihres Charakters, und Nora konnte nicht anders, als sich in ihre Aufgaben zu verbeißen. Bisweilen fühlte er sich wie Don Quijote, wobei er sich der Perspektive keineswegs sicher war. Kämpfte er gegen Windmühlen oder gegen Riesen? Vielleicht sah er eine Gefahr, die in Wahrheit überhaupt nicht existierte. Levi, sein Arzt und Freund, riet ihm, Nora nicht übermäßig einzuengen. Andererseits wies er sehr wohl auf die gesteigerte Möglichkeit eines zweiten Infarkts hin und ermahnte zu einem geregelten, besonnenen Ablauf. Wie verhielt er sich korrekt? Darauf hatte Levi ebenfalls eine Antwort parat: »Finde das Mittelmaß. Nicht umsonst wird es golden genannt.« Wenn das so leicht wäre!
Indessen war Jim nach einem Kontrollblick auf Sugar und Cicero – sie hatten ihre Position nicht verändert – in den Vorraum gegangen und öffnete die Haustür. Schneeflocken tanzten im rauen Wind.
Molly und Nat werden staunen, was in drei Wochen alles geschehen ist, dachte Jim. Und damit meinte er nicht den Wintereinbruch. Der war vorhersehbar gewesen.