Kapitel 6

Molly betrat die Redaktion der Maple Creek News Time und begab sich nach einem Zwischenstopp in der Personalküche mit einer dampfenden Tasse Kaffee direkt zu ihrem Schreibtisch. Um Nat tatkräftig bei der Erstellung des Organisationsplans zu unterstützen, hatte sie sich die Deadline fünf Uhr gesetzt. Bis dahin musste das Wichtigste erledigt sein.

Mit einem Seufzer ließ Molly den Blick über die Papierstapel wandern, die sich während ihres Urlaubs angesammelt hatten. Warum lagen die Abrechnungen der Anzeigenabteilung auf ihrem Tisch? Und weshalb war Elisabeths Artikel noch nicht freigegeben? Sie verdrehte die Augen. Bargen diese Aktenberge weitere Überraschungen, die nichts mit ihren Aufgaben zu tun hatten?

O Gott, ich will zurück, dachte sie und stellte sich ihre Lieblingsstelle auf Maui vor: einen Felsvorsprung, der ins Meer reichte. Beinahe jeden Abend hatten sie dort gesessen und beobachtet, wie die Sonne im Meer verschwand. Ganz vorne klatschten die Wellen besonders hart gegen den Felsen. Die Gischt spritzte hoch, besprühte alles mit einem feinen Meeresregen, und bei einem bestimmten Lichteinfall glitzerten die Tropfen in den Farben des Regenbogens.

Erbarmungslos und zu rasch waren Nat und sie mitten in der Realität gelandet: die Probleme ihrer Freunde, der Winter mit seiner eisigen Kälte, und allem voran das Leid der kleinen Samara. Und weil das offenbar nicht ausreichte, schien Franklin die Redaktion zugunsten des Reverends tatsächlich vernachlässigt zu haben. Ihr Aufgabenspektrum war breitgefächert und lastete sie aus. Zusätzlich die Tätigkeiten des Chefredakteurs zu erledigen, würde sie nicht schaffen. Von dem Gedanken, ihre Freunde zu unterstützen, konnte sie sich unter diesem Gesichtspunkt auf der Stelle verabschieden.

»Darf ich mich setzen?«

Molly war nicht aufgefallen, dass Elisabeth die Redaktion betreten hatte. »Ja, klar. Ich weiß sowieso nicht, wo ich anfangen soll. Sieh dir das an!« Sie ließ die Hand über den Schreibtisch gleiten. »Franklin ist mein Chef. Ich kann ihm doch nicht befehlen, dass er seine Arbeit gefälligst selbst zu erledigen hat.«

»Vielleicht ist der Moment gekommen.«

»Welcher Moment?«

Elisabeth beugte sich vor. »Natürlich haben wir alle bemerkt, womit sich Franklin vorrangig beschäftigt. Das geschieht sicherlich nicht ohne Grund.«

»Du sprichst in Rätseln, Elisabeth.«

»Herrje, Molly. Franklin konzentriert sich auf andere Dinge als die Arbeit, weil er beabsichtigt, das Zepter bei der Maple Creek News Time abzugeben – an dich!«

»Nein, da liegst du falsch. Frühestens Ende des nächsten Jahres möchte er in Rente gehen. Und nicht mal das steht fest.« Molly biss sich auf die Unterlippe. »Hat Franklin etwas zu dir gesagt?« Er und Elisabeth kannten sich seit vielen Jahren und hatten durch Elisabeths Vater eine besondere Verbindung zueinander. Wie käme sie sonst auf diesen abwegigen Gedanken?

»Es ist mein Gefühl. Ich bin gut darin, Menschen zu beobachten und Rückschlüsse zu ziehen. Meistens liege ich richtig. Das hat mir in der Phase der gerüchteverbreitenden Giftschlange oft geholfen«, antwortete Elisabeth.

Unwillkürlich musste Molly schmunzeln. Elisabeth war in der Tat eine Giftschlange gewesen, die ihr den Start in Maple Creek schwer gemacht hatte. Umso mehr war sie ihr heute zugetan. Franklin soll den Reverend endlich in Ruhe lassen!, schoss es Molly durch den Kopf. Der Mann hatte Elisabeths Krankheitssymptome erkannt und korrekt gehandelt. Ein anderer wäre eventuell nicht so umsichtig vorgegangen. »Bist du eigentlich noch in Therapie?«, fragte Molly, um sich von ihrem Ärger über Franklin abzulenken.

»Ich gehe freiwillig, und die Medikamente werde ich wohl nie komplett absetzen dürfen. Es ist ein geringer Preis für meine Gesundheit und stört mich nicht. Ich bin glücklich, Morris ist glücklich. Mehr wünsche ich mir nicht.«

Molly lächelte. »Das freut mich aufrichtig. Seit der Rückkehr aus dem Urlaub sehe ich hauptsächlich bekümmerte, abgespannte Gesichter. Genau genommen sehe ich sie nicht einmal, weil niemand Zeit hat.« Sie beäugte die Papiertürme. »Ich wahrscheinlich bald genauso wenig.«

»Alles eine Sache des Timings, Molly. Du wirst es schaffen, egal ob sich Franklin in einem Monat oder in einem Jahr verabschiedet. Jetzt wärest du sogar in Übung. Ein Zeitplan nur für dich ist nach eurem großen Vorhaben ein Kinderspiel. Morris und ich finden es übrigens großartig, dass ihr euch dessen annehmt. Nach Nats Anruf gestern haben wir uns sofort auf die Liste gestürzt. Morris ergänzt sie noch im Büro und schickt sie an Nat.« Unvermittelt schwand Elisabeths freudige Miene. »Die meisten Sorgen mache ich mir um Jim und Nora. Ihre Krise ist nicht durch äußere Umstände hervorgerufen worden, sie erschaffen sie selbst. Zudem haben sie bloß sich. Samara wird dank Pams und Lillys Liebe einen Weg aus ihren Ängsten finden, Laurie und Tom geben sich gegenseitig Kraft, außerdem ist ihr Problem begrenzt.«

»Ich ahnte nicht, dass es so schlimm um die beiden steht«, entgegnete Molly. »Jim und Nora sind Starrköpfe, die lange Zeit auf niemanden achtgeben mussten. Deshalb hatte ich es offen gestanden nicht so eng gesehen.«

»Unlängst in der Tavern haben Morris und ich einen Streit zwischen ihnen miterlebt. Die Fronten scheinen ziemlich verhärtet zu sein.«

»Vor unserem Abflug waren sie gerade dabei, das Projekt dritter Hund in Angriff zu nehmen. Was ist damit?«

»Auf Eis gelegt. Das weiß ich von Morris – er und Jim reden.«

Molly senkte die Lider. Als sie wegen Tante Gynnies Tod nach Maple Creek zurückgekehrt war, hatte sich Jim rührend um sie gekümmert. Heute war er ihr engster väterlicher Freund. Für Nora hatte sie in New York gearbeitet. In vielerlei Hinsicht war sie ihr großes Vorbild, und Molly hatte Nora auch privat fest ins Herz geschlossen. Die beiden durften nicht auseinanderdriften.

»Guten Morgen, meine Damen!«, rief Franklin von der Tür und winkte aus der Entfernung. Als er bei Mollys Schreibtisch anlangte, sagte er mit einem breiten Grinsen: »Der frühe Vogel fängt den Wurm, nicht wahr?«

»Nicht mal der dünnste Regenwurm fände ein Plätzchen auf meinem Schreibtisch. Halte ich mich nicht ran, werde ich nie fertig«, antwortete Molly.

»Gewöhne dich daran. Ich hoffe, du hast dich ausreichend erholt. Es kommt einiges auf dich zu.« Franklin zeigte auf den höchsten Stapel. »Wenn du irgendwelche Fragen hast, stelle sie demnächst oder morgen. In zwei Stunden bin ich wieder unterwegs.« Er nickte bekräftigend und betrat sein Büro.

Molly schaute ihm verdutzt nach. Ich soll mich daran gewöhnen? Einiges kommt auf mich zu? Und warum ist Franklin so übertrieben fröhlich? Ein Schauer lief über ihren Rücken. Hatte Elisabeth mit ihrer Vermutung recht?

Als sie und Nat an einem Abend auf diesem Felsen gesessen und den Sonnenuntergang beobachtet hatten, war erneut das Thema der Familienplanung aufgetaucht. Weiterhin hielten Nat und sie daran fest, dass es zu früh war, doch Kinder standen auf ihrem gemeinsamen Lebensplan. Sie freute sich ungemein auf dieses zukünftige Ereignis und malte sich gelegentlich schon jetzt bestimmte Szenen aus: den Moment der Gewissheit, das erste Ultraschallbild, eine spürbare Bewegung des Babys. Noch nie hatte Molly allerdings eingehend darüber nachgedacht, wie sie die Mutterschaft mit der Arbeit verbinden konnte. Keinesfalls wollte sie eine Mutter sein, deren Kinder von einer Nanny aufgezogen wurden, während sie von früh bis spät in der Redaktion saß. Genauso wenig war es in ihrer Vorstellung verankert, den Beruf aufzugeben. Wie schaffte man es, beidem gerecht zu werden?

Die aktuelle Situation zeigte deutlich, wie schwierig es wurde, wenn unvorhersehbare Ereignisse eintraten.