Kapitel 27

Pamela schreckte auf und lauschte. Ein Geräusch musste sie geweckt haben, es herrschte jedoch Stille. Das kleine Nachtlicht spendete genug Helligkeit, um zu erkennen, dass Lilly und Amira fest schliefen. Ihr Blick wanderte zu Samara, die unter der Decke vergraben in ihrem Bett lag. Pamela streckte die Hand aus und legte sie auf die Schulter des Mädchens. Erst fühlte sie nichts, dann aber spürte sie ein Zittern. Vorsichtig tastend ließ sie die Hand zu Samaras Hals gleiten, um die Temperatur zu überprüfen. Fieber hatte sie nicht, also weinte sie still vor sich hin.

Pamela setzte sich auf und beugte sich vor. »Was ist mit dir, mein Schatz?«

Samara reagierte prompt. »Ich werde Dorothy wie versprochen wiedersehen. Das ist doch so? Sie ist nicht krank oder verletzt und einfach fort.«

»Dorothy ist kerngesund und putzmunter. Du erhältst jeden Tag Fotos von ihr, und sie schreibt dir. Sie freut sich schon sehr auf dich und auf die gemeinsame Zeit mit uns allen.«

»Bin ich lästig, weil ich immer dieselben Fragen stelle? Manchmal glaube ich halt nur, dass Dorothy verschwunden ist«, murmelte Samara. »Ich bin nicht dumm und habe verstanden, warum ich so was Komisches denke. Das ist nicht schön, ich fürchte mich nämlich. Und wenn ich mich fürchte, kommen die – wie nennt Scouty sie? – Panitakatten. Die machen mir noch mehr Angst. Sicher muss ich deshalb bald von dir und Lilly fort. Die … Panitakatten werden tun, dass ihr mich nicht liebhabt.«

Pamela war froh über das diffuse Licht. Samara sollte nicht sehen, wie eine Träne über ihre Wange lief. »Du, Amira, Lilly und ich sind eine Familie. Das bedeutet, wir halten zusammen – jeden Tag, vierundzwanzig Stunden lang, ohne Unterbrechung. Es gilt für schwierige wie für fröhliche Zeiten. Ich finde es toll, dass du das Gefühl der Angst wegschicken möchtest. Tu es aber nicht, um uns zu gefallen, sondern wegen dir. Wir lieben dich so und so, daran lässt sich nichts ändern. Oh, übrigens: Sie heißen Panikattacken.« Pamela hoffte, der unbeschwerte Ton klang nicht gestelzt. Eine sorgenvolle Stimme half Samara nicht, sich zu beruhigen, erkennbares Vorspielen von Heiterkeit bestimmt genauso wenig.

»Ihr habt mich lieb, obwohl ich so oft weine und traurig bin?«, fragte Samara.

»Natürlich. Das meinte ich gerade. Ich erkläre es dir anhand eines Beispiels. Erinnerst du dich an vergangene Woche, als Lilly schlecht gelaunt aus dem Büro nach Hause gekommen ist?«

»Ja! Sie war verärgert, weil ein Kunde blöd gewesen ist.«

Pamela lachte leise auf. »Das sollte man zwar nicht sagen, doch du hast recht: Der Kunde war wirklich blöd. Wie haben wir drei reagiert?«

»Du hast Lilly einen Kaffee gebracht und dich zu ihr gesetzt. Amira ist ins Wohnzimmer gelaufen, um für Lilly ein Bild zu malen, damit sie wieder fröhlich ist. Es waren wir vier vor dem See mit vielen Bäumen, und die Sonne hat geschienen. Die Bäume waren echt schön, und uns hat Amira spaßig gezeichnet.«

»Und was hast du getan, Samara?«

»Ich habe sie ganz fest gedrückt und ihr versprochen, dass sie sich aussuchen darf, welches Spiel wir nach dem Abendessen spielen werden.«

»Wir waren selbstverständlich für Lilly da, weil sie uns gebraucht hat. Genauso ist es, wenn du uns brauchst oder ich euch brauche.« Abrupt stand Pamela auf, schlug Samaras Decke zurück und ergriff ihre Hand. »Weißt du, was wir beide nun machen? Wir schleichen in die Küche, und ich bereite uns eine heiße Milch mit Honig zu.«

Samara nickte eifrig. »O ja, fein! Aber ist das denn okay? Es ist mitten in der Nacht, und eigentlich müsste ich schlafen.«

»Das stimmt, es gibt jedoch seltene Ausnahmen. Ich finde, genau jetzt ist so eine.« Pamela lächelte. Wenngleich es sie vor Mitgefühl förmlich zerriss, verspürte sie zugleich eine unbändige Freude in sich. Dieser Moment barg einen großen Schritt. Samara hatte sich geöffnet und sowohl ihre Sorgen als auch ihre Ängste frei ausgesprochen. Doctor Scout war diesbezüglich deutlich gewesen: Erst wenn Samara es schaffte, ihre tiefsitzende Furcht zu formulieren, würde der Verarbeitungsprozess einsetzen. Es erforderte Selbsterkenntnis und volles Vertrauen zu den Bezugspersonen.

Pamela wollte nicht daran denken, dass Samara angenommen hatte, sie könnten sie wegen ihrer Probleme fortschicken. Wie musste sie allein unter diesem Druck gelitten haben! Eins führte zum anderen und unterdrückte jede unverfälschte Handlung. Aber gemeinsam würden sie es schaffen. Wieder flammte das Wort »Vertrauen« in Pamelas Kopf auf und ihr Herz tat einen Riesensprung.

Am liebsten würde sie Lilly und Amira wecken, um diesen wunderbaren Fortschritt zu feiern.