Kapitel 29

Molly hatte für die Strecke zum Maple Lake Inn doppelt so lange gebraucht wie üblich. An das Fahren bei Glätte würde sie sich wohl nie gewöhnen. Hinzu war gekommen, dass sie mit Nats Pick-up nicht vertraut war. Wenigstens hatte sie die Zeit genutzt, um alle Faktoren rund um Monique noch einmal Revue passieren zu lassen.

Abgesehen von Pamelas Zustimmung und in der Folge Moniques positiver Antwort war sie wieder an diesem einen Punkt hängen geblieben: Wie würde sie handeln, falls die Zusammenarbeit nicht funktionierte? Jemanden aus dem Bekanntenkreis zu entlassen, war ein kompliziertes und unangenehmes Unterfangen. Wenngleich sich Molly keinen erfahrenen Redaktionsmitarbeiter wünschte, sondern eine junge, motivierte Person, die sie anleitete und mit ihrer Arbeitsweise vertraut machte, mussten die Aufgaben letztlich angemessen erledigt werden. Dass dies wirklich in der unerlässlichen Weise geschehen würde, konnte niemand garantieren.

Vor zwei Tagen hatte sie sich mit Nora unterhalten, um deren Meinung einzuholen. Nora war ihre Chefin gewesen und hatte viele Jahre lang unzählige Mitarbeiter ausgebildet. Zudem sparte sie nicht mit unverblümten Worten und besaß jene Entschiedenheit, die Molly fehlte. Tatsächlich war Noras Standpunkt so klar und unmissverständlich wie schonungslos gewesen: »Dir einen echten Frischling an Bord zu holen, hat durchaus Vorzüge. Die Einarbeitungszeit dauert zwar länger und der Aufwand ist größer, später verfügst du jedoch über eine maßgeschneiderte Figur. Entspricht Monique nicht deinen Vorstellungen, ist die Konsequenz, sie zu kündigen – daran lässt sich nicht rütteln. Das Verfahren ist in jedem Fall gleich, ob es sich um eine Bekannte, eine Freundin oder eine dir zuvor fremde Person handelt. Es ist schwierig, aber Privates und Berufliches sind strikt voneinander zu trennen – eine Grundregel.«

Nie zuvor hatte Molly den Begriff maßgeschneiderte Figur gehört. So treffend er sein mochte und so genau er ihr Ziel beschrieb, fand sie ihn hartherzig. Vergessen würde sie ihn trotzdem nie wieder. Deutlich wies er sie darauf hin, dass sie ohne ein dickes Fell nicht würde bestehen können. Ich muss meinen Wollmantel ablegen, einen Grizzly erlegen und mir aus seinem Fell ein Cape schneidern, dachte Molly und schmunzelte über die eigens kreierte Metapher.

Noch mit dem Grinsen auf den Lippen zog sie die Tür des Hotels auf und betrat das Foyer.

Pamela, die hinter der Rezeption stand, musterte sie. »Ist alles okay mit dir? Du siehst aus, als hättest du Magenschmerzen gepaart mit einem Lachanfall.«

»Gar keine üble Zusammenfassung meines Zustands«, entgegnete Molly. »Ich bin mit Nats Pick-up hier und hole die Lichterketten. Und, Pam, hast du vielleicht ein paar Minuten Zeit für mich? Ich würde gern etwas Wichtiges mit dir besprechen.«

»Wusste ich doch gleich, dass etwas im Busch ist. Setzen wir uns in den Aufenthaltsraum und trinken einen Mapleccino. Miles ist vor dem Haus und befreit das Verandadach vom Schnee. Wenn er fertig ist, soll er die Kartons mit den Lichterketten auf die Ladefläche hieven.« Sie drehte sich in Richtung der geöffneten Bürotür. »Hast du mitgehört?«

»Monique: zwei Mapleccino, Miles: Kartons aus dem Keller ins Auto. Wird erledigt«, rief Mary.

»Super!« Pamela umrundete die Rezeption und gesellte sich zu Molly.

Während sie auf den Aufenthaltsraum zusteuerten, zog Molly ihren Parka aus. In New York hatte sie ihre schicken Wintermäntel für einen schnellen Kaffee oft anbehalten. Mit den dick gefütterten Jacken, ohne die man hier nicht auskam, fühlte man sich binnen Minuten wie in einem Saunakokon – Winterkleidung in Kanada war wahrlich für die richtige Kälte konzipiert.

Nachdem sie an einem Tisch am Fenster Platz genommen hatten, wartete Molly mit ihrem Anliegen, bis Monique die Mapleccino serviert hatte und gegangen war. »Als Chefredakteurin habe ich vor, die Aufgaben rund um mich etwas anders aufzuteilen, als Franklin es getan hat. Ich werde eine Assistentin einstellen.«

Pamela nickte. »Du hast es vor Kurzem am Rande erwähnt. Ich find’s gut. Vor allem, weil du – anders als Franklin – keinen Nachfolger ausbilden willst. Hast du schon jemanden im Visier?«

»Laurie hat mich auf eine Idee gebracht. Ich würde die betreffende Person aber nur darauf ansprechen, wenn es für dich hundertprozentig in Ordnung wäre. Es geht nämlich um Monique.«

»Monique?« Pamela ließ sich in ihrem Stuhl zurückfallen. »O Gott sei Dank! Ja, bitte, frag sie. Ich wäre dir unendlich dankbar.« Sie richtete sich wieder auf und flüsterte: »Monique ist eine wunderbare junge Frau und sicherlich eine hervorragende Arbeitskraft, sofern ihr Job nichts mit dem Gastgewerbe zu tun hat. Mit ihren Eigenschaften kann ich sie mir ausgezeichnet an einem Schreibtisch als Assistentin vorstellen.« Pamela wurde noch leiser. »Du kennst meine Probleme mit ihr. Mindestens dreimal täglich muss ich das Bedürfnis unterdrücken, sie zu tadeln. Die einzigen Gründe, warum ich sie nicht hochkant rausschmeiße, sind die aktuelle Situation, Nächstenliebe und Miles. Keinesfalls möchte ich ihn vergrämen.«

»Die Idee darf aber kein Loch in deine Organisation reißen. Gute oder schlechte Bedienung, ohne Monique hättest du gar keine«, erwiderte Molly.

»Ach, papperlapapp. Miles bringt mir auf der Stelle drei neue Kellner. Er sieht es doch selbst. Nach wie vor bemüht er sich erfolglos, ihr etwas beizubringen.« Pamela winkte ab. »Für alle Beteiligten wäre der Wechsel von Vorteil, und am meisten würde er Monique einbringen. Das hier ist ein Aushilfsjob neben der Schule, der nichts mit ihrer Ausbildung zu tun hat. Bei dir hingegen hätte sie eine echte Chance auf eine beständige Position. Weißt du was? Ich hole Monique gleich her und sehe nach Miles. Später stoße ich zu euch und versichere ihr, dass ich damit einverstanden bin. Monique hat ein ausgeprägtes Verantwortungsgefühl. Sie könnte zögern, weil sie mich nicht im Stich lassen will.« Abrupt sprang Pamela auf und lief aus dem Raum.

Irritiert blickte Molly ihr nach. Zwar hatte sie damit gerechnet, dass Pamela nicht aus allen Wolken fallen würde, die überbordende Freude erstaunte sie dennoch. Weiter kam Molly mit ihren Gedanken nicht, weil Monique bereits vor ihr stand.

»Pamela sagte, du möchtest mich sprechen. Betrifft es die große Weihnachtsfeier? In der Schule ist heute der letzte Unterrichtsabend vor den Ferien. Ich habe jede Menge freie Zeit und helfe gerne.«

Molly lächelte und zeigte auf den Stuhl ihr gegenüber. »Nein, mit dem Fest hat es nichts zu tun. Setz dich doch bitte erst mal, dann erzähle ich dir alles in Ruhe.«

Monique nickte und nahm wie ihr geheißen Platz.

Kurz musterte Molly die junge Frau. In ihrem Gesicht spiegelte sich eine Mischung aus Neugierde und Unsicherheit wider. Bestimmt war der Moment für Monique unangenehm, also wollte Molly ohne Umschweife auf den Punkt kommen. »Ab Januar suche ich für mich in der Redaktion der Maple Creek News Time eine Assistentin. Du besuchst die Abendschule, und ich weiß nicht, ob sich das mit einer Vollzeitbeschäftigung vereinbaren ließe. Falls ja, und sofern du Interesse hast, würde ich nach den Feiertagen gern ein Vorstellungsgespräch für diese Position mit dir führen.«

»Ähm, nun … Das wäre fantastisch! Aber meine Arbeit im Hotel? Und Pamela? Wirklich … ich?«

Jäh ging eine Wandlung mit Monique vonstatten. Die erste Verblüffung wich einem Ausdruck, den Molly – so paradox es klang – als Strahlen mit ernster Miene bezeichnen würde. Zudem veränderte Monique ihre Körperhaltung. Sie straffte die Schultern, bog die Wirbelsäule durch und legte die Hände schräg übereinander auf die Tischplatte.

»Durch die Stunden in der Schule bin ich grundlegend nur abends eingeschränkt. Einige Prüfungen finden am Vormittag statt. Ich habe eine Liste mit den Daten und würde an diesen Tagen Urlaub nehmen. Nächstes Jahr im Juni ist das Examen. Mein aktueller Notendurchschnitt ist eins Komma zwei. Ich werde voraussichtlich prima abschließen.« Mit einer flinken Bewegung strich sie eine Haarsträhne, die sich aus ihrem Pferdeschwanz gelöst hatte, hinter das Ohr. »Ich würde mich über ein Gespräch freuen, wenn Pamela einverstanden ist. Das möchte ich bitte vorher abklären. Danke.«

»Ich habe Pam schon gefragt. Sie ist aber gleich zurück, dann kannst du selbst mit ihr reden. Ich verstehe dich.« Molly lehnte sich zurück. Wenn Monique das hielt, was sie gerade durch ihre prompte Metamorphose und das neue Auftreten versprach, hatte sie eine Assistentin gefunden.