»Mein Hausarrest hat außer der bevorstehenden Überraschung noch etwas Gutes. Wir sind ausgiebig zum Tratschen gekommen. Das hätten wir sonst nicht so bald geschafft – wahrscheinlich wären Tage vergangen«, stellte Molly fest.
Dorothy nickte eifrig. »Und mit Sicherheit nicht unter vier Augen. Jack hat angekündigt, keine Minute von meiner Seite zu weichen. Ach, mein süßer Jack! Jetzt bin ich schon richtig aufgeregt. Vergiss nicht, dass ich ihn seit einer gefühlten Ewigkeit nicht mehr gesehen habe.«
»Deshalb plagt mich ein wenig das schlechte Gewissen.« Molly streckte Daumen und Zeigefinger aus und ließ die Fingerkuppen in einem Zentimeter Abstand übereinander schweben. »Du könntest längst in seinen Armen liegen, hätte ich von der Hochzeit nicht diese Einsamkeitsaversion vor großen Ereignissen davongetragen.«
»Ach was. Ich genieße das sehnsüchtige Ziehen sogar ein bisschen. Ein Teil der Anziehungskraft zwischen Jack und mir beruht zweifellos auf der Tatsache, dass wir es aufregend und spannend halten. Natürlich schlägt auch die Entfernung in diese Kerbe. Wegen Jacks Weihnachtsgeschenk etwa zapple ich seit Tagen herum und tüftle an der Übergabe. Ich habe einen Plan: Morgen stelle ich den Wecker auf sieben Uhr. Er darf nur einmal klingeln, damit Jack nicht zu früh aufwacht. Dann schlüpfe ich in neue Dessous – ganz in Silber- und Goldfarben, wie die Kleidung für einen erotischen Engel – und stelle mich mit dem Buch in der Hand wartend vor das Bett. Das ist der Moment, in dem er munter werden sollte. Schlägt er nicht gleich die Augen auf, muss ich mich irgendwie bemerkbar machen.« Dorothy schmunzelte. »Der Wälzer ist echt schwer, den kann ich nicht lange halten. Wann wirst du Nat sein Geschenk geben? Bestimmt ebenfalls traditionell morgen in der Früh. Und was hast du vor?«
»Nein, heute Abend nach der Weihnachtsfeier. Ich will nicht warten. Die Übergabe wird anders als bei dir allerdings unspektakulär vonstattengehen. Ich habe das Kuvert im Wintergarten hinter dem linken Couchkissen versteckt. Dort sitze ich immer.« Molly hob den Kopf und lauschte. »Ich höre ein Motorengeräusch. Das sind sicher Jack und Nat.«
Unverzüglich sprang Dorothy auf. »Was sitzen wir hier herum? Los, los!« Ohne ein weiteres Wort lief sie in den Vorraum und griff nach der Klinke der Eingangstür.
Gerade noch rechtzeitig erwischte Molly sie am Ärmel. »O nein! Zuerst ziehen wir uns an, dann darfst du die Tür öffnen. Ich möchte deinetwegen nicht erfrieren. Du siehst Jack früh genug – in dreißig Sekunden, wenn wir uns beeilen.«
»Herrje, du bist wirklich ein zartes Pflänzchen«, entgegnete Dorothy lachend, während sie in ihre Fellstiefel schlüpfte und zeitgleich die Mütze vom Haken zog.
Molly ging bedächtiger vor. Am Vormittag hatte sie bereits alle Kleidungsstücke für einen langen Aufenthalt im Freien bereitgelegt: Skisocken, die extrawarme Mütze plus Ohrenschützer, den kuscheligen Wollschal und ihre Handschuhe mit Wärmepads.
Sie schlüpfte gerade in den Parka, als von außen die Tür geöffnet wurde.
Dorothy jubelte auf. »Jack!« Ungestüm flog sie in seine Arme.
Nat, der sich im Hintergrund hielt, zwinkerte Molly zu und bedeutete ihr, sich zu gedulden. Als etwa fünf Minuten vergangen waren, räusperte er sich. »Ich unterbreche nur ungern eure Knutscherei, aber wir sollten losfahren.«
Widerstrebend lösten sich die beiden voneinander.
Jack lächelte Molly zu und küsste sie auf die Wange. »Verzeih, deine beste Freundin ist so stürmisch, dass ich dich nicht mal begrüßen konnte.«
»Du erzählst Molly nichts Neues«, mischte sich Dorothy ein. »Sie kennt mich tausendmal länger und besser als du. Und weil ich sie genauso gut kenne, weiß ich, dass wir jetzt genau das tun werden, was Nat vorgeschlagen hat. Ist Molly aufgeregt, hat ihre Geduld bald ein Ende. Liege ich richtig?«
Mit betont ernster Miene zeigte Molly auf den Ausgang. »Und wie du richtigliegst. Also … Husch.«
Der Reihe nach verließen sie den Vorraum, und Nat schloss die Eingangstür ab. Dann gingen sie zum Auto und stiegen ein. Dorothy und Jack nahmen auf dem Rücksitz Platz und begannen sich sofort wieder zu küssen.
Während Nat den Wagen startete und langsam die Zufahrtsstraße entlangfuhr, summte er leise eine Melodie vor sich hin.
»›Last Christmas‹ von Wham!, ernsthaft?«, fragte Molly schmunzelnd.
Nat nickte. »Es ist leider geschehen: Ich bin infiziert. Der DJ hat das Lied für den Soundcheck verwendet. Sechsmal hat er es gespielt – von Anfang bis Ende.«
»Wenn wir uns nicht vorsehen, wird ›Last Christmas‹ unser gemeinsamer Weihnachtssong wider Willen. Vielleicht haben wir –« Molly brach ab und starrte aus dem Fenster des Wagens. Schon aus der Entfernung sah sie die Flammen eines großen Lagerfeuers in den schwarzen Himmel flackern. »Mein Gott. Das ist ja riesig!«, flüsterte sie mit angehaltenem Atem.
»Ich hoffe so sehr, dass dir die Feier gefällt und deine Wünsche erfüllt werden. Der Rahmen ist echt schön geworden.« Nat zeigte auf einen freien Parkplatz. »Nehmen wir gleich den.«
Er hatte den Motor noch nicht abgestellt, als Molly bereits aus dem Auto sprang und auf den Kirchplatz zulief. Keine Sekunde länger konnte sie sich gedulden. Fröhliches Stimmengewirr und der Song ›Little Drummer Boy‹ von Bing Crosby und David Bowie empfingen sie.
In Windeseile nahm sie die ersten Einzelheiten auf. Vor dem Eingang der Kirche standen Feuerschalen. Die Tausenden Lämpchen der Ketten tauchten den Platz in ein warmes Licht und ließen den Schnee glitzern. Es wirkte, als bestünde die Oberfläche aus Edelsteinen.
»Mein Gott«, wiederholte Molly und blickte sich nach Nat um, der indessen aufgeholt hatte. »Der Platz ist wie verzaubert. Und die vielen Menschen!«
Er zeigte auf eine Gruppe, die rund um drei zusammengeschobene Stehtische nahe der Kirche stand. »Die anderen warten auf uns. Alle unsere Freunde haben sich versammelt. Sie gehören zu dem Weihnachtswunder.«
Molly nickte. »O ja. Die Atmosphäre ist einzigartig, aber nur mit ihnen haben wir –« Weiter kam sie nicht.
Samaras Aufschrei übertönte sämtliche Stimmen und sogar die Musik. »Juchhu!« Unvermittelt startete sie los und warf sich in Dorothys ausgebreitete Arme.
Der ungestüme Aufprall brachte Dorothy aus dem Gleichgewicht. Kurz schaffte sie es noch, die Balance zu halten, dann kippte sie gemeinsam mit Samara nach hinten und landete mit dem Popo im Schnee.
»Du liebe Güte, Samara! Die arme Dorothy«, rief Pamela und machte einen Schritt auf die beiden zu. Plötzlich verharrte sie und begann lauthals zu lachen. »Entschuldige, ich kann nicht anders. Charlie Chaplin ist nichts gegen euch.«
Dorothy drückte Samara an sich und stimmte in das Lachen ein. »Ich schwöre, nie in meinem Leben ist mir eine schönere Begrüßung widerfahren.« Suchend sah sie sich um. »Doch irgendwie fehlt mir etwas. Oder gar jemand? Wer mag das sein?«
Mit einem Jauchzer sprang nun auch Amira auf Dorothy zu und ließ sich neben ihr in den Schnee fallen. »Meinst du mich?«
»Dich und keine andere.« Dorothy küsste Amira auf die Wange und umarmte sie ebenfalls.
»So, meine Lieben – Samara, Amira. Jetzt müsst ihr Dorothy aber freigeben und ihr aufhelfen«, ordnete Pamela an. »Schließlich hat sie noch andere zu begrüßen.«
»Das erledige wohl besser ich.« Jack reichte Dorothy die Hand und zog sie hoch. »Du wirst dir eine Erkältung holen«, murmelte er.
»Ach was.« Dorothy klopfte sich den Schnee von der Jacke. »Ich habe von einem geheimnisvollen Zaubertrank namens Maplemagic gehört, der alle Krankheiten im Keim ersticken soll.«
Molly schmiegte sich an Nat. »Ich glaube, Dorothy hat recht: Achten wir auf unsere Gesundheit. Was meinst du?«
»Ich meine, dass ich als dein Ehemann für dich zu sorgen habe und deshalb auf der Stelle zwei Maplemagic für uns hole – und dann lass uns feiern.«