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Der Vater beobachtete ihn über den Rückspiegel. Walter starrte aus dem Seitenfenster. Hoffentlich waren das die letzten Sommerferien, die er gemeinsam mit seinen Eltern verbringen musste. Nächstes Jahr war er siebzehn, fast achtzehn.

Walter rückte die Kopfhörer zurecht, sodass sie etwas besser saßen. Rammsteins harter Gitarrenriff schirmte die Geräusche des Autos ab. Außerdem brauchte er so das leere Gerede seiner Eltern nicht zu hören.

Nach einer viel zu langen Fahrt vorbei an Bergen, Wäldern und Schafen zeigte der Vater endlich auf ein Schild, auf dem OSEN stand. Ein paar hundert Meter später fuhren sie auf einen Campingplatz mit vertrocknetem Gras. Die Rezeption hieß sie auf Norwegisch, Deutsch und Englisch willkommen. Dahinter standen dicht an dicht Wohnwagen, Zelte und kleine Hütten.

Der Vater ging hinein.

Es dauerte eine Ewigkeit, bis er wieder rauskam. Er setzte sich kopfschüttelnd ins Auto und knallte die Tür so fest zu, dass Walter es durch die Basstrommeln von Reise, Reise hörte. Der Vater fuchtelte mit den Armen und zeigte immer wieder auf die Rezeption. Dann setzte er zurück und fuhr in die andere Richtung.

Walter wählte einen anderen Song.

Kurz darauf hielt der Wagen vor einer Hütte am Waldrand. Jetzt verstand auch Walter das Problem. Von hier war kein Wasser zu sehen. Sein Vater wollte im Urlaub immer Blick aufs Wasser, sonst waren es keine anständigen Ferien.

Walters Glieder waren noch steif von der langen Reise. Er folgte den Eltern in die winzige Hütte. Ohne jede Vorwarnung knallte es, und er konnte die Kopfhörer gerade noch auffangen, ehe sie zu Boden fielen.

»Und du mit diesen Scheißdingern«, schimpfte der Vater, »meldest dich immer einfach ab!«

Er drehte sich zu seiner Frau, die die Kühltasche neben den Kühlschrank stellte. »Das war ja wohl das Dümmste, was wir je gemacht haben«, fuhr der Vater fort. »Sieht man mal davon ab, dass wir diesen Kerl überhaupt in die Welt gesetzt haben. Wir hätten ihm diese Scheißdinger niemals kaufen dürfen!«

Er drehte sich zu Walter um.

»Hast du heute schon gelernt?«

Walter schlug den Blick nieder.

Der Vater schnaubte.

»Also nicht«, stellte er fest. »Geh und hilf deiner Mutter mit dem Auspacken, und anschließend setzt du dich hin und lernst.«

»Erst müssen wir etwas essen«, sagte die Mutter, die mit dem Rücken zu ihnen stand. »Walter hat sicher Hunger.«

»Ja, dann halt nach dem Essen!«, blaffte er sie an. »Aber gelernt wird heute noch!«, schimpfte er weiter in Walters Richtung. »Mindestens eine halbe Stunde! Ist das klar?«

Sie aßen am Campingtisch auf dem knochentrockenen Rasen vor der Hütte. Walter stocherte in seinem Essen herum. Labskaus aus der Dose. Die Luft war warm. Die Sonne brannte.

»Wir dürfen nicht vergessen, uns einzucremen«, sagte die Mutter. Sie hatte einen Bikini angezogen. Ein Bein über das andere geschlagen.

»Sonnencreme«, sagte der Vater verächtlich. »Ein bisschen Sonne hat noch niemandem geschadet.«

Walter sah, dass sein Vater auf der Brust bereits ein bisschen rot war. Zum Glück hatte er sich wieder beruhigt. Essen und ein paar Dosen Bier halfen in der Regel.

Nach dem Essen sammelte die Mutter die Teller zusammen und ging in die Hütte. Der Vater sah ihr hinterher und trank schmatzend einen Schluck Bier.

»Geh mal spazieren, Junge.«

»Was?«, fragte Walter.

»Erforsch mal die Gegend.«

»Ich sollte doch lernen?«

»Hörst du nicht, was ich sage?« Der Blick seines Vaters bohrte sich in ihn, während er die Hand tief in der Tasche seiner Shorts vergrub. »Deine Mutter und ich müssen … ein bisschen entspannen.«

Er starrte seine Frau an, die wieder nach draußen gekommen war, um die Gläser und die Pfeffermühle zu holen. Das Blitzen in den Augen kannte Walter.

»Los«, sagte der Vater. »Verschwinde! Und lass dir Zeit!«

Walter hatte keine Lust, spazieren zu gehen, tat es aber trotzdem. Er folgte einem Trampelpfad durch den Wald. Es war warm, und es roch trocken. Walter ärgerte sich, nicht seine kurze Hose angezogen zu haben.

Zwischen den Bäumen wimmelte es von Vögeln. Walter mochte Vögel. Vielleicht weil er lange vom Fliegen geträumt hatte, davon, Pilot zu werden. Als er noch nicht wusste, dass die Buchstaben und Worte sich ihm immer querstellten. Man konnte kein Flugzeug lenken, wenn man die Worte durcheinanderbrachte.

An dem Tag, als sein größter Traum geplatzt war, waren ihm die Tränen gekommen. Der Vater war in sein Zimmer gekommen und hatte ihn angeraunzt, was das Flennen zu bedeuten habe. »Du hättest das doch nie geschafft. Mach es lieber wie ich, werde Soldat.«

Vor ihm glitzerte das Wasser zwischen den Bäumen. Am Ufer saßen Menschen. Ein Holzsteg führte ins Wasser, an dessen vorderem Ende eine Gruppe Jugendliche saß. Die Mädchen lagen auf dem Bauch, die Jungen stützten sich auf ihre Ellenbogen. Von irgendwoher kam Musik.

Er ging etwas näher heran und sah zu, wie ein Mädchen lachend ins Wasser sprang. Sie lächelte derart glücklich, dass auch Walter lächeln musste. Tief in seinem Innern. Das Mädchen drehte sich auf den Rücken und schwamm vom Steg weg.

Als sie aus dem Wasser kam, ging sie zu einem langhaarigen Jungen, der mit geschlossenen Augen auf dem Rücken lag, und drückte ein paar Wassertropfen aus ihrem Pferdeschwanz auf seinen Bauch. Der Junge heulte auf und sprang hoch. Alle lachten.

Das Mädchen holte ein Handtuch und trocknete sich ab. Ihr Blick begegnete Walters und hielt ihn fest. Sie lächelte ihn an. Mit einem Lächeln, das auch Walter lächeln ließ. Dieses Mal richtig.

Walter erinnerte sich an diesen warmen Sommertag, als wäre es gestern gewesen. Damals, in diesem Sommer hatte es begonnen. An diesem Tag.

Er schloss die Augen und atmete tief ein. Ohne sich dessen bewusst zu sein, hatte er die Hände zu Fäusten geballt.

Der Bus legte sich in eine Kurve, und Walter folgte der Bewegung. Laut Fahrplan sollte er um 20.15 Uhr da sein. Er ärgerte sich, dass er einen Platz so weit hinten gewählt hatte. Weiter vorne hätte er die Straße besser im Blick gehabt.

Das Scheinwerferlicht huschte über das Ortsschild. Osen. Walter drückte den Stopp-Knopf und nahm seinen kleinen Rucksack und die Einkaufstasche vom Sitz neben sich. Sechs Bier, ein Brot, Butter, Aufschnitt. Das Allernotwendigste. Eine Minute später hielt der Fahrer am Straßenrand. Walter stieg aus und blieb in dem warmen Dunst aus Öl und Diesel stehen.

Der Campingplatz auf der anderen Straßenseite sah genau so aus, wie er ihn in Erinnerung hatte. Die Rezeption und der kleine Kiosk lagen im Dunkel. Ein paar wenige Autos parkten davor. In einer der Hütten brannte Licht, es war aber kein Mensch zu sehen.

Walter sah sich um. Um einige der Wohnwagen waren kleine Zäune gebaut worden. Dahinter eine lange Reihe von Hütten.

Er ging zum Waldrand.

Dieselbe Hütte wie 2004. Nur das Schild – K-1492 – war neu.

Walter sah sich um und trat an den Rand der Holzterrasse. Er kniete sich hin und tastete mit der Hand die Unterseite ab. Es dauerte nicht lang, bis er den Nagel gefunden hatte, an dem der Schlüssel hing.