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»Dann viel Spaß.«

Emma hatte den Wachmann noch nie gesehen. Der üppige Bart wäre ihr aufgefallen. Sein Blick ruhte auf dem Sofa, auf dem ein Laken und ein Handtuch lagen.

»Er kommt gleich«, fügte er augenzwinkernd hinzu.

Emma hätte am liebsten gesagt, dass sie kein Paar waren. Sie war halb so alt wie Blix und sah in ihm eher so etwas wie eine Vaterfigur. Doch sie sagte nichts.

Die schwere Tür fiel ins Schloss.

Es war das zweite Mal in zwei Tagen, dass sie hier war, dabei mochte sie diesen Besuchsraum ganz und gar nicht, obgleich sie sich Mühe gaben, eine gemütliche Atmosphäre zu schaffen – eine Tischdecke auf dem Tisch, eine Grünpflanze und für die Kinder eine Kiste mit Spielsachen. Die meterdicken Wände um sie herum gaben ihr unweigerlich das Gefühl, eingesperrt zu sein.

Emma war leicht übel, obwohl sie nichts Ungesetzliches getan hatte. Die Wände schienen beim Warten irgendwie näher zu rücken.

Die Tür ging auf, und Blix wurde hereingeführt.

Emma schrak zusammen.

Ein großes Pflaster klebte auf einer Seite seines Gesichts, der Hals war geschwollen und voller blauer Flecken.

»Was ist passiert?«, platzte sie hervor.

Blix lächelte, als wollte er ihr sagen, dass sie sich keine Sorgen machen solle.

Sie war sich nicht sicher, ob sie ihn umarmen durfte oder sollte. Schließlich tat sie es trotzdem und wählte vorsichtig die nicht verletzte Seite. Er roch streng nach Schweiß. Seine Haare waren ungewaschen. Sie schob ihn von sich weg und betrachtete die Verletzungen.

»Erzähl mir, was passiert ist«, bat sie.

Der Wachmann verließ den Raum.

»Ich bin in eine Prügelei geraten«, antwortete Blix, als sie allein waren.

»Jarl Inge Ree?«, fragte sie.

Blix setzte sich mit einem Nicken.

»Wusstest du, dass er wegen sexuellen Missbrauchs von Minderjährigen verurteilt wurde?«, fragte Emma.

Blix zog eine Augenbraue hoch.

»Vor ein paar Stunden habe ich das Urteil einsehen dürfen«, fuhr sie fort und holte ein paar Unterlagen aus ihrer Tasche. »Guck mal.«

Sie schob ihm den Ausdruck des Urteilsspruchs über den Tisch. Blix begann zu lesen, während sie den Inhalt zusammenfasste.

»Ree war damals neunzehn Jahre alt. Er wohnte in Oslo, wo er sich einen festen Drogenkundenkreis aufgebaut hatte. Ein Mädchen, das aus einer Pflegefamilie geflohen war, geriet in seine Fänge. Sie hieß Nina und war damals fünfzehn Jahre alt. Sie war nicht das erste Mal abgehauen. Ree versteckte sie und hatte Sex mit ihr.«

Blix schien nicht überzeugt zu sein.

»Wenn er pädophil wäre, sollten die anderen Insassen das doch erfahren.«

»Das gilt nicht als Pädophilie«, sagte Blix. »Das ist eine juristische Spitzfindigkeit. Sie war schon fast sechzehn.«

Emma war enttäuscht. Sie hatte gedacht, dass Blix ihre Entdeckung schätzen würde.

»Aber du verstehst schon, auf was ich hinauswill?«, fragte sie. »Das ist wohl kaum etwas, womit er herumprahlt, oder?«

Sie zeigte auf die nächste Wand, unsicher, in welcher Richtung der Aufenthaltsraum des Gefängnisses lag.

»Du kannst das nutzen«, sagte sie mit Nachdruck.

Blix schob die Papiere weg.

»Ich verstehe ja, dass du mir zu helfen versuchst«, sagte er mit erzwungenem Lächeln. »Aber das Problem verschwindet bald von allein. Ree wird Montag entlassen. Wenn ich die letzte Zeit sinnvoll nutzen will, sollte ich versuchen, ihm irgendwie näher zu kommen.«

Emma legte den Kopf auf die Seite und sah ihn fragend an.

»Ich hatte gestern Besuch«, sagte Blix und nickte in Richtung des Stuhls, auf dem Emma saß. »Es ging um einen Häftling, der auf der Flucht ist. Ein Mörder aus Deutschland.«

Emma hatte auch schon davon gehört.

»Es deutet einiges darauf hin, dass er auf dem Weg nach Norwegen ist und irgendeine Verbindung zu Jarl Inge Ree hat. Gard Fosse …«, Blix zögerte und schüttelte den Kopf, »… will, dass ich herausfinde, was für eine Verbindung das ist. Aber das brauche ich gar nicht zu versuchen. Ree würde sich eher die Nägel ausreißen lassen, als mir was zu erzählen.«

»Warum fragt Fosse ihn nicht selber?«

»Ree ist nicht gerade ein Polizistenfreund«, erklärte Blix. »Laut Fosse hat er beim Verhör nicht ein Wort gesagt. Er hat weder gestanden noch irgendeine Beteiligung zugegeben. Warum sollte er jetzt damit anfangen?«

Emma nahm einen Stift und fingerte daran herum.

»Aber willst du es nicht wenigstens versuchen?«

»Es spielt keine Rolle, ob ich es versuche oder nicht. Es wird nicht funktionieren.«

»Aber der Deutsche könnte gefährlich werden«, wandte Emma ein. »Er hat bereits getötet. Was, wenn er das auch hier in Norwegen tut, du das aber verhindern könntest?«

Blix senkte den Blick, hatte aber keine Antwort für sie.

Sie blieben schweigend sitzen, bis draußen Schritte zu hören waren und Schlüssel klirrten. Ein neuer Wachmann tauchte auf.

»Sie müssen dann zum Schluss kommen«, sagte er und richtete seinen Blick auf Blix. »Sie müssen noch weiter.«