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Eine Frau in dunkelblauem Hosenanzug schob die Tür auf. Mit festem Blick scannte sie das Café.

Emma erkannte Nina Bach Hansen aus den Zeitungsartikeln, die sie gelesen hatte, und gab sich mit einem Winken zu erkennen.

»Entschuldigen Sie die Verspätung«, sagte Nina Bach Hansen und nahm die kostspielige Handtasche in die andere Hand, um Emma zu begrüßen. Nichts an ihr ließ vermuten, dass sie vor zwanzig Jahren aus einem Kinderheim abgehauen war.

Trotz einer schweren Kindheit war Nina Bach Hansen eine erfolgreiche Geschäftsfrau geworden. Im Alter von achtundzwanzig Jahren hatte sie die Idee einer digitalen Plattform für Secondhandkleidung in die Tat umgesetzt – ein Konzept, das vor wenigen Monaten für eine unbekannte Millionensumme von einer dänischen Firma gekauft worden war.

»Vielen Dank, dass Sie in das Treffen eingewilligt haben«, sagte Emma. »Mögen Sie etwas essen oder trinken?«

»Ein Wasser reicht mir völlig, danke.«

Sie goss sich ein Glas aus der Karaffe ein, die auf dem Tisch stand.

Nach ein paar einleitenden Höflichkeitsfloskeln kam Emma direkt zur Sache.

»Wie ich Ihnen schon geschrieben habe, bin ich vorrangig an Hintergrundinformationen interessiert. Sie waren ja immer recht offen, was Ihre Kindheit und Jugend betrifft.«

»Die Gespräche mit euch Journalisten sind eine gute Gratistherapie«, sagte Nina lächelnd. »Schießen Sie los.«

Emma legte beide Hände um ihr Glas.

»Ich recherchiere zu einer momentan inhaftierten Person, und bei der Recherche zu einer länger zurückliegenden Verurteilung ist Ihr Name aufgetaucht.«

Nina sah Emma abwartend an.

»Sie meinen Jarl Inge Ree«, sagte sie schließlich.

»Genau. Können Sie mir etwas über Ihr Verhältnis zu ihm sagen?«

Nina trank einen Schluck Wasser.

»Da gibt es im Grunde nicht viel zu sagen. Das war kein Verhältnis im eigentlichen Sinne. Ich war jung und dumm. Jarl Inge war älter als ich, er war groß, ein Mann eben. Ich fand ihn spannend. Er hat meine Bedürfnisse befriedigt, und ich seine. Alles war freiwillig. So kompliziert war das nicht. Rein juristisch war ich allerdings zu jung.«

Emma sagte nichts und wartete.

»Das hatte zu keiner Zeit etwas mit Liebe zu tun. Aber darauf hatte ich es auch gar nicht abgesehen.«

»Jarl Inge hat sich Ihnen gegenüber ganz okay verhalten – wollen Sie das damit sagen?«

»Ja, aber natürlich war er als Mensch nicht okay. Das wurde mir mit der Zeit klar. Besonders hinterher.«

Nina machte eine Pause.

»Einer seiner Kumpel – ich weiß nicht mehr, wie er hieß – war scharf auf mich, der hat hemmungslos geflirtet. Jarl Inge schmeckte das gar nicht, und eines Abends hat er ihn mit dem Gesicht voll auf die Tischplatte gedonnert.«

Nina demonstrierte die Tat mit einer Handbewegung.

»Seine Nase war mehrfach gebrochen, da bin ich sicher. Danach hat er ihn rausgeworfen.«

»Er war eifersüchtig?«

»O ja, definitiv.«

»Obwohl eigentlich keine Gefühle im Spiel waren?«

»Jarl Inge hatte schon immer etwas verdrehte Besitzansprüche.«

Emma lauschte fasziniert, während Nina weiter von ihrer Kindheit und Jugend erzählte. Sie war die perfekte Interviewpartnerin: mitteilungsfreudig, witzig, reflektiert, konnte reden, ohne Luft zu holen. Kein Detail war zu privat.

Emma brachte die Unterhaltung wieder auf die richtige Spur.

»Ich suche nach Leuten, die vielleicht etwas über Jarl Inges Freunde erzählen können. Jemand, der ihn besonders gut kennt. Gab es in Ihrer gemeinsamen Zeit einen Menschen, zu dem er einen engeren Kontakt als zu anderen hatte?«

Nina dachte nach.

»Es gab da ein Mädchen«, sagte sie. »Sara oder so. Nein, Samantha.«

Sie schnippte mit den Fingern.

»Genau, Samantha. Er hat viel von ihr gesprochen. Ich glaube, sie war die Liebe seines Lebens. Aber da ist damals irgendwas passiert, das ihn auf die schiefe Bahn gebracht hat.« Nina vollführte eine Spiralbewegung mit dem Finger bis nach unten auf die Tischplatte. »Auf alle Fälle war sie sein schwacher Punkt. Wenn sie sich bei ihm meldete und irgendwas brauchte, ließ er alles stehen und liegen. Aber auch diese Samantha schien ziemlich kaputt zu sein, ohne dass ich da tiefer nachgehakt hätte. Im Grunde war es mir egal.«

»Wissen Sie noch, wieso Sie diesen Eindruck hatten?«

»Die Art und Weise, wie er über sie geredet hat«, sagte Nina. »Fürsorglich irgendwie. Ganz anders als beim Rest seiner fertigen Freunde, um es mal so zu sagen.«

»Erinnern Sie sich noch an andere Dinge von ihr?«

Wieder dachte Nina nach.

»Sie war als Teenager so was wie ein Promi«, sagte sie schließlich. »Hatte bei einem Songcontest im Fernsehen teilgenommen, aber mehr weiß ich nicht über sie. Wie gesagt, es war mir egal. Ich weiß noch nicht mal ihren Nachnamen.«

Solche Songcontests waren in der Zeit total populär, da müsste es doch irgendwie möglich sein, mehr über sie herauszufinden, dachte Emma.

»Hat Jarl Inge irgendwann mal einen Deutschen erwähnt? Einen deutschen Freund?«

Nina schaute schräg hoch an die Decke, während sie nachdachte.

»Das ist schon so lange her«, sagte sie. »Aber da war so ein Typ dabei, der könnte durchaus Deutscher gewesen sein. Jarl Inge hat erzählt, dass er irgendwelchen Mist gebaut hat.«

»Was für einen Mist?«

»An die Details erinnere ich mich nicht, aber er war deswegen im Gefängnis.«

»Kommt Ihnen der Name Walter Kroos bekannt vor?«

»Walter Kroos«, wiederholte Nina leise, um ihre Erinnerung anzukurbeln.

Emma schloss daraus, dass sie die Nachrichten über Walter Kroos’ Flucht nichts mitbekommen hatte.

»Kann schon sein, dass er so hieß, aber sicher bin ich mir nicht.«

»Klar, nach so langer Zeit«, sagte Emma geduldig. »Haben Sie vielleicht eine Ahnung, woher Jarl Inge diesen Deutschen kannte?«

»Bestimmt von da, wo er herkam«, sagte Nina. »Fosen oder Fjøsen oder so ähnlich.«

»Osen.«

Nina schnippte wieder mit den Fingern.

»Genau, das war es. Jarl Inge ist mehr oder weniger auf einem Campingplatz aufgewachsen. Und wenn Deutsche etwas mögen«, sagte sie blinzelnd, »dann ist es Norwegen. Und Campingplätze.«