18

Otto Myran empfing Blix mit demselben freundlichen Lächeln und deutete ihm an, auf einem der Stühle Platz zu nehmen.

Jakobsen stellte sich wieder an die Wand neben der Heizung und dem vergitterten Fenster. Blix hatte gerade Platz genommen, als Jarl Inge Ree in den Raum geführt wurde. Er warf Blix einen provozierenden Blick zu und schlurfte in Richtung des freien Stuhls.

Blix beugte sich vor, den Blick starr geradeaus gerichtet, die Ellenbogen auf den Schenkeln aufgestützt. Ree setzte sich, legte die gefalteten Hände in den Schoß und seufzte demonstrativ.

»Meine Herren«, begann Otto Myran. »Schön, Sie wiederzusehen.« Weder Blix noch Ree erwiderten etwas. Myran rückte seine Brille zurecht.

»Wie ist es Ihnen seit unserer letzten Sitzung ergangen?«, fragte Myran.

Blix starrte auf das Muster des Fußbodens. Ree rutschte auf seinem Stuhl herum. Jakobsen atmete tief durch die Nase ein und hustete.

»Ich wünsche mir zu Weihnachten eine neue PlayStation«, sagte Ree auf einmal und sah von einem zum anderen, als erwartete er eine Reaktion. »Darüber reden wir doch heute, oder?«

Er schnaubte, als er keine Antwort erhielt.

»Wenn Sie wollen, können wir das gerne tun«, sagte Myran. »Der Vorschlag ist gut. Es ist ja nicht mehr lang bis Weihnachten. Spielen Sie gerne PlayStation, Jarl Inge?«

»Vergessen Sie’s.«

Myran lachte kurz und gequält.

Blix rieb die Hände aneinander und sagte dann: »Du hast einen umfangreichen Wortschatz, Ree. Abwechslungsreich und ausgewogen.«

»Leck mich am Arsch.«

Rees Gesichtsmuskeln spannten sich an. Jakobsen nahm die Daumen unter dem Gürtel hervor, bereit, jederzeit einzugreifen. Ree blieb sitzen.

»Meine Herren«, sagte der Sozialarbeiter erneut. »Ich würde vorschlagen, dass wir dort weitermachen, wo wir das letzte Mal aufgehört haben: dass Sie einander Fragen stellen. Das Thema ist, wie gesagt, frei. Und heute, denke ich, sollten wir wirklich auf alle Restriktionen verzichten.« Er lächelte verschlagen, als täte er ihnen damit einen Gefallen. »Aber bleiben Sie respektvoll«, fügte er hinzu. »Sie dürfen persönliche, intime Fragen stellen, aber bitte immer höflich. Wer will zuerst?«

Weder Blix noch Ree meldeten sich.

Ree sah Blix an, der noch immer in aller Seelenruhe seine Hände rieb, als hätte er alle Zeit der Welt und nicht eine Sorge.

Der Sozialarbeiter beugte sich vor und richtete sich an Ree.

»Gibt es nichts, was Sie Blix fragen wollen? Gar nichts? Etwas ganz Alltägliches?«

Ein paar lange Augenblicke verstrichen.

»Ich würde gerne wissen, wer die hübsche, junge Schnecke ist, die heute Morgen aus dem Besuchsraum kam. Ist das deine Tochter, oder was?«

Ree korrigierte sich selbst.

»Ach nee«, sagte er und lachte roh. »Du hast ja keine Tochter mehr.«

Myran wirkte betroffen, aber Blix ließ den Kommentar an sich abprallen.

»Emma«, antwortete er nach ein paar Sekunden. »Sie heißt Emma. Sie arbeitet bei news.no. Wir kennen uns schon länger.«

»Und was heißt das?«

Blix überlegte kurz, was er antworten sollte.

»Ich … habe ihren Vater erschossen, als sie noch ganz klein war.«

»Machst du Witze?«

»Nein.«

Blix hatte mit einem Mal Rees volle Aufmerksamkeit.

»Was ist passiert?«

Blix rieb sich das Kinn. Die Bartstoppeln kratzten über seine Finger.

»Ihr Vater«, begann er, »war ein Riesenarschloch. Ein Säufer, der aus blanker Wut Emmas Mutter getötet hat, weil sie ihn verlassen und die Kinder mitnehmen wollte.«

Blix hielt kurz inne und musste massiv gegen seinen inneren Widerstand ankämpfen, darüber zu reden.

»Ich war damals noch ganz frisch im Job«, fuhr er fort. »Als mein Kollege und ich dort ankamen, wollte er, dass wir auf die Verstärkung warten. Aber eine der Nachbarinnen hatte einen Schuss gehört, weshalb ich das Schlimmste befürchtete.«

Blix machte eine Pause, ihm war warm geworden.

»Und dann?« Ree trieb ihn weiter.

Blix rutschte auf seinem Stuhl herum und seufzte tief.

»Ich habe entschieden, ins Haus zu gehen. Mein Kollege hat draußen gewartet. In der Küche fand ich dann Emmas Mutter in einer Blutlache am Boden. Der Vater stand im Wohnzimmer und hielt Emma die Waffe an den Kopf. Er sagte, er würde sie erschießen, wenn ich sie nicht in Frieden ließ.« Er redete schneller. »Und dann … habe ich ihm in die Stirn geschossen.«

Rees Kiefer klappte nach unten.

»Du hast ihn einfach abgeknallt?«

»Nicht einfach«, sagte Blix. »Erst habe ich versucht, ihn zur Vernunft zu bringen. Es deutete aber alles darauf hin, dass er wirklich ernst machen würde.«

Blix erinnerte sich an jeden einzelnen Augenblick. Wie Emmas Vater nach hinten gekippt, auf den Wohnzimmertisch gestürzt und von dort auf den Fußboden gesackt war. Der Pulvergeruch im Raum. Das Blut, die Gehirnmasse. Emmas entsetzter Blick und ihr Schreien. Er war zu ihr geeilt, hatte sie auf den Arm genommen und nach draußen getragen. Vorbei an der toten Mutter. Der kleine Körper hatte in seinen Armen gezittert.

»Sie oder er, eine andere Entscheidung gab es damals nicht«, fuhr Blix fort. »Ich hatte keine Wahl.«

Ree sah ihn von der Seite an.

»Was ist mit deinem Kollegen passiert, der sich gedrückt hat?«

»Gard Fosse?« Blix zuckte mit den Schultern. »Er wurde mein Chef.«

»Hört sich nach einem Arschloch an«, meinte Ree.

»Die Beschreibung ist ziemlich korrekt«, sagte Blix mit einem Nicken.

Es zuckte in Rees Mundwinkeln. Myran beugte sich vor. Er schien sich Sorgen darüber zu machen, in welche Richtung das Gespräch sich entwickelte.

»Aber das ist lange her«, sagte Ree.

»1999«, bestätigte Blix.

»Und du und diese Berta sind tatsächlich beste Freunde geworden?«

Blix wartete etwas.

»Wir sind uns im Zusammenhang mit einem Fall begegnet, über den sie berichtet hat«, sagte er. »Seither haben wir den Kontakt gehalten.«

»Obwohl du sie zur Waise gemacht hast?«

»Emma hat es immer als einen Gefallen betrachtet, den ich ihr getan habe.«

»Sie haben ihr Leben gerettet«, warf Myran ein.

Blix ging nicht darauf ein.

»Übrigens habe ich eben erst mit Emma gesprochen. Sie hat mich angerufen … Sie ist in deinem Heimatdorf. In Osen.«

Rees rechte Augenbraue zuckte.

»Warum das?«, fragte er.

»Um über Walter Kroos zu schreiben.«

Rees Lippen wurden schmal. Myran legte den Kopf auf die Seite.

»Du hast vielleicht mitbekommen, dass Walter aus dem Gefängnis geflohen ist?«, fuhr Blix fort.

Ree sagte nichts, aber Blix sah, dass seine Gedanken Karussell fuhren.

»Emma hat mit deiner Freundin gesprochen«, fuhr er fort. »Walter Kroos hat bei ihr auf dem Campingplatz gewohnt, als er in den Sommerferien dort war. Sie hatte damals wohl mehr mit ihm zu tun.«

Ree sah ihn scharf an.

»Samantha?«, begann er. »Wie … warum?« Er stockte. »Dann …« Wieder musste er nach den richtigen Worten suchen. Dann schien ihm etwas zu dämmern. »Machen wir … diese Scheiße hier deshalb

Er sprang auf und breitete die Arme aus. Jakobsen trat einen Schritt vor, blieb aber passiv.

»Geht es wirklich nur darum?«, fuhr Ree mit lauter Stimme fort. »Wir sollen miteinander reden, dabei geht es in Wahrheit nur um Walter?«

Myran sah Blix Hilfe suchend an.

»Aber was hat der denn mit mir zu tun?«, fragte Ree.

Blix dachte an den Zettel in Kroos’ Zellentoilette, sagte aber nichts.

»Sie sagen, dieses Projekt hätte Priorität«, er zeigte mit zitterndem Finger auf Myran. »Wo ich nur noch drei Tage hier drin bin. So ein Schwachsinn!«

Speicheltropfen flogen über seine Lippen. »Gut möglich, dass wir noch eine Stunde und fünfundzwanzig Minuten haben, aber die werden ohne mich stattfinden, da können Sie sich verflucht sicher sein! Versuchen Sie ruhig, mich aufzuhalten.«

Ree ging zur Tür. Jakobsen versperrte ihm den Weg.

»Ich will hier raus!«, sagte Ree. »Jetzt!«

Der Wachmann warf kurz einen Blick zu Myran, der nickte.

Die Sitzung war vorbei.