Walter war es gewohnt, Zeit totzuschlagen. Im Gefängnis war es mehr oder weniger seine Hauptbeschäftigung gewesen, sich mit etwas zu beschäftigen, ohne allzu oft auf die Uhr zu schauen. Irgendetwas verriet ihm immer, wie spät es war und wo er wann zu sein hatte.
Auf dem Regalbrett über dem Ofen lagen ein paar Comics und ein Stapel Bücher. Alles auf Norwegisch, vermutlich von früheren Hüttengästen zurückgelassen. Er blätterte durch einen Comic, es war aber nicht leicht, den Sprechblasen etwas Sinnvolles zu entnehmen.
Sein Vater hatte ihn zum Lesen gezwungen, als sie hier gewesen waren. Jeden Tag eine halbe Stunde. Walter dachte an den Tag nach dem Abend am Lagerfeuer, als er in einem rostigen Campingstuhl im Schatten des Vordachs gesessen und gelesen hatte.
Die Luft hatte in der drückenden Hitze beinahe stillgestanden. Nach ein paar Minuten war Samantha wie aus dem Nichts aufgetaucht.
»Hei«, sagte sie mit einem Lächeln, das ein Prickeln auf der Haut seiner Arme auslöste. Samantha lief barfuß und trug ein dünnes, luftiges und mehr oder weniger durchsichtiges Hemd über dem Bikini, das ihr halb über den Oberschenkel reichte. Ihren Kopf zierte ein Strohhut mit Blumenblüten, und darunter trug sie eine Sonnenbrille mit dunkelgelb gefärbten, herzförmigen Gläsern. Es war unmöglich, sie nicht anzustarren, braun gebrannt und bildhübsch, wie sie war.
»Was liest du?«, fragte sie und tänzelte auf ihn zu. Walter warf einen hektischen Blick auf das Buch und klappte es zu.
»Nichts Besonderes«, sagte er verlegen. »Nur … was für die Schule.«
»Was für die Schule?«
Sie verdrehte die Augen und lachte.
»Du machst jetzt Hausaufgaben? Hast du keine Ferien?«
»Doch, aber …«
Walter wusste nicht, was er sagen sollte. Im nächsten Augenblick kam sein Vater mit nacktem Oberkörper aus der Hütte. Der rotbraune Bauch hing über der dunkelblauen Badeshorts. Er blieb stehen, als er Samantha sah, nahm die schwarze Terminator-Sonnenbrille ab und warf Walter einen kurzen, überraschten Blick zu, ehe er wieder Samantha fixierte.
» Mein Gott« , sagte er und zog die Shorts hoch.
Walter gefiel gar nicht, wie er Samantha mit dem Blick scannte, ehe er die Sonnenbrille wieder aufsetzte.
»Du musst Englisch sprechen«, sagte Walter auf Englisch, gereizter als geplant. »Samantha kann nicht so gut Deutsch.«
»Who is this beautiful girl?«
Walter wurde knallrot. Er hasste seinen Vater für die Art, wie er mit ihr sprach, aber noch bevor er etwas sagen konnte, ergriff Samantha selbst das Wort und stellte sich vor. Sie ging zu seinem Vater und reichte ihm die Hand. Nur ein Knicks fehlte noch.
»Mmh«, sagte Walters Vater und glotzte sie weiter an. »Ich heiße Kurt.«
Mit einem Mal war seine Stimme butterweich. Walter stand auf.
»Komm«, sagte er zu Samantha, die noch immer entspannt lächelte. Walter legte das Buch auf den Stuhl.
»Und was hast du jetzt vor?«, fragte sein Vater.
Alles Weiche war aus seiner Stimme gewichen.
»Ich bin kurz weg.«
»Bist du fertig mit Lesen?«
»Äh, ja.«
»Also nein«, korrigierte ihn sein Vater.
»Ich kann ja später weiterlesen.«
»Kannst du das?«
»Ja«, sagte Walter. »Kann ich.«
Samanthas Anwesenheit machte Walter mutiger.
»Komm«, sagte er erneut zu Samantha. »Gehen wir.«
»Nett, Sie kennenzulernen«, sagte Samantha und drehte sich zu Walters Vater um, der nicht antwortete. Walter machte einen ersten Schritt und rechnete fest damit, dass sein Vater ihn zurückrufen oder hinterherkommen und ihn mit einem Griff um den Nacken zurückziehen würde. Aber das passierte nicht. Je größer der Abstand zur Hütte wurde, desto stärker fühlte Walter sich. Er hatte es geschafft, sich seinem Vater zu widersetzen. Zum ersten Mal.
Samantha ging in Richtung Wasser und Badesteg, ohne dass sie abgesprochen hätten, baden zu gehen. Walter fühlte sich leicht, high. In Samanthas Nähe hatte er das Gefühl, einen abgeschiedenen Raum zu betreten, in dem nichts anderes existierte.
»Ist er immer so?«, fragte sie nach einer Weile.
»Was meinst du?«
»So streng«, fügte Samantha hinzu.
Walter zögerte. Ihm fiel keine andere Antwort als »Ja« ein, trotzdem kam ihm das Wort nicht über die Lippen.
»Väter«, sagte Samantha – als würde das alles erklären. Und vielleicht tat es das ja auch.
Sie setzten sich an die vordere Stegkante und ließen die Beine ins Wasser baumeln.
»Warum musst du in den Ferien was für die Schule tun?«, fragte sie.
Walter redete ungern über unangenehme oder peinliche Dinge. Weder mit den Vertrauenslehrern oder Schulpsychologen noch mit den wenigen Freunden, die er hatte. Aber bei Samantha hatte er das Gefühl, alles sagen zu können.
»Ich hab Dyslexie.«
Er schaute über das Wasser, dessen Oberfläche sich kräuselte, als hätte es eine Gänsehaut. Es war das erste Mal, dass er dieses Wort in den Mund genommen hatte. Zu Hause behandelten sie es wie eine Krankheit, über die niemals gesprochen wurde. Dabei war sie die ganze Zeit gegenwärtig, bei allem, was Walter tat, in allem, was er in Angriff nahm. Die Buchstaben verhakten sich, und er fühlte sich klein und dumm, und genau so sahen ihn auch alle anderen. Das wusste er ganz genau.
»Du weißt, was das ist?«, fragte er.
Samantha nickte.
»Papa glaubt, dass ich schon irgendwann raffe, in welcher Reihenfolge die Buchstaben kommen, wenn ich nur genug lese. Mit dem Lesen ist es wie mit allem anderen im Leben, sagt er immer. Wenn du ein guter Leser werden willst, musst du üben. Das hört sich so einfach an. Aber für mich ist es das nicht.«
Samanthas Gesicht wurde ernst. Sie nahm seine Hand und drückte sie sanft. Er schnappte nach Luft, als er ihre Finger an seinen spürte.
»Was ist?«, fragte sie.
»Es …«
Er lächelte, unentschlossen, was er sagen oder tun sollte. Aber wieder war es Samantha, die ihn ermunterte.
»Ich kenne kaum Mädchen, die … die so sind wie du.«
Sein Herz schlug schneller. Er spürte die Schläge bis ins T-Shirt.
»Du meinst … dass Mädchen … dich anfassen?«
Die Frage machte ihn traurig, aber er nickte.
»Dann bist du wahrscheinlich so was hier … auch nicht gewohnt.«
Samantha rückte näher an ihn heran, ganz dicht. Und dann drückte sie ihre Lippen auf seine.
Sie schmeckte nach etwas Süßem.
Er hatte sie ein paarmal die Lippen mit dem Inhalt einer kleinen runden Dose einfetten sehen, in die sie den kleinen Finger getupft hatte.
Erdbeere.
Ja, sie schmeckte nach Erdbeeren.
Walter wusste nicht, wohin mit sich selbst. Er ließ sich von ihr führen. Ihre Lippen öffneten sich ganz leicht, und dann fühlte er ihre Hand an seiner Wange; sie war erstaunlich kühl für einen warmen Tag wie diesen. Er genoss das Gefühl, so wie er es genoss, die Augen zu schließen und sich ganz von dem Augenblick erfüllen zu lassen. Die Sekunden – vielleicht waren es zwei oder drei – dehnten sich aus und wurden zu den schönsten seines bisherigen Lebens.
Sie hielt inne und schob sich ein Stück von ihm weg. Lächelte.
»Du bist ganz rot«, sagte sie.
Walter schluckte und beugte sich ein Stück vor. Er wollte nicht, dass sie mitbekam, was sich in seiner Hose tat. Sie lachte, und Walter wurde angesteckt von ihrem Lachen.
»Jetzt kannst du sagen, dass du ein Mädchen geküsst hast«, sagte sie.
Ihre Worte machten ihn traurig, weil er gehofft hatte, dass sie ihn nicht nur geküsst hatte, damit er seinen Freunden daheim etwas erzählen konnte.
»Wie war es?«, fragte sie.
»Ähm, gut«, sagte er und bereute es in der gleichen Sekunde. Samantha begann zu lachen. Verflixt, wie er ihr Lachen liebte.
»Gut, also?« Sie verdrehte die Augen. »Jetzt bin ich aber enttäuscht.«
»Mehr als gut«, sagte er und spürte seine glühenden Wangen.
»Richtig gut?«
Sie schnitt eine Grimasse und begann wieder zu lachen. Als Walter nach ihrer Hand griff, wurde sie schlagartig ernst. Als wäre genau in dem Augenblick, als er sich langsam zu ihr vorbeugte, etwas geschehen.
Und dann sah er in ihren Augen, was er zu sehen gehofft hatte. Keine mitleidige Sympathie. Sie wollte es auch. Und als er sie küsste, holte sie hastig mit einem kurzen Pfeifen durch die Nase Luft und küsste ihn hart zurück.
Er hatte jedes Zeitgefühl verloren, als Samantha sich mit einem Mal aufrichtete und meinte, sie müsse nach Hause.
»Ich muss proben«, sagte sie. »Hab morgen Abend einen Auftritt. Live.«
Sie zog ihr Hemd nach unten, damit es den Po bedeckte, und rückte den Strohhut zurecht.
»Das ist das Halbfinale«, erklärte sie. »Da steht viel auf dem Spiel.«
Walter streckte sich und fragte:
»Bist du nervös?«
Samantha zog die Schultern hoch und atmete tief ein.
»Ein bisschen«, sagte sie und stieß die Luft aus. Dann schüttelte sie den Kopf. »Eigentlich bin ich scheißnervös.«
Sie lachte.
»Ganz Norwegen guckt mir zu.«
»Was singst du?«, fragte Walter und zog sein T-Shirt zurecht.
»I Will Always Love You «, sagte sie und sah ihm in die Augen.
Walter wusste natürlich, dass es viel zu früh für so etwas war, aber er hatte trotzdem das Gefühl, dass sie ihn damit meinte.
»Ach, das.« Er schluckte. »Wie heißt sie noch gleich … Whitney und wie weiter?«
»Whitney Houston«, sagte Samantha. »Geschrieben hat den Song eigentlich Dolly Parton. Er ist total schön, aber verflucht schwer zu singen. Besonders am Ende.«
In der Hütte gab es keinen Fernseher, aber irgendwie musste Walter es schaffen, das Halbfinale zu sehen.
»Das schaffst du, bestimmt«, sagte er.
Samantha lächelte, sah dabei aber nicht sonderlich überzeugend aus.
»Gehst du mit mir zurück?«, fragte sie.
»Aber klar.«
Der Strand war voller geworden, seit sie gekommen waren. Samantha winkte Leuten zu, die sie kannte. Ein paar wünschten ihr viel Glück für den nächsten Tag. Es schien ihr weder peinlich noch unangenehm zu sein, mit ihm zusammen gesehen zu werden. Der Abstand zwischen ihnen war etwas größer, als ihm lieb war. Vielleicht hatte ja jemand gesehen, dass sie sich geküsst hatten. Aber auch das schien sie nicht zu kümmern. Und warum sollte es auch?
Während des Rückwegs erklärte Samantha, wie so ein Auftritt ablief und wer ihre Mitstreiter waren. Das Fernsehteam war sogar zu ihr nach Hause gekommen und hatte ihre Eltern interviewt, sogar ihren Onkel. Sie hatte eine große Fangruppe, die mit Plakaten ins Studio kommen wollte, wo der Wettbewerb stattfand. Für die Unterstützung war sie unendlich dankbar, ihr Vater meinte aber, sie solle sich das Ganze nicht zu Kopf steigen lassen und die Bodenhaftung verlieren.
Walter unterbrach sie nicht. Er hörte ihr begeistert zu, lauschte der Energie in ihrer Stimme, ihrem Engagement und der Neugier auf all die noch unbekannten Dinge, die vor ihr lagen und von denen sie ganz offenbar träumte. Was, wenn sie den Contest gewann? Wie würde es dann weitergehen?
Walter wollte nicht zu weit im Voraus denken. In diesem Augenblick wollte er einfach nur das süße, schöne und berauschende Gefühl im Körper genießen, solange er konnte.
»Okay«, sagte sie und blieb an einer Stelle stehen, wo der Pfad sich teilte. Der eine Weg ging zurück zum Campingplatz, der andere zur Landstraße. »Ich muss nach Hause, mich umziehen. Was machst du noch?«
»Ich … weiß nicht«, sagte Walter. »Ich werde wohl …«
»Lesen?«
Er würde sich nicht konzentrieren können. Nicht nach diesen Erlebnissen. Sein Vater würde ausrasten.
»Ich weiß noch nicht, was am späteren Abend ist«, sagte sie. »Jetzt muss ich erst mal proben, und … Mein Onkel und mein Cousin sind ja zu Besuch. Vielleicht kann ich mich zwischendurch kurz verdrücken, aber … Mal sehen. Papa predigt immer, wie wichtig Familie ist, blablabla …« Sie verdrehte die Augen. »Mehr als je zuvor«, fügte sie hinzu. »Wegen all der Dinge, die passieren. Und mein Onkel und Fred wollen morgen wieder abreisen.«
Walter nickte.
»Ich halte nach dir Ausschau«, sagte er.
»Besser, ich halte nach dir Ausschau«, sagte sie.
Walter verstand nicht ganz, was sie damit meinte, sagte aber trotzdem »Okay«.
»Wenn es heute Abend nicht mehr klappt, können wir uns ja morgen früh um zehn auf dem Steg treffen.«
Walter strahlte.
»Klar«, sagte er. »Sehr gerne.«
Walter hatte gehofft, dass sie sich mit einem Kuss von ihm verabschiedete, aber das passierte nicht. Sie ging einfach.
Und dann geschah all das andere.