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Emma öffnete langsam die Augen und streckte sich nach ihrem Handy aus. Es war eine Nachricht von Irene gekommen. Ihre Schwester wollte wissen, wo sie war und ob sie am Abend vielleicht auf Martine aufpassen konnte.

Emma seufzte. Sie hasste es, sie enttäuschen zu müssen. Aber die Polizei wollte heute mit der Suche nach Rita Alvberg beginnen. Da konnte sie nicht nach Hause fahren.

Emma antwortete und warf einen Blick auf die Uhr. Kurz nach acht.

Der Hunger trieb sie aus dem Bett.

Sie stand auf und zog die Gardine zur Seite. Dicke Wolken trieben über den Himmel. Emma zog sich an und überlegte, wo sie ein Frühstück bekommen konnte. Als sie aus der Hütte trat, wurde ihre Aufmerksamkeit von zwei Streifenwagen abgelenkt, die auf das Campingplatzgelände fuhren. Sie parkten an der Freilichtbühne, wo sich eine Gruppe Menschen versammelt hatte. Einige trugen Uniformen des Roten Kreuzes, andere schienen Freiwillige zu sein.

Als Emma dort ankam, instruierte Arvid Borvik gerade die Gruppe. Emma erkannte einige Leute aus dem Pub wieder, in dem sie am Abend zuvor gewesen war. Sie lächelte, als ihr Blick auf Markus Hadeland fiel, und ging zu ihm.

»Hallo«, grüßte er sie zurückhaltend.

»War schön gestern Abend.«

»Danke. Schade, dass Sie so schnell gegangen sind.«

»Ich hatte einen langen Tag hinter mir«, sagte Emma. »Ich war einfach zu müde.«

Sie sahen sich ein paar Sekunden an.

»Machen Sie bei der Suche nach Rita mit?«, fragte sie.

Markus nickte.

»Wir waren viel zusammen, als wir jünger waren«, sagte er. »Aber sie wohnt jetzt ja schon eine ganze Weile nicht mehr hier.«

»Was, glauben Sie, ist geschehen?«

»Ich … weiß es nicht«, sagte er und trat in den Kies. »Sie hat ja erst vor Kurzem ihre Mutter verloren. Nein, ich weiß wirklich nicht.«

Emma nahm ihr Handy und machte ein paar Fotos von Borvik, der noch immer die Suchmannschaften organisierte. Die Kommandozentrale der Polizei würde also hier auf dem Campingplatz sein.

»Das ist nett von Ihnen, dass Sie sich an der Suche beteiligen«, sagte sie.

»Das ist das Mindeste«, sagte er und vergrub seine Hände in den Hosentaschen. »Wir hier aus Osen müssen zusammenhalten. Außerdem kenne ich hier wirklich jeden Winkel.«

Er lächelte.

Arvid Borvik ergriff das Wort und instruierte die Anwesenden. Eine Gruppe sollte das Seeufer absuchen, eine andere sich auf die Wanderwege und den Wald konzentrieren. Die dritte Gruppe nahm sich den Bereich vom Seeauslauf bis zu Ritas Elternhaus vor.

»Achtet besonders auf die Rückseite von Steilufern oder Böschungen«, dozierte Borvik. »Sie kann gestürzt sein und kommt aus eigener Kraft nicht mehr hoch. Vielleicht hat sie sich auch zugedeckt, um nicht auszukühlen, als ihr klar wurde, dass so schnell keine Hilfe kommt.«

Der Ernst seiner Worte färbte auf die anderen ab, war mit einem Mal förmlich greifbar.

Emmas Handy vibrierte. Eine unbekannte Nummer. Während Borvik weiterredete, entfernte sie sich etwas von den anderen und nahm das Gespräch entgegen.

»Hallo, ich bin’s, Blix.«

»So was«, sagte Emma. »So früh an einem Samstagmorgen?«

»Ja, ich … bin schon eine Weile auf. Hab mich gefragt, wie es dir geht, da oben on Osen.«

Emma lächelte.

»Heißt das, dass du beschlossen hast, uns zu helfen?«

Es war einen Augenblick still. Vor dem Kiosk warf Samantha Kasin einen Müllbeutel in den Abfallcontainer neben dem Gebäude.

»Jarl Inge und ich, wir … tja, wir sind uns sozusagen nähergekommen«, antwortete er schließlich. »Ich weiß nicht, ob ich von hier wirklich so viel ausrichten kann, aber ich will es gerne versuchen.«

»Wunderbar«, sagte Emma.

»Na ja, ich weiß nicht. Aber je mehr du mich mit Informationen von außen füttern kannst, desto besser. Hast du noch mal mit Samantha gesprochen?«

»Noch nicht«, antwortete Emma.

»Der Vater von Walter hat sie vergewaltigt«, sagte Blix. »Im Sommer 2004.«

Emma legte das Handy ans andere Ohr.

»Wie …«, begann sie. »Hat dir das Jarl Inge Ree erzählt?«

»Wir haben darüber gesprochen«, bestätigte Blix.

»Ich habe gestern Jarl Inges Vater im Pub getroffen«, sagte Emma. »Er hat dasselbe gesagt, nur nicht, wer das Opfer war.«

Emma sah sich um. Die Suchmannschaften hatten sich auf den Weg gemacht.

»Hier ist noch etwas anderes passiert«, sagte sie. »Eine Frau wird vermisst. Eine Jugendfreundin von Samantha, die hier war, um nach dem Tod ihrer Mutter das Elternhaus auszuräumen.«

Sie erzählte, was sie über Rita Alvberg wusste und dass gerade eine Suchaktion anlief.

»Walter Kroos ist in Norwegen«, sagte Blix.

Emma zog die Stirn in Falten.

»Ist das sicher?«, fragte sie. »Hast du mit Fosse gesprochen?«

»Ich habe Fotos gesehen«, antwortete Blix. »Aufnahmen aus dem Bahnhof in Oslo. Er ist am Mittwoch mit dem Zug gekommen.«

»Was denkst du?«, fragte Emma. »Hat Walter Kroos etwas mit der vermissten Rita zu tun?«

»Ich weiß nicht«, antwortete Blix. »Vielleicht fragst du besser die Polizei da oben.«

Emma sah zu Borvik und spürte das Kribbeln in ihren Fingern. Am liebsten hätte sie sofort etwas geschrieben.

»Fosse hat dafür gesorgt, dass ich jederzeit telefonieren kann«, fuhr Blix fort. »Aber ich bin nicht den ganzen Tag in der Nähe des Telefons. Ich versuche später noch einmal, dich zu erreichen. Diese Nummer hier kannst du jederzeit anrufen, es kann aber dauern, bis sie mich holen.«

»Okay.«

»Viel Glück«, sagte Blix. »Und sei vorsichtig.«

Der Platz rund um die kleine Freiluftbühne leerte sich langsam, obwohl kontinuierlich weitere Freiwillige eintrafen und auf die Gruppen verteilt wurden. Eigentlich könnte sie auch helfen, aber sie war ja nicht deshalb hier. In erster Linie ging es ihr darum, Walter Kroos zu finden. Und wenn er tatsächlich bereits in Osen war, lautete die Frage: Wo versteckte er sich?